Heft 51: Vertrauen in der Krise

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30. Jahrgang, 2010, 172 Seiten, broschiert

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Vertrauen – gewöhnlich kostenfreies Schmiermittel der kapitalistischen Waren- und Geldzirkulation – ist weltweit zum begehrtesten Gut geworden. Um das verlorene Vertrauen in der internationalen Finanzwelt wiederherzustellen, haben die Staaten den Banken durch Kredite, Bürgschaften oder Reservefonds seit 2008 die Summe von ca. 5 000 000 000 000 $ (manche sprechen gar von 14 Billionen) bereitgestellt. Die Folgen dieser Aufwendungen ist die immense Verschuldung vieler Staaten und, damit einhergehend, das schwindende Vertrauen der Bürger in die Währungen und die Handlungsmöglichkeiten der Staaten. Laut Umfragen trauen ca. 70 % der Bürger den Politikern nicht mehr zu, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme lösen zu können. Die Staaten werden vielmehr zu Spielbällen von Finanzspekulanten und -akrobaten, die, wie bereits prognostiziert wird, die nächste Vertrauenskrise im Finanzmarkt vorbereiten.

Vertrauen ist offenbar ein seltsam flüchtiges Ding, das mit jeder Krise aufs Neue bedroht ist und mit dem Versuch seiner Wiederherstellung doch wieder verloren geht.

Betrachtet man angesichts der weltweiten Vertrauenskrisen den wissenschaftlichen und philosophischen Diskurs, so bewegt sich das „Vertrauen“ dort in recht harmlosen Bahnen: Psychologen unterscheiden die Ebenen des Welt-, personalen und Systemvertrauens und machen als seine Brutstätte die Familie aus; Soziologen erklären Vertrauen als Ressource, um in modernen Gesellschaften Komplexität zu reduzieren; Ökonomen erkennen in ihm ein ,Sozialkapital‘, um im Wettbewerb um den Profit bestehen zu können; und Theologen raunen vom Vertrauen als Geschenk und Ereignis. In der Philosophie hingegen ist zwar viel von Macht, Herrschaft und Anerkennung die Rede; Vertrauen scheint bisher kein angemessener Gegenstand vernünftiger Betrachtung zu sein.

Das Heft des „Widerspruch“ möchte einen Beitrag leisten, um die entstandene Schere zwischen der Wirklichkeit und ihrer wissenschaftlichen Reflexion zu schließen. Die Folgen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrisen zwingen, über Vertrauen in einer neuen Weise zu reden.

So analysiert der Philosoph Wolfhart Henckmann im einleitenden Artikel „Bedingtes Vertrauen“ die unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs, geht dessen anthropologischen Dimensionen nach und zeigt die Ambivalenzen auf, die im Spannungsfeld von erwünschtem Vertrauen und erforderlichem Misstrauen entstehen.

Der Soziologe Martin Endre beschreibt in seinem Beitrag „Vertrauenskrisen und Vertrauensverluste“ die unterschiedlichen sozialen Felder und Formen des Vertrauens und weist auf die Paradoxien hin, in denen Vertrauenskrisen sich bewegen.

Das Gespräch der Redaktion mit dem Wirtschaftsethiker Karl Homann geht vom Vertrauensverlust als derzeit zentralem Problem der Gesellschaft aus und diskutiert die Fragen nach seinen Ursachen sowie nach den Bedingungen und den Möglichkeiten, Vertrauen herzustellen.

In seinem Artikel „Vom Gottvertrauen zum Vertrauen in die Bewältigung der Wirtschaftskrise“ zeigt Konrad Lotter, wie sich das Gottvertrauen der Theodizee gewandelt und im Vertrauen in die „List der Vernunft“, den geschichtlichen Fortschritt und die Selbstregulierungskräfte des Marktes neue Formen angenommen hat. Er diskutiert die Grenzen, die dem Programm der Aufklärung, Vertrauen durch Kontrolle zu ersetzen, gesteckt sind.

Von einem materialistischen Ansatz aus untersucht der Sozialpsychologe Klaus Ottomeyer die psychische Struktur von Vertrauen und zeigt, wie das „Vertrauen im Kapitalismus“ realistisch-notwendige wie illusionär-trügerische Formen annimmt.

Der Schwerpunkt des Hefts wird abgeschlossen mit Rezensionen von Büchern zum Thema.

Das Sonderthema stellt eine Vorläuferin des Feminismus vor. Claudia Simone Dorchain beschreibt das Wirken der Lebedame und Philosophin Ninon de Lenclos, die im Frankreich Ludwigs XIV. im Leben und Denken eine aufgeklärte, an Epikur orientierte Moral vertrat.

In der Rubrik Münchner Philosophie reflektiert Tatjana Sch nw lderKuntze unter dem Titel „,Selbst‘-Porträt?“ ihre Antriebe zur Philosophie sowie die Stationen ihres intellektuellen Werdegangs.

Es schließen sich Rezensionen ausgewählter Neuerscheinungen an.

Den Abschluss des Hefts bildet ein Bericht von Helga Sporer über die Tagung „Niccoló Machiavelli – Die Geburt des modernen Staates“ der Politischen Akademie Tutzing am 16. und 17.12.2009.

Die Redaktion