Hans-Günter Melchior, Vorsitzender Richter a.D.
Liebe Widerspruch-Redaktion,
so sehr ich mich darüber freue, dass man beim „Widerspruch“ an einen alten Leser denkt, so bedauere ich andererseits die „Einstellung der Herstellung“ des Heftes.
In der Tat: Ich glaube, zu den ebenso treuen wie gleichzeitig überzeugtesten Lesern des Heftes zu gehören (es war für mich immer mehr als nur ein „Heft“).
Ausnahmslos war jedes Heft für mich nicht nur ein Anlass zum Denken und Nach-Denken, sondern weit mehr dazu, die gesellschaftspolitische Entwicklung der Bundesrepublik kritisch und vor allem unter dem Aspekt sozialer Gerechtigkeit zu betrachten und meinen Protest hervorzurufen.
Es ist mir und meinem inzwischen alt gewordenen Kopf (85 Jahre) natürlich nicht oder nicht mehr möglich, bei der Fülle der – von mir alle aufbewahrten – Widerspruch-Exemplare und der dort behandelten Themen ein umfassendes Resümee abzugeben.
Beeindruckt hat mich immer der denkerische Ansatz ausnahmslos aller Autoren. Da wurde insbesondere zu sozialpolitischen Entwicklungen nicht politische Polemik wie saures Aufstoßen abgelassen (wie es allzu oft, ja fast regelmäßig, politische Praxis ist), sondern es wurde der Versuch unternommen, politische, gesellschaftliche und vor allem soziale Missstände unter dem Aspekt strengen – in der Regel philosophischen – Denkens als das zu entlarven, was sie sind: Gefährdungen des sozialen Friedens, mehr noch: als Verstoß gegen die Regeln strengen Denkens. Das hatte für mich immer wieder etwas von intellektueller Unbestechlichkeit. Es wurde nicht polemisiert, sondern mit Gründen gefochten, die sich der Logik verpflichtet fühlten. Und dass oft Logik und Wahrheit gleichgesetzt wurden, ist unter dem Aspekt stringenten Denkens (vielleicht nicht gerade der Literatur) legitim.
Einige, eher willkürlich herausgegriffene Beispiele, die mich nachhaltig beeindruckten. Keineswegs mit dem Anspruch auf Vollständigkeit, eher unter dem Aspekt der Noch-Gegenwärtigkeit:
Der jüngste Aufsatz von Konrad Lotter im Heft 72 zum Beispiel: „Identitätspolitik als Kampf um Anerkennung“: Der nicht arbeitende Herr verliert seine Selbständigkeit und gerät in Abhängigkeit zum Knecht. Eine Feier des „knechtische(n) Bewusstseins“. Was für ein denkerisch-politischer Ansatz!. Wie gründlich Lotter dieser Frage und ihrer Begründung nachgeht! Und wie er um die soziale Anerkennung des Knechtes wirbt. Eindrucksvoll. Die Knechte sind im Kommen!
Oder der von Dirk Siederoth im Heft 75 unternommene, höchst beachtliche Versuch, die Instrumentalisierung des Menschen durch die von ihm selbst geschaffenen Denkstrukturen gleichsam als Verobjektivierung der Person an die Wand zu malen. Die Befunde der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno drängen sich auf (s.a. Roger Behrens´ Aufsatz im Heft 58: „Kritische Theorie der Kulturindustrie heute: Fortzusetzen Jordi Maiso im Gespräch mit Roger Behrens“).
Und wie sprach mir, einem ehemaligen Vors. einer Strafkammer bei hiesigen Landgericht, Alexander v. Pechmann aus der Seele mit seinem Aufsatz: „Fake News und die Wahrheitsfrage“, Heft 69).
Und so weiter. Ach, hätte ich nur die Kraft und die Zeit, noch einmal alles zu lesen. Lassen Sie es genug sein. Ich habe einige neuzeitliche Arbeiten herausgegriffen. Die Fülle an Erkenntnissen und Einsichten aus meiner langen Zeit der Leserschaft darzustellen, würde vielleicht noch einmal ein Heft füllen. Längst bin ich pensioniert und habe mich der Schriftstellerei (zahlreiche Romane) und der Theaterkritik zugewandt. Bereichert nicht zuletzt an Erkenntnissen aus dem „Widerspruch“. Allein der Titel hat inspiriert.
Das nur nebenbei. Eher als Entschuldigung dafür, dass ich jetzt, immer noch anderweitig in Anspruch genommen, das Schwelgen einstellen muss.
Noch einmal: Ich trauere dem höchst verdienstvollen „Heft“ nach. Schwimmen denn wirklich im Alter langsam die „Felle davon“?
Bleibt der Dank an die Verantwortlichen. Es ist ein ganz herzlicher Dank und eine symbolische Umarmung. Sie haben sich um das Denken und den Geist verdient gemacht.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr
H.G. Melchior