Heft 72: Identitätspolitik

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41. Jahrgang 2022, 192 Seiten, broschiert

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Ein Gespenst geht um – das Gespenst der Identitätspolitik. Zwar haben sich gegen sie nicht alle Mächte zur „heiligen Hetzjagd“ verbündet, aber von Rechts bis Links ertönt allenthalben der Warnruf vor ihrer alles zersetzenden Kraft. Für Rechte ist die kulturell-völkische Substanz bedroht, wenn nun auch Schwule und Lesben oder gar kulturfremde Moslems dieselben Rechte erhalten wie „wir“. Liberale hingegen sehen eher den politisch erforderlichen Konsens gefährdet, wenn zahllose „Parallelgesellschaften“ sich mit ihren partikularen Sonderinteressen breit machen. Und Linke wittern in der Identitätspolitik den Spaltpilz, der durch „Symbolpolitik“ die nötige Einheit und Geschlossenheit der Bewegung zersetzt und dadurch letztlich nur der Übermacht der Herrschenden dient.

Es ist daher an der Zeit, diesen Spuk zu fassen zu kriegen. Was ist eigentlich gemeint, wenn von „Identitätspolitik“ die Rede ist? Was sind die treibenden ökonomischen wie moralischen Kräfte, die sie motivieren? Und was sind die politischen Ziele, die ihre Akteure verfolgen?

Die Beiträge des Heftes zeigen, wie umstritten derzeit eine angemessene Deutung dieses Phänomens ist. Übereinstimmung scheint offenbar nur darin zu bestehen, dass mit der Identitätspolitik die Diversität und die Vielfalt auf die Tagesordnung der politischen Agenda gesetzt ist. Denn ihr geht es nicht (mehr) um die Herstellung der rechtlichen und sozialen Gleichheit aller, sondern um die Anerkennung der Verschiedenheiten und der je konkreten Lebenswelt der Einzelnen. Doch die Differenzen bestehen in der politischen Beurteilung dieser Vielfalt sowie in der Bestimmung der Grenze, wo die Mannigfaltigkeit der Lebensformen sich als produktiv und segensreich erweist, und wo sie in sozialer wie kultureller Hinsicht ihre zersetzende und destruktive Wirkung entfaltet.

In ihrem einleitenden Artikel geht Lea Susemichel dem Verhältnis der Identitätspolitik zum linken Projekt der Emanzipation nach. Sie räumt ein, dass Identitätspolitiken durchaus skurrile und auch gefährliche Formen annehmen können, wenn die Unterschiede etwa der Geschlechter oder „Rassen“ essentialisiert werden; dass sie aber sowohl in ihren Ursprüngen als auch in ihrem historischen Verlauf als integraler Bestandteil der Emanzipationsbewegungen verstanden werden müssen.

Anhand der Frauenbewegung zeichnet Sibylle Weicker die Etappen der feministischen Theoriebildung nach. Dominierte zunächst der Kampf um die rechtliche, soziale und ökonomische Gleichheit der Geschlechter, trat mit dem „radikalen Feminismus“ in den 70er Jahren dann die Differenz, die Trennung und die Binarität der Geschlechter ins Zentrum. Unter dem Einfluss des Postkolonialismus wurde diese „westlich“ konnotierte Bewegung kritisch hinterfragt und durch Wissenschaftler*innen aus dem globalen Süden bereichert, um in ihrer poststrukturalistischen Variante zu einem nicht-binären, ironisch-queeren Spiel der Geschlechterdiversitäten zu werden..

Konrad Lotter interpretiert die Identitätspolitik als Kampf um Anerkennung. Diesen hatte Hegel – als Kampf zwischen Herr und Knecht – im Zusammenhang mit der Bildung des Selbstbewusstseins entwickelt. Unter dem Einfluss von Marx gewann er hingegen geschichtsphilosophische Bedeutung: als Motor des geschichtlichen Fortschritts. Kojève, Fukujama oder Honneth versuchten dann, ihn auf verschiedene Weise ihrer vorgefassten Lehre vom „Ende der Geschichte“ ein- bzw. unterzuordnen.

In seinem Beitrag zum Begriff der Anerkennung, der den identitätspolitischen Auseinandersetzungen zugrunde liegt, untersucht Bernhard Schindlbeck dessen Entfaltung in der von Axel Honneth vorgelegten Theorie. Honneth, so die Kritik, fasst die „Anerkennung“ so allgemein und abstrakt, dass sie auch ungerechte Verhältnisse zu legitimieren vermag.

Die anschließende Umfrage zur Identitätspolitik, an der insgesamt neun Philosoph:innen und Sozialwissenschaftler:innen teilgenommen haben, gibt einen differenzierten Überblick über unterschiedliche Perspektiven und Positionen im Rahmen der identitätspolitischen Debatte.

Den Beiträgen folgen Besprechungen einschlägiger Bücher zum Thema.

Das Sonderthema ist Ludwig Feuerbach gewidmet. Martin Schraven diskutiert in seinem Artikel aktuelle Beiträge zur gegenwärtigen Rezeption der Religionskritik Feuerbachs.

Das Heft wird durch eine Reihe von Rezensionen bemerkenswerter Neuerscheinungen abgeschlossen.

Die Redaktion

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