Heft 58: Kulturindustrie heute
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34. Jahrgang, 2014, 174 Seiten, broschiert
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Zum Thema
In einer seiner Satiren empfängt Robert Gernhardt auf dem Feldberg das elfte Gebot Gottes: Du sollst nicht lärmen! Es verbietet etwa, Bahnhöfe, Busbahnhöfe und Flughäfen zu „bedudeln“. Wie sehr der Dauerbeschuss mit seichter Pop-Musik und abgenutzter Klassik inzwischen zum Alltag gehört, merkt man oft nur noch an den wenigen Feuerpausen: Wer ein Lokal betritt, in dem keine Musik gespielt wird, den irritiert häufig gerade die Stille. Kulturindustrie in ihren verschiedenen Gestalten wie Musik, Film, Videospiel, Werbung, Design oder Journalismus ist allgegenwärtig und durchdringt so gut wie jeden Lebensbereich. Sich ihr zu entziehen ist nahezu unmöglich. Längst sind es nicht mehr die Rezipienten, die sich mit Kulturindustrie beschäftigen, stattdessen beschäftigt diese sich mit ihnen.
Ihre Ausbreitung freilich entspringt der allgemeinen Dynamik des Kapitals. Wenn Kulturindustrie autonome Kunst, in der Theodor W. Adorno ihren kritischen Gegenpol sah, weitgehend zu verdrängen oder verschlingen droht, so ist dies insbesondere ein ökonomischer Effekt. Doch war bereits das Verhältnis zwischen autonomer Kunst und dem Markt gespannt. War dieser einerseits die Voraussetzung künstlerischer Autonomie, deren Idee nicht zufällig erst mit dem Bürgertum aufkam, so unterwirft er sie zugleich seinen Zwängen. Die Autonomie der Kunst war daher, wie Adorno schreibt, von Anfang an mit Heteronomie verschränkt. Die Kapitalisierung der Kulturproduktion allerdings verstärkt die heteronome Seite: „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ (Immanuel Kant) ist mit der Unterordnung der Kultur unter den „sich verwertenden Wert“ (Karl Marx) schwerlich vereinbar. Sicherlich lässt sich der Kulturindustrie eine progressive Seite nicht absprechen, insofern sie dazu beiträgt, emanzipatorische Potenziale innerhalb des Kapitalismus zu nutzen, und etwa in ihrer amerikanischen Fassung den autoritären Strukturen im postnationalsozialistischen Deutschland entgegenwirkte. Doch kann sie wie die autonome Kunst im Sinne Adornos für eine befreite, mithin auch klassenlose Gesellschaft einstehen? Wendet sich Kulturindustrie durch den ökonomischen Zwang, selbst ihre Kritik zu vermarkten, schließlich gegen die kapitalistische Produktionsweise, oder verwandelt sie umgekehrt Kapitalismuskritik in einen bloßen Werbegag?
Ziel der aktuellen Ausgabe des Widerspruchs ist es, den heutigen Stand von Kulturindustrie und autonomer Kunst näher zu bestimmen. Von einer ökonomischen Rekonstruktion der Kulturindustrietheorie aus fragt Fabian Schmidt in seinem Aufsatz „,Und jetzt alle!‘ Vom Bespaßungs- zum Mitmachbetrieb“ nach den Konsequenzen, die sich aus dem Übergang des staatlich regulierten fordistischen Kapitalismus in den deregulierten des Neoliberalismus ergeben. Ein entscheidendes Merkmal heutiger Kulturindustrie macht er in der Verwandlung eines kulturkonsumierenden in ein kulturproduzierendes Publikum aus.
Mit seinem Text „Kritische Theorie der Kulturindustrie heute: Fortzusetzen“ liefert Roger Behrens zunächst eine Begriffsbestimmung auf Grundlage von Benjamin, Horkheimer, Adorno und Marcuse. Skizziert wird auf dieser Basis eine Dialektik neuerer Kulturströmungen und speziell des Pop als Antithese und Weiterführung der Kulturindustrie.
Dem Event, wie es die Techno-Bewegung charakterisiert, spürt Ottmar Mareis nach. Ausgehend vom Begriff des Ereignisses bei Martin Heidegger kommt sein Artikel „Eventindustrie als radikalisierte Kulturindustrie“ zu dem Schluss, dass der blutige Ausgang der letzten Loveparade in Duisburg bereits im Begriff des vom Techno ersehnten Events liege.
Manuel Rühle argumentiert in seinem Beitrag „,Der vom Fetischcharakter der Ware ergriffene Geist‘. Bildungstheoretische Überlegungen im Anschluss an Adornos Theorie der Halbbildung“, dass sich die viel beschworene „Wissensgesellschaft“, die Wissen lediglich von seiner kapitalistischen Verwertbarkeit her bestimme, als Reflex der Kulturindustrie in der wissenschaftlichen Theoriebildung verstehen lässt. Neben der Unterhaltungsindustrie trage inzwischen das kulturindustrialisierte Bildungssystem selbst zur Halbbildung bei.
Dass sich Kunst gegen ihre Fremdbestimmung durch Kuratoren und private Sammler behaupten und sich durch staatliche und private Förderung weitgehend den Einflüssen der Kulturindustrie entziehen kann, vertritt die Multimediakünstlerin und Professorin Barbara Hammann im Gespräch mit Felix Kaspar und Konrad Lotter.
Rezensionen einschlägiger Neuerscheinungen schließen den titelgebenden Teil der Ausgabe ab.
Das Sonderthema steuert der Politikwissenschaftler Peter Cornelius MayerTasch bei, der in seinem Aufsatz „Im Netz gefangen – zum Fortschritt verdammt“ die Wachstumsorientierung der modernen Gesellschaften als Profanisierung des von Augustinus als homo viator, als „Wanderer zu Gott“ bestimmten Menschen begreift. Statt in die Höhe bewegten sie sich in die Breite. Er fragt, ob die Verbreiterung von Öffentlichkeit und Diskussion durch das Internet unter den gegebenen Rahmenbedingungen zu echten Fortschritten des Gemeinwohls führen könne.
Max Schelers mangels Publikationen oft übergangene Dozententätigkeit an der LMU betrachtet Wolfhart Henckmann in der Rubrik „Münchner Philosophie“. Dabei setzt er die unglückliche Ehe, die Scheler schließlich zur Aufgabe des Dozentenamts nötigte, in Beziehung zur theoretischen Entwicklung.
Rezensionen zu Neuerscheinungen schließen die Ausgabe ab.
Die Redaktion