Heft 45: Glaube oder Vernunft. Zur Kritik der Religion

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27. Jahrgang, 2007, 190 Seiten, broschiert

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Zum Thema

„Ungläubigkeit ist der Anfang der Philosophie“ (Denis Diderot auf dem Sterbebet)

Im Bewusstsein der Europäer ist gegenwärtig ein eigenartiges Paradox festzustellen. Auf der einen Seite schreitet die Säkularisierung der Gesellschaft fort. Dabei ist es nicht mehr der Staat, der die Religion wie in der früheren Form des Kulturkampfes zwingt, ihre Institutionen aufzugeben, sondern der Markt. Zunehmende Kirchenaustritte und die mangelnde Nachfrage nach sonntäglichen Gottesdiensten veranlassen die Kirchenführung, die zur Ehre Gottes erbauten Häuser abzureißen oder in gehobene Restaurants, Jugend- oder Kulturzentren umzuwidmen. Ökonomische Zwänge führen dazu, dass ganze Fakultäten und andere kirchliche Ausbildungsstätten geschlossen werden, weil das Interesse am Studium der Theologie und an der christlichen Seelsorge stark zurückgegangen ist. Auf der anderen Seite breitet sich eine neue, unorthodoxe und diffuse Religiosität aus. Die Jugend, der nach den Worten des evangelischen Bischofs Wolfgang Huber ein „komplett diesseitiges“, ein „radikal konsumzentriertes Leben“ zu banal und oberflächlich ist, lässt sich nicht mehr in die Kirchen einsperren, sondern fühlt sich zu Großerlebnissen und kultisch aufgeladenen Massenveranstaltungen hingezogen.

Den individuellen Bedürfnissen nach Transzendenz korrespondiert der wachsende Einfluss, den das Religiöse auch in der Weltpolitik erlangt hat. Die mit der Globalisierung verschärften sozial-ökonomischen Gegensätze zwischen den reichen Industrie- und den armen Entwicklungsländern werden durch Konflikte überlagert, die in kulturellen und religiösen Identitäten wurzeln. Die Politik als staatliche Interessensvertretung wird verdrängt durch eine Politik moralischer Imperative, die sich der rationalen Begründung entzieht und sich theokratisch legitimiert.

Sogar im Bereich der Naturwissenschaften, speziell im Bereich der Kosmologie und der Biologie, mehren sich die Versuche, die menschliche Rationalität zu relativieren und – unter dem Etikett des „intelligent design“ oder des „Kreationismus“ – zu metaphysischen oder religiös-autoritativen Erklärungsmustern zurückzukehren.

Diese Rückkehr des Religiösen in den öffentlichen Raum konfrontiert auch die Philosophie mit neuen Herausforderungen. Auf der Ebene der praktischen Philosophie stellt sich erneut die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Glauben, von argumentativer Rationalität und innerer Überzeugung. Ist die Verfassungsordnung selbst moderner Staaten auf vorpolitische (religiöse oder nationale) Überzeugungen angewiesen, weil sie sich nicht aus sich selbst legitimieren kann? Oder reicht das demokratische Verfahren aus, um der Verfassungsordnung (Legalität) auch Legitimität zu verschaffen? Geht vom Glauben, der sich der rationalen Begründung entzieht, die Gefahr der Willkür aus, die alles zerstört, was sich seinem Einfluss entzieht? Oder gibt es eine „gute Religion“, wo der Glaube geläutert ist und durch die Vernunft gebändigt wird? – Im Rahmen der Gesellschaftstheorie war es weitgehend Konsens, dass mit der Modernisierung der Gesellschaften zugleich eine Lockerung oder gar das Absterben der religiösen Bindungskräfte einhergehen. Ist durch die Renaissance des Religiösen dieser Konsens überholt und revisionsbedürftig geworden?

Die Reihe der Autoren, die im vorliegenden Heft des „Widerspruch“ zu Wort kommen, beginnt mit Michael Schmidt-Salomon, dem Vorsitzenden der Giordano-Bruno-Gesellschaft, die sich die Gründung eines „Zentralrats“ der Nicht-Konfessionellen zum Ziel gesetzt hat. In seinem Artikel „Glaubst du noch oder denkst du schon?“ plädiert er für ein vernunftgeleitetes Handeln, nicht nur, weil die Religionen auf die relevanten Fragen des Lebens keine brauchbaren Antworten geben, sondern weil ihre Antworten geradezu „schädlich“ seien.

Anhand einer Artikelserie in der „Neuen Zürcher Zeitung“ zur Frage „Gibt es eine gute Religion?“, auf die führende Theologen, Philosophen und Sozialwissenschaftler antworteten, geht Wolfgang Melchior in seinem Beitrag zwei Problemen nach. Sind Religionen strukturell in der Lage, untereinander den Dialog zu führen; und haben sie das Potential, sich selbst zu relativieren?

Von den Konkordatslehrstühlen an den bayerischen Universitäten handelt der Artikel von Konrad Lotter. Er thematisiert die problematische Geschichte jener 21 Lehrstühle in Philosophie, Soziologie, Politologie und Pädagogik, die – was den meisten Studenten nicht bekannt ist – von der katholischen Kirche kontrolliert werden und ein Indiz dafür sind, dass die Philosophie (in Bayern) von der katholischen Theologie geprägt und überformt ist.

An Beispielen aus dem Alten und Neuen Testament verweist Elmar Treptow in seinem Artikel „Zum Gegensatz von Glaube und Vernunft“ auf die Diskrepanz im christlichen Begriff der Gerechtigkeit.

Die Beiträge von Bernhard Schindlbeck und Alexander von Pechmann tragen eine Kontroverse um Defizite und Geltungskraft der marxistischen Theorie aus. Beide stimmen darin überein, dass diese Theorie in Gestalt einer säkularen, quasi-religiösen Heilslehre diskreditiert ist. Aber die Schlussfolgerungen sind verschieden: während Schindlbeck in seinen „Skizzen über Religion und Vernunft“ den Marxismus durch eine transzendental zu begründende Ethik zu erweitern und zu erneuern sucht, hebt von Pechmann den atheistischen und materialistischen Charakter der Marxschen Theoriebegründung hervor.

Das Thema des Heftes wird mit Rezensionen von aktuellen Büchern zur Religion und zur Religionskritik abgeschlossen.

In unserer Reihe „Münchner Philosophie“ stellt Axel Hutter im Gespräch seinen intellektuellen Werdegang dar und skizziert die Schwerpunkte seiner künftigen philosophischen Tätigkeit an der Münchner Universität.

Mit einem zentralen Begriff der Philosophie Giorgio Agambens befasst sich das Sonderthema des Heftes. In seinem Artikel „Agambens ‚nacktes Leben’ ist nicht zu retten“ untersucht Karim Akerma dieses Lebenskonzept und zeigt dessen Inkonsistenz und Absurdität auf.

Das Heft schließen Rezensionen interessanter Neuerscheinungen ab.

Die Redaktion.