Heft 70: Friedrich Engels. 1820 – 2020.

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39. Jahrgang 2020, 152 Seiten, broschiert

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Im vergangenen Jahrhundert war Friedrich Engels eine der umstrittensten Persönlichkeiten. In den Ländern des später so genannten realen Sozialismus begannen die Volksmassen, just zu seinem 100. Geburtstag, unter dem Banner der Dreieinigkeit von Marx, Engels und Lenin eine klassenlose Gesellschaft zu erbauen. Marx und Engels erschienen als die Lichtgestalten, die der Menschheit den Weg in eine lichte Zukunft gewiesen hatten. Und noch zu seinem 150. Geburtstag protestierten, demonstrierten und marschierten weltweit Studenten unter diesem Banner gegen den Kapitalismus, den Imperialismus und Kolonialismus.

Ebenso mächtig aber war auf der anderen Seite die Ablehnung, die Friedrich Engels vor allem im Westen erfuhr. Er habe Marx’ kritische Theorie missverstanden, verfälscht und folgenreich zum Dogma eines „dialektischen Materialismus“ erhoben. Unter seinen Händen habe sich Marx’ Philosophie der verändernden Praxis in eine totalitäre Weltanschauung verwandelt, die schließlich den Terror Stalins und Maos legitimiert habe. An der Person Engels’ schieden sich damals die Geister in West und Ost.

Doch mit der Postmoderne und ihrer Kritik der „Meisterdenker“ im Wes­ten sowie dem Zerfall des realen Sozialismus im Osten wurden die alten Heroen gestürzt, die Transparente eingerollt und die vormals hitzigen Debatten um Marx und Engels verstummten. Bald schon erschien Engels mehr noch als Marx als historisches Relikt aus grauer Vorzeit.

Zu seinem 200. Geburtstag nun wird Friedrich Engels auf neue Weise wiederentdeckt. Er gilt nicht mehr als Wegweiser in eine lichte respektive finstere Zukunft, sondern wird als eine vielseitige und vielschichtige Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts wahrgenommen, die wie kaum eine andere die beginnende industrielle Revolution mit ihren politischen, sozialen und ökonomischen Konflikten erlebt und mitgestaltet hat. Er wirkte in Manchester, dem damaligen Zentrum der industriellen Revolution, als erfolgreicher kapitalistischer Unternehmer, der zugleich die düstere „Lage der arbeitenden Klasse in England“ aus eigener Erfahrung schilderte und damit zum Begründer und Vorbild einer empirisch-kritischen Sozialreportage wurde. Er nahm 1848 in Deutschland als Soldat an der Verteidigung der demokratischen Verfassung gegen die Reaktion teil und blieb bis zuletzt ausgewiesener und gefragter Experte in Militärfragen. Er verfasste Schriften, die ihn zu einem der weltweit meistgelesenen Autoren gemacht haben. Dokumentiert ist diese Vielseitigkeit in der Engels-Ausstellung in Wuppertal, über die das Heft einen Bericht enthält.

Was bei dieser neuen biographischen Perspektive allerdings in den Hintergrund tritt, ist der Blick auf den in der Tat umstrittenen Beitrag Engels’ zur Philosophie. Zwar stimmten Marx und Engels von Beginn ihrer Zusammenarbeit an darin überein, die von Hegel entwickelte dialektische Methode zur Analyse und Kritik der Gesellschaft zu verwenden, als deren Basis sie die Verhältnisse bestimmten, in denen die Menschen ihr Leben produzieren und reproduzieren. Darüber hinaus war es jedoch der spezifische und originelle Beitrag von Engels, die dialektische Methode nicht nur auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern auch auf die Naturvorgänge anzuwenden. Die unter dem Titel einer „Dialektik der Natur“ versammelten und erst nach seinem Tod veröffentlichten Fragmente dienten dann dazu, in der Sowjetunion unter Stalin eine Philosophie des „Dialektischen Materialismus“ zu formieren, die, wie es hieß, die allgemeinen und gültigen Gesetze der Entwicklung in Natur, Gesellschaft und im Denken enthielt.

In den Wissenschaften jedoch hat sich Engels mit diesem Schritt in die Natur zwischen alle Stühle gesetzt. Denn für die Philosophen und Sozialwissenschaftler gilt es bis heute als ausgemacht, dass dialektische Verhältnisse wie Widersprüche, Subjekt-Objekt-Beziehungen oder Selbstbezüglichkeiten sich allein in der gesellschaftlichen Wirklichkeit finden lassen; und den mathematisch-experimentellen Naturwissenschaften auf der anderen Seite blieb das Ansinnen Engels’, die Natur dialektisch zu denken, bis auf wenige Ausnahmen, gänzlich fremd.

Es sind zwei Argumente, die zum Anlass seines 200. Geburtstags dennoch für eine erneute Auseinandersetzung mit der These von Engels sprechen. Das erste Argument ist, dass der Platz ‚zwischen den Stühlen’ zwar unbequem, in theoretischer Hinsicht jedoch allemal der interessanteste ist. Denn das von Engels verwandte dialektische Verfahren sollte ja gerade Natur und Gesellschaft in ihrer Gegensätzlichkeit als eine zugleich zusammengehörige Einheit denkbar machen, um auf diese Weise die traditionelle Kluft zwischen den beiden einander fremden Wissenschaftskulturen zu überwinden. Das zweite und gewichtigere Argument freilich ist, dass mit der viel beschworenen Krise des Mensch-Natur-Verhältnisses, wie sie sich im Klimawandel, dem Artensterben oder der Umweltverschmutzung zeigt, eine Neubesinnung auf das Verhältnis von Mensch und Natur, von gesellschaftlicher Praxis und natürlichen Kreisläufen erforderlich geworden ist. Die ökologische Krise zwingt dazu, menschliches Handeln und natürliche Prozesse in einem dialektischen Gesamtzusammenhang zu begreifen. In diesem Sinne ist es lohnend, Engels’ Programm einer „Dialektik der Natur“ aufzunehmen und in neuer Weise weiterzuentwickeln.

Den Anfang des Hefts macht das Gespräch mit Smail Rapic, dem Organisator des Internationalen Kongresses „Friedrich Engels: Die Aktualität eines Klassikers – The Timeliness of a Historic Figure” zu Beginn des Jahres in Wuppertal. Es diskutiert die unterschiedlichen „Engels-Bilder“ und nennt Anknüpfungspunkte der gegenwärtigen Debatten an den Historischen Materialismus.

Der Beitrag von Alexander von Pechmann macht den Versuch, Engels’ Dialektik der Natur nicht ontologisch, sondern wissenschaftstheoretisch zu interpretieren, und konfrontiert dessen Aussagen mit neueren Erkenntnissen der Naturwissenschaft.

Kaan Kangal geht in seinem Beitrag dem wissenschaftstheoretisch umstrittenen Begriff der Emergenz nach und unternimmt es, ihn im Rekurs auf die materialistische Dialektik von Engels zu explizieren.

Der Artikel von Martin Küpper konfrontiert den historisch-dialektischen Materialismus mit den aktuellen Diskussionen um die Grundlegung des „Agentiellen Materialismus“ durch Karen Barad sowie des „Spekulativen Materialismus“ durch Quentin Meillassoux und geht den Gemeinsamkeiten wie auch den Differenzen nach.

Der Beitrag von Eva Bockenheimer ist der Abdruck einer öffentlichen Rede, die sie anlässlich des Engels-Jahrs 2020 zum Thema „Materialismus, Idealismus und Moral“ in Wuppertal gehalten hat.

Den Artikeln folgt der Rezensionsteil von Büchern zum Thema, der einen Überblick über die gegenwärtige Engels-Rezeption gibt.

Anschließend gibt Marija Bogeljic-Petersen einen Bericht über die Sonderausstellung in Wuppertal „Friedrich Engels – Ein Gespenst geht um in Europa“.

Das Sonderthema des Hefts behandelt die Corona bedingte aktuelle Zuspitzung des Mensch-Natur-Verhältnisses. Fritz Reheis interpretiert sie in seinem Beitrag als eine Störung der Resonanz und geht den Möglichkeiten nach, sie zu beheben.

Nicht ganz ernst gemeint ist diesmal die Rubrik „Münchner Philosophie“. Sie enthält den im „Northern Star“ erschienenen Bericht von Friedrich Engels „Beer Riots in Bavaria“ über die Unruhen in München im Jahre 1844.

Eine Reihe von Rezensionen interessanter Neuerscheinungen beschließt das Heft.

Die Redaktion

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