Benhabib-Kosmopolitismus

Seyla Benhabib, Kosmopolitismus im Wandel. Zwischen Demos, Kosmos und Globus

br., 92 S., 13,– €, (mandelbaum Verlag, Berlin 2024)

von Bernhard Schindlbeck

Mit bewundernswerter Ausdauer und Hartnäckigkeit hält Seyla Benhabib wider alle von den gegenwärtigen Zeitläuften ausgesendeten Signale an ihrem Thema Kosmopolitismus fest, und das mit gutem Recht. Erinnert man sich an Benhabibs vorangegangene (auch auf Deutsch erschienen) Publikationen wie Kosmopolitismus und Demokratie. Eine Debatte mit Jeremy Waldron, Bonnie Honig und Will Kymlicka (2006, dt. 2008) sowie Kosmopolitismus ohne Illusionen. Menschenrechte in unruhigen Zeiten (2010, dt. 2016) – dem unter Zeitknappheit leidenden Leser sei der Aufsatz Unterwegs zu einer kosmopolitischen Demokratie? in der Neuen Zürcher Zeitung vom 13.06.2009 empfohlen – dann darf man mit Fug und Recht resümieren, dass Seyla Benhabib eines der für die kommende Praxis der Menschheit theoretisch wichtigsten Projekte verfolgt, dessen Bedeutung leider noch immer nicht ins Bewusstsein der maßgeblichen Regierenden und Institutionen auf dem Planeten gelangt ist. Eigentlich wissen sie alle, dass die globalen Krisen wie Klimawandel, Migration und Armut – und neuerdings ganz offensichtlich: die Konkurrenz von Imperialismen mit ihren Stellvertreterkriegen – nicht von Regierungen auf nationaler Ebene, auch nicht durch internationale Kooperationen gelöst werden können, sondern nur in einem kosmopolitischen Gesamtrahmen; gegen den aber sperren sich noch immer die meisten Regierungen, vor allem die des westlichen Blocks, d.h. die Nachfahren der ehemaligen Kolonialherren. Im Postskriptum ihres neuen Buches hält Benhabib fest, dass es während der Abfassung des Buches zum Terrorakt der Hamas vom Oktober 2023 kam, der nur dem Anschein nach den Proponenten von rein machtorientierter „Realpolitik“ Recht gebe, jedoch kein Grund sei, das Beharren aufzugeben, „den latenten emanzipatorischen Gehalt unserer Ideale und Illusionen [mit denen sie sich auf die Frankfurter Schule bezieht – B. Sch.] sichtbar zu machen.“ (78) Das ganz unzweifelhaft enorm wichtige Buch enthält die 2023 von Benhabib am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen gehaltenen Vorlesungen, in denen die Autorin ausgehend von Grundgedanken Kants (Stichwort „Weltbürgerrecht“) die Möglichkeiten auslotet, zu völkerrechtlich verbindlichen kosmopolitischen Standards zu gelangen, die nationales oder transnational übergreifendes Recht des Demos nicht negieren aber trotzdem transzendieren. In ihrem „kosmopolitische Interdependenz“ genannten Ansatz geht es um „eine Einbettung der demokratischen Selbstbestimmung in ein neues internationales Recht interdependenter Souveränitäten.“ (53; Hervorhebung im Original) Das sieht sehr nach der Quadratur des Kreises aus; ob dem so ist oder nicht, wird nur die Praxis zeigen können. Kantische Vernunftorientierung und „kommunikative Ethik“ (gemeint ist Habermas) sind die philosophischen Stützen, auf denen Benhabibs Auseinandersetzung sowohl mit Kritikern des „kantianischen Kosmopolitismus“ (Beispiel: die bekannte Aristotelikerin Martha Nussbaum), mit dem politischen Liberalismus als auch mit postkolonialen Theoretikern und Kritikern des Eurozentrismus und westlichen Imperialismus (Walter Mignolo, E. Tendayi Achiume, Dipesh Chakrabarty u.a.), aber auch mit Hannah Arendts Kant-Lektüre und Denkern wie Bruno Latour, Carl Schmitt oder Hans Kelsen ruht. Ihr theoretischer Horizont ist so weit, wie es dem Thema – und dem Globus – gebührt und angemessen ist.

Das erste Kapitel ist der Verteidigung des „kantianische[n] Kosmopolitismus“ gegen seine Kritiker gewidmet, die argumentieren, „dass das kantianische Vermächtnis rundweg abgelehnt und eine andere philosophische Grundlage geschaffen werden müsse.“ (25) Seine Forderung, dass alle Staaten die republikanische Regierungsform haben sollten, habe er nicht auf die europäischen Kolonien und abgängige Staaten bezogen. Benhabibs wichtigster Referenztext ist natürlich Kants Zum ewigen Frieden (1975), daneben die Metaphysik der Sitten (1797/98). Sie verweist auf Kants eigene Entwicklung hinsichtlich seines Denkens über „Rassen“ und auf seine (gelegentliche) Kritik am europäischen Imperialismus. Allerdings muss kritisch zurückgefragt werden, wie viel Kants Verständnis des „Weltbürgerrechts“ (im dritten Definitivartikel, wo er nebenbei massiv „das inhospitable Betragen“ europäischer Kolonialmächte gegenüber fremden Völkern kritisiert), das er ausdrücklich „auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt“ wissen will, also auf ein (zeitweiliges) Besuchsrecht, für ein heutiges Kosmopolitismus-Konzept hergibt – auch wenn er auf den gemeinschaftlichen Besitz „der Oberfläche der Erde“ hinweist, auf der ursprünglich „niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere“. Desgleichen ist zu fragen, wie weit die „Prinzipien der kommunikativen Ethik bzw. Diskursethik“ (25) von Habermas im gegebenen internationalen und völkerrechtlichen System ein Weltbürgertum stützen können. Denn Habermas beharrt in seinem Verständnis der deliberativen Demokratie ja darauf, dass diese sich als Ausdruck von Volkssouveränität stets in einem nationalstaatlichen Rahmen (ggf. einem transnationalen wie dem der EU) organisieren müsse, aus dem also immer jemand ausgeschlossen bleibt (z.B. Flüchtlinge, Asylbewerber). Gleichzeitig verlangt die Diskursethik aber, dass „nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten).“ (Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 1983, S. 103) Das bedeutet, dass Asylbewerber bei der Asylgesetzgebung des Landes, von dem sie aufgenommen werden wollen, mitsprechen dürften. Benhabib übersieht, wie Habermas selbst, diese offensichtliche Unmöglichkeit, um nicht zu sagen Antinomie.

Anders als etwa die von Benhabib als „Globalisten“ bezeichneten Mitglieder der Gruppe Third World Approaches to International Law (TWAIL) oder E. Tendayi Achiume (von 2017 bis 2022 Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für aktuelle Formen des Rassismus) plädiert Benhabib im zweiten Kapitel ausdrücklich nicht „für eine Welt ohne Grenzen“ (47). Während Achiume „das Konzept der ‚exklusiven Souveränität‘ ins Visier [nimmt], die vorherrschende hegemoniale Vorstellung der westlichen und nördlichen liberalen Demokratien, die es ihnen erlaubt, Migranten und Asylsuchende von ihren Gestaden auszuschließen“ (41), behauptet Benhabib: „Demokratien brauchen juristische Grenzen.“ Denn: „Wir müssen wissen, in wessen Namen ein Gesetz erlassen wird, und wir müssen wissen, wie wir von denen, die es erlassen, und von denen, die dagegen verstoßen, Rechenschaft verlangen können. Wir brauchen sowohl nationale als auch transnationale Gerichte, um den Schutz und die Stärkung von Rechten sowie die Bestrafung von Tätern, die sie verletzen, zu gewährleisten. Aber diese Grenzen der Gerichtsbarkeit sind nicht gleichbedeutend mit militärisch bewaffneten und gewaltsam bewachten Grenzregimen.“ (47 f.) Man sieht, wie sehr Benhabib auf das Recht, insbesondere auf das Völkerrecht baut. Das ist gewiss gut gemeint, verkennt jedoch, dass erstens das Recht grundsätzlich ein Gewaltverhältnis ist, und zweitens die Sanktionsgewalt, die hinter dem Völkerrecht steht, zweifelhaft ist. Ist ein Staat mächtig genug, internationales Recht ohne die Gefahr von Sanktionen zu brechen (z. B. weil er im UN-Sicherheitsrat eine Vetostimme hat oder weil eine Vetomacht ihre schützende Hand über ihn hält), dann tut er es. Die Geschichte kennt genügend Beispiele. Die Ohnmacht des Internationalen Gerichtshofs wurde z.B. 1984 und 1986 von den USA vorgeführt, die ein Urteil gegen sie wegen Unterstützung der Contra-Rebellen in Nicaragua und Verminung der nicaraguanischen Häfen einfach ignorierten. Als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte der britischen Regierung die Abschiebung von Asylbewerbern nach Ruanda im Juni 2022 untersagte, erklärte die Regierung, man könne auch aus dem Europarat und der Europäischen Menschenrechtskonvention austreten und die Zustimmung zur Genfer Flüchtlingskonvention widerrufen. Das Völkerrecht macht mächtige Regierungen nicht zittern. Die Regierungen in dieser Welt, die nicht jederzeit aus Opportunismus Menschenrechte verletzen, kann man vermutlich an einer Hand abzählen. Sich auf das Recht und Gerichte zu verlassen, ist also nicht unbedingt der erfolgversprechendste Weg zu einer kosmopolitisch gestalteten Welt und für „Projekte der Weltgestaltung und des Welt-Teilens durch gemeinsames Engagement in Praktiken und Institutionen.“ (38)

Warum sollten wir unbedingt wissen müssen, „in wessen Namen“ ein Gesetz erlassen ist? Die vor Gericht beim Urteilsspruch benutzte Floskel „Im Namen des Volkes“ ist ja auch nur eine leere und bloß Legitimation erheischende Redeweise. In Deutschland erleben wir gegenwärtig, wie von den „demokratischen Parteien“ das Recht auf Asyl geschleift wird, um rechtspopulistische Ressentiments zu bedienen, und dass auch ein (grundsätzlich auslegungsbedürftiger) Verfassungswortlaut faktisch wenig wert ist. In der von exorbitanter Dummheit zeugenden Interpretation des Bundeskanzlers lautet z.B. das Asylgrundrecht in der Verfassung: „Wir dürfen uns aussuchen, wer zu uns kommen darf und wer nicht.“ (Spiegel 36/2024). Eine deutsche Regierung hält von Projekten „des Welt-Teilens“ so wenig wie jede andere westlich-demokratische Regierung. Benhabib selbst weist darauf hin, dass nach der Entkolonialisierung die wirtschaftlichen Unterschiede fortbestanden und durch „die Funktionsweise der Breton-Woods-Institutionen, die nochmals neuere Techniken zur Aufrechterhaltung von Ungleichheits- und Hierarchieverhältnissen formulierten“ (39) zementiert wurden. Sie schreibt: „Wir müssen fragen: …Wie kann ein interaktiver Universalismus nicht nur im Bereich der Moralphilosophie gedacht werden, sondern ganz konkret als eine Form des Institutionenaufbaus und des Welt-Teilens? Versuche zur Dekolonisierung des Völkerrechts hin zu einem integrativeren Kosmopolitismus können den Weg weisen.“ Gibt man als Realist zu, dass die Mächtigen und Regierenden der Ersten Welt kein Interesse an einer Dekolonisierung des Völkerrechts und an einem Welt-Teilen haben, bleibt die Frage: Wer soll denn das Wir in dem „Wir müssen fragen …“ sein? Es sind eben nur ein paar Moralphilosophen (in Europa und USA) und mehrere Aktivisten aus der Dritten Welt. Dass die heutige sogenannte Migrationskrise ein Ergebnis des westlichen Imperialismus ist, wird in der Öffentlichkeit der kapitalistischen Industriestaaten ignoriert oder glatt geleugnet. Benhabib plädiert (mit Achiume) dafür, „die Unterscheidung zwischen dem politisch verfolgten Flüchtling und dem Wirtschaftsmigranten“ endlich aufzugeben. „Angesichts der langen Geschichte des europäischen Imperialismus in Afrika, Südamerika und dem Rest der Welt ist diese Unterscheidung zwischen dem unehrenhaften Wirtschaftsmigranten und dem ehrenwerten politischen Flüchtling heuchlerisch und unhaltbar.“ (42) Diese Wirtschaftsmigranten werden vom deutschen Kanzler bekanntlich als diejenigen bezeichnet, „die kein Recht haben, hier bei uns zu sein.“ Woran man einmal mehr sieht, dass Recht (das seiner Natur nach sowieso kontingent ist) stets sehr beliebig interpretiert und verwendet werden kann.

Das dritte, mit „Der Globus als Welt, Erde und Planet“ überschiebene Kapitel beleuchtet die durch im Anthropozän erzeugten globalen Problematiken (vor allem die Klimakrise) aus Chakrabartys „planetarischer“ Perspektive, die das Globale „überschreibt“, und mit Bruno Latours Konzept des „Terrestrischen“; beide streben eine „epochale Neuorientierung im Denken“ (63) an, die Benhabib mit der Kritik an moderner Wissenschaft und Technologie sowie moderner Politik konvergieren sieht, „wie sie von der bekannten Tradition des antimodernen reaktionären Denkens vertreten wird, für das die Philosophen Heidegger und Schmitt stehen.“ (ebd.) Über Hannah Arendt, die bekanntlich einen Weltstaat und ein Weltbürgertum ablehnte, und deren Dialog mit Karl Jaspers (dessen Buch Die Atombombe und die Zukunft des Menschen 1957 erschien) kommt Benhabib, die Gefahr des Atomkriegs und den Klimawandel implizit nebeneinanderstellend, zu Arendts schon 1958 vorgetragener Einsicht und zitiert: „Diese auf Furcht vor globaler Zerstörung gegründete negative Solidarität [Hervorhebung B. Sch.] ist begleitet von einer weniger evidenten, aber nicht weniger wirksamen Befürchtung politischer Natur. Positive Solidarität im Politischen kann es nur geben auf Grund gemeinsamer Verantwortlichkeit.“ (67) Wie Arendt folgt auch Benhabib Kants Behauptung in Zum ewigen Frieden, dass ein Weltstaat „ein seelenloser Despotism“ sei, der nicht die „Idee des Völkerrechts“, nämlich „die Absonderung vieler von einander unabhängiger benachbarter Staaten“ ersetzen dürfe – ohne zu fragen, wie plausibel Kants Begründung („Aber die Natur will es anders.“) wirklich ist. Dass Staaten, die ja grundsätzlich um Investitionen, Ressourcen, Arbeitskräfte und Macht konkurrieren, selten zu tragfähigen und nachhaltigen Kooperationen finden und ihrer „gemeinsamen Verantwortlichkeit“ eben nicht nachkommen, was man auch tagtäglich auf den ersten Blick sieht, ignorieren Kant, Arendt und Benhabib gleichermaßen. Mit den Überlegungen von Chakrabarty decke sich, schreibt Benhabib, Arendts (sowie Jaspers‘) Urteil, „ ‚daß das Auftreten der Menschheit als greifbare politische Realität das Ende der in der Achsen-Zeit beginnenden Weltgeschichte kennzeichnet. (…) Was jetzt nach dem Ende der Weltgeschichte beginnt, ist die Geschichte der Menschheit.‘ “ (68) Bei dieser Denkfigur der „eigentlichen“ Geschichte der Menschheit „nach“ dem Vorhergegangenen darf man sich an einen ähnlichen Gedanken im Marxismus erinnern. Jedoch genau davon setzt sich Benhabib ab: „Aber diese ‚Menschheit‘, die am Ende jener Epoche der Weltgeschichte auftaucht ist keine Spezies – kein ‚Gattungswesen‘ wie Feuerbach oder Marx vielleicht gesagt hätten Die Philosophie der Menschheit darf den Menschen nicht als ein singuläres Subjekt betrachten, das ‚im einsamen Dialog zu sich selbst‘ redet, sondern als ‚die Menschen, die miteinander reden und sich verständigen‘. Die conditio humana ist eine Pluralität, nicht Singularität.“ (68; Zitate aus Hannah Arendt, Menschen in finsteren Zeiten). Fraglich an dieser Marx-Kritik ist, weshalb man das Gattungswesen nicht als Pluralität denken können sollte. Der grammatikalische Singular impliziert ja nicht notwendig eine semantische Singularität.

Nach wie vor offen bleibt also am Ende des Buches, wie die Einbettung demokratischer Selbstbestimmung vieler einzelner Staaten in das neue internationale Recht „interdependenter Souveränitäten“ vor sich gehen und wie diese Interdependenz sich gestalten soll. Die Interdependenz besteht ja bereits, nur ohne jeden positiven Effekt für einen Kosmopolitismus. Ebenso unklar ist, wie sich „die Ideale der kommunikativen Ethik mit dem kosmopolitischen Ansatz“ verknüpfen lassen, ohne die sogenannte demokratische Selbstbestimmung (die Volkssouveränität) weitestgehend auszuheben. Vor allem vergisst Benhabib (wie schon Kant und Arendt) dass es faktisch keinen „gemeinschaftlichen Besitz der Oberfläche“ der Erde gibt. Die Erdoberfläche (d.h. Grund und Boden) ist längst überwiegend das private Eigentum von Konzernen (juristischen Personen) und natürlichen Personen. Und Privateigentum bedeutet immer den willkürlichen Ausschluss anderer Personen vom Gebrauch. Gerade in Kants Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre ist das die raison d’être des Rechts. Der Kosmopolitismus kann sich mithin bestenfalls auf einen halbierten Kant berufen.

Insgesamt kommt das Buch also nicht über den Appell hinaus, von dem man jedoch aller Erfahrung nach schon weiß, dass er bei den relevanten Institutionen, Politikern und Wirtschaftsführern wie immer auf taube Ohren stoßen wird.

Bernhard Schindlbeck

Ideologiekritik im „Widerspruch“

Alexander von Pechmann

Ideologiekritik im „Widerspruch“

Phasen der Kritik und Selbstkritik

I.

1980 gegründet, war der „Widerspruch – Münchner Zeitschrift für Philosophie“ seinem Selbstverständnis nach ein Kind der Studentenbewegung. Anders als etwa das Berliner „Argument“, das sich in den 60er Jahren seinen Standpunkt erst erarbeitet hatte, war der Widerspruch von Beginn an fertig. Er hatte einen klaren Standpunkt und hatte sich, wie das Editorial der ersten Nummer darlegt, einen ausgewiesenen ideologiekritischen Auftrag gegeben. Damals, Anfang der 80er Jahre, herrschten in der Münchner Philosophie zwei Richtungen: auf der einen Seite die traditionelle geisteswissenschaftliche Ausrichtung, die von den Philosophen Hermann Krings, Robert Spaemann und Dieter Henrich repräsentiert wurde, und auf der anderen die in den 60er Jahren entstandene Wissenschaftstheorie, die von Wolfgang Stegmüller etabliert und vertreten wurde.

Mit der Zeitschrift Widerspruch sollte auch in München die mit der Studentenbewegung wiedererweckte historisch-materialistische Philosophie eine Plattform erhalten, die zugleich die ideologiekritische Auseinandersetzung mit den dominierenden konservativen und liberalen Positionen suchen wollte. So hatten denn auch die Hefte der ersten Jahre eine klare Linie: „Wissenschaft und sozialer Fortschritt“, „Freiheit der Wissenschaften?“, „Friedensbewegung und Friedenstheorie“, „Hilfe zur Selbsthilfe im Konservatismus“ waren die Titel der Hefte. Sie führten in ihren Beiträgen vom historisch-materialistischen Standpunkt aus die Auseinandersetzung um die Demokratisierung der Gesellschaft und die Erhaltung des bedrohten Friedens auf den Konfliktfeldern der damaligen Zeit: den Berufsverboten für fortschrittliche Wissenschaftler wie Horst Holzer, der Nato-Nachrüstung durch die Pershing II-Raketen oder der von der neuen Kohl-Regierung ausgerufenen „geistig-moralischen Wende“. Und das Heft über die „Philosophie im Faschismus“ unternahm es erstmals, das von der herrschenden Philosophie bislang Verdrängte aufzuarbeiten.

So klar und einheitlich der philosophische Standpunkt zu dieser Zeit auch war, so zeigten sich doch Unterschiede und Unsicherheiten auf dem Feld der Ideologiekritik: Sollte man die Auseinandersetzung mit den konträren Auffassungen polemisch führen, ihnen Widersprüche der Argumentation nachweisen, um ihre Vertreter lächerlich zu machen, oder hinter der scheinbar wohlklingenden Rede die unlautere Absicht, das versteckte Herrschaftsinteresse, entlarven, sollte die Kritik also die Leser:innen über die geistige Beschränktheit bzw. die Verlogenheit der Autoren aufklären? Oder sollte Ideologiekritik vielmehr erklärend verfahren, indem sie zeigt, wie und welche gesellschaftlichen Interessen sich in den jeweiligen Theoriegebäuden artikulieren, um so den geistigen Überbau auf seine materielle Basis zurückzuführen? – Und weiterhin: Sollte diese Kritik eher theoretisch oder praktisch motiviert sein, und wäre demnach das Kriterium der Kritik die logische Kohärenz der Argumentation oder aber die Gemeinsamkeit der politischen Ziele? So wurde denn auch auf manche politische „Bündnispartner“, wie den christlichen Sozialisten Helmut Gollwitzer, munter eingeprügelt, um seinen wirklichkeitsfremden Idealismus zu entlarven, während andere aus politisch motivierter Absicht von der Kritik verschont blieben.

II.

Schon bald jedoch fing die klare ideologiekritische Frontstellung zwischen wahrem und verkehrtem Bewusstsein an sich aufzulösen. Neue Fragen und Problemfelder wurden relevant: Mit den Heften „Computer – Denken – Sinnlichkeit“ und zur „Gen-Technologie“ setzte Mitte der 80er Jahre die sozialphilosophische und ethische Auseinandersetzung der Zeitschrift mit den neuen Technologien der digitalen bzw. genetischen Informationsverarbeitung und ihren damals noch unüberschaubaren Anwendungsbereichen ein. Die zunehmend ins Bewusstsein tretende Umweltzerstörung in West und Ost, die Herausforderungen der Frauenbewegung für das traditionelle Rollenverständnis, die neue Suche nach sozialer und geistiger Geborgenheit mit ihrer wachsenden Sensibilität für die Heimat – diese Themen der 80er Jahre passten nicht mehr recht in das bisherige ideologiekritische Schema von „wahr“ und „verkehrt“. Überblickt man die Beiträge der Hefte dieser Zeit, zur „Wiederkehr des Mythos“, zur „Heimat. Zwischen Ideologie und Utopie“ oder zum „Frauen-Denken“, so erkennt man, dass nun ein anderes Schema vorherrschend wurde, das Schema einer dialektischen Differenzierung: Einerseits, so die Argumentation, enthalten die genannten Technologien wie die neuen sozialen Bewegungen etwas Wahres, da sie das menschliche Handlungspotential erweitern bzw. das Unbehagen an Strukturen des bestehenden Gesellschaftssystems artikulieren; andererseits bergen dieselben Phänomene jedoch auch Gefahren, weil die neuen Techniken als Mittel der Herrschaftskontrolle oder Profitmaximierung missbraucht werden, bzw. die Umwelt- und Frauenbewegungen zugleich ein romantisch-reaktionäres Gedankengut, einen „gefährlichen Irrationalismus“, wie es hieß, transportierten. Hier angesichts der Komplexität und Interpretationsvielfalt der neuen technischen wie sozialen Phänomene das Angemessene zu treffen, erwies sich als schwierig; der vormals eindeutige ideologiekritische Standpunkt löste sich in den verschiedenen Beiträgen der Hefte in ein schillerndes Spektrum unterschiedlicher Auffassungen auf.

III.

Die katastrophé der Ideologiekritik, die zum Umdenken zwang, kam für den Widerspruch 1987, drei Jahre vor der Umwälzung der globalen Verhältnisse. Das Heft zum „Neuen Denken“ war noch nach dem bisherigen Muster als kritische Auseinandersetzung mit der damals einflussreichen New-Age-Bewegung geplant. Dieser Art des Aufgreifens gesellschaftlicher Phänomene kam jedoch das sowjetische Konzept des „Neuen Denkens“ dazwischen: Es stellte das bisherige Fundament einer historisch-materialistischen Analyse und Kritik recht grundsätzlich in Frage. Denn jetzt sollte nicht mehr der historische Fortschritt, d.h. eine antikapitalistische, auf Befreiung zielende Praxis, der Kompass sein, der die Ideologiekritik motiviert und orientiert, sondern das gerade Gegenteil: die angesichts der globalen Probleme, des atomaren Wettrüstens, der Naturzerstörung und der Unterentwicklung der Dritten Welt, gefährdete Existenz und damit die Erhaltung der Menschheit.

Von diesem Standpunkt der Bewahrung der Menschheit aus musste nun aber die Auffassung vom Fortschritt als Ideologie erscheinen, die zuvor doch Grundlage und Zweck der ideologiekritischen Arbeit war. „Auch die Ideologiekritik kann ideologisch und falsch sein“, heißt es jetzt im Heft. „Die Ideologiekritik muss also selbst noch einmal einer Ideologiekritik unterzogen werden.“ Sollte angesichts der atomaren und ökologischen Bedrohungen diese Konzeption die richtige und damit das Bewusstsein von der Bewahrung der Menschheit das wahre sein, dann, so die naheliegende Schlussfolgerung, wäre die bisherige Ideologiekritik auf der Grundlage eines ‚beschränkten Bewusstseins‘ erfolgt, sie wäre, als ‚naiver Fortschrittsoptimismus‘, selbst Ideologie gewesen.

Die Konfrontation der zwei Paradigmen „Fortschritt“ versus „Bewahrung“ gefährdete das Projekt Widerspruch. Sie zwang, was bislang nicht nötig war, zur Reflexion und zur Verständigung über die eigenen Grundlagen. Diese Phase der Selbstreflexion fand ihren Niederschlag in zwei Heften mit den – zuvor als absurd erschienenen – Titeln am Anfang der 90er Jahre: „Ende der Linken?“ und „Wozu noch Intellektuelle?“. Sie stellten eben das zur Disposition, was seit Gründung der Zeitschrift ihr unproblematisches philosophisches Fundament gewesen war. „Die Linke“, so wurde jetzt festgestellt, „bedarf einer geschichtlichen Perspektive; aber die realen Bedingungen dafür fehlen heute offenbar. Ist mit dem Ende des ‚realen Sozialismus‘ auch die Linke am Ende?“ Bedeutet das, dass mit der epochalen Wende der Typus des Linksintellektuellen, der sich der emanzipatorischen Ideologiekritik verpflichtet wusste, vom „Sieger der Geschichte“ nun zum allseits verhöhnten „Auslaufmodell“ geworden ist?

IV.

Versucht man angesichts der Vielfalt der Stimmen, die sich zu dieser Selbstverständigungsdebatte im Widerspruch zu Wort gemeldet haben, ein neues Fundament für die Zeitschrift herauszuschälen, so bestand dies zum einen in der bitteren Einsicht in die Alternativlosigkeit des Bestehenden und, damit verbunden, in die Ortlosigkeit systemverändernder Praxis sowie zum anderen in der Suche nach der Neuverortung linker Theoriebildung innerhalb des bestehenden Systems. „Am Ende“, so hieß es jetzt, sei „eine Theorie und Praxis …, die Geschichte als einen ‚dialektisch-gesetzmäßigen Fortschritt zum Sozialismus‘ zu verwirklichen glaubte. Der Sozialismus als ‚Ideal‘ hingegen erschien den meisten Autoren als weitgehend ungebrochen“, – ohne freilich dieses „Ideal“ wie auch den Ort linker Theoriebildung genauer bestimmen zu können.

Auf der Basis eines solchen Verzichts auf die geschichtsphilosophische Dimension des eigenen Selbstverständnisses kristallisierte sich in der Folgezeit ein neues Muster der Ideologiekritik heraus. An die Stelle der vormaligen Schemata der Polarisierung bzw. dialektischen Differenzierung trat nun die Aufgabe, die „immanenten Widersprüche“ des Systems herauszuarbeiten und sie gegenüber denjenigen Ideologien kenntlich zu machen, die den sich nun globalisierenden Kapitalismus – der freilich so nicht mehr genannt werden durfte – verklärten. So hatten in den 90er Jahren die Hefte vor allem die Konfliktlinien, Gegensätze und Widersprüche des sich herausbildenden Weltsystems zum Gegenstand: Die Beiträge zur „multi-kulturellen Gesellschaft“ thematisierten die Konfliktpotentiale zwischen der Eigen- und Fremdkultur, die aus der Auflösung der bisherigen Grenzen erwuchsen, wiesen freilich auch auf die darin enthaltene Utopie eines friedlichen Miteinanders der Völker und Kulturen hin. „Markt und Gerechtigkeit“ widmete sich der wachsenden Verteilungsschere der materiellen und sozialen Güter und kritisierte den zunehmenden Realitätsverlust der systemkonformen Markt-Ideologien. Die Hefte über „Gewalt und Zivilisation“ und „Nie wieder Krieg“ versammelten Beiträge, die das scheinbar paradoxe Phänomen untersuchten, dass trotz der Zivilität der Gesellschaft die Gewalt im Inneren wie nach Außen zunimmt, und wie der Einsatz militärischer Gewalt heutigentags ideologisch legitimiert wird. Und das Heft zu einer „Philosophie des Mülls“ schließlich machte den ökologischen Skandal zum Thema, dass „zwischen die Reiche der Freiheit und der Natur die Berge aus Müll wachsen.“

Nach dem Verlust der Zukunftsperspektive brachte das neue Schema der „inneren Widersprüche“ zwar den heilsamen Zwang, genauer auf die Tatsachen hinschauen zu müssen, um sie aufdecken zu können. Es hatte aber den Mangel, diese Widersprüche nicht mehr als Triebfedern seiner revolutionären Umgestaltung begreifen, sondern das kapitalistische System nur immanent an seinen eigenen Ansprüchen der Freiheit, Gleichheit oder Gerechtigkeit messen zu können. Durch eine solche immanente Kritik sollte zumindest das „Ideal“ des Sozialismus und damit das Bewusstsein des Anders-Möglichen in Erinnerung gehalten werden.

V.

Um die Jahrhundertwende dann wurden die öffentliche Kritik und die Proteste gegen die Globalisierung lauter. Im Heft „Wagnis Utopie“, erschienen 1999, heißt es erstmals wieder: „Die Zeit scheint reif zu sein, über das was ist, hinaus wieder das, was sein soll und sein kann, zu denken, Utopisches als ein real-mögliches Gegenbild zum Bestehenden zu entwerfen.“ Diesem Gegenbild stand jedoch entgegen, dass die sich neu formierenden Antiglobalisierungsbewegungen als Träger des Protestes sich in der Realität als äußerst heterogen zeigten. Sie zu verstehen und zu begreifen, zwang die Zeitschrift, den Horizont der bisherigen Ideologiekritik zu erweitern; sie stellten damit aber auch das Fundament der immanenten Kritik erneut und auf andere Weise in Frage. Hatte das Heft über „Afrikanische Philosophie“ noch die Debatte der afrikanischen Philosophen um die verheerenden Auswirkungen des Weltmarkts auf die traditionellen Lebens- und Wirtschaftsformen zum Thema, traten jetzt außereuropäische Akteure aus dem lateinamerikanischen, islamischen, indischen und chinesischen Raum auf den Plan. Ihr Auftreten musste den bisherigen sozialphilosophischen Rahmen der Kritik um die Dimension des Kulturellen erweitern.

Die Auseinandersetzung mit diesen neuen Trägern des Protestes provozierte jedoch zugleich die Frage, ob und inwiefern der eigene Standort und die bisherige Form der Ideologiekritik tiefer in der europäischen Denktradition verwurzelt waren als gedacht. Die Artikel in den Heften am Anfang dieses Jahrzehnts über die „Kritik der Globalisierung aus außereuropäischer Perspektive“ und über den „Kampf der Kulturbegriffe“ trugen diese Debatte um die Universalität resp. Relativität des eigenen Standpunkts aus. Insbesondere die Autoren nicht-westlicher Kulturen wehrten sich gegen die Zumutung, „die Wahrheit durch die eigene Tradition exklusiv zu definieren.“ Ihnen standen – recht vermittlungslos – Beiträge gegenüber, die sich dagegen verwahrten, den Universalitäts- und Wahrheitsanspruch der eigenen Position preiszugeben. So deutete ein Teil der Beiträge die außereuropäischen Proteste als verständliche Reaktionen auf die Zumutungen einer „Verwestlichung“, andere sahen in ihnen vormoderne Antworten auf die stattfindende Modernisierung. Ein ähnliches Bild zeigten die Hefte über den „Wertestreit um Europa“ und die „Perspektiven postnationaler Demokratie“. Während die einen Autoren die politische Integration Europas an den eigenen, den europäischen Werten maßen, erkannten andere Autoren in dieser Entwicklung die Neuformierung eines imperialen Lagers, die „Anpassung des institutionellen Überbaus an die ökonomischen Notwendigkeiten.“

VI.

Am Ende des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts schien es, dass mit der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 nun wieder die alten und vertrauten Krisenphänomene der kapitalistischen Produktionsweise und damit auch Vorstellungen sozialistischer Alternativen zurückkehrten. Die Rückkehr dieser Krisen konnte zwar dazu dienen, die vormaligen Beiträge zur Kritik der Marktideologien nachträglich zu rechtfertigen; sie machte aber zugleich die Diskussion um reale Alternativen zum System der Marktwirtschaft unabweislich, das nun öffentlich auch wieder als „Kapitalismus“ bezeichnet werden durfte. Diese Suche nach Alternativen zum Bestehenden stand denn auch im vergangenen Jahrzehnt im Zentrum. So unternahm es das Heft „1968 – Ideen, Entwürfe, Utopien“, Antworten auf die Fragen nach dem Erinnerungswerten und Unabgegoltenen der 68er Bewegung zu geben; und das Heft über „Alternative Ökonomien“ erörterte die Konzepte einer „Wohlfahrts-“, einer „Solidarischen“ bzw. einer „sozialistischen Ökonomie“, die den Anspruch erhoben, den neuen globalen sozialen wie ökologischen Herausforderungen Rechnung zu tragen.

Auf der politischen Ebene setzten die Hefte über das „Vertrauen in der Krise“ (51), „Brauchen wir Eliten?“ (53), „DemoKratie“ (57) sowie über die „Arcana Imperii. Die dunkle Seite des Staates“ (59) sich nicht nur mit der gegenwärtigen Krise der Repräsentation und dem schwindenden Vertrauen in das Modell der parlamentarischen Demokratie auseinander, sondern suchten auch nach den institutionellen Bedingungen, unter denen die Überwindung dieser Kluft zwischen der sozialen Lebenswelt und dem politischen System möglich wäre. Im historischen Rückblick auf die Zeit nach dem 1. Weltkrieg dann sollte das spätere Heft zur „Räterepublik in Bayern“ (67) den Streit um das Rätesystem als eine Alternative zum Modell der parlamentarischen Demokratie vergegenwärtigen.

Mit den weltweiten Protestbewegungen gegen das westliche kapitalistische System, allen voran dem „arabischen Frühling“, tauchte dann auch wieder die alte, in der Versenkung verschwundene Frage nach dem „revolutionären Subjekt“ als dem sozialen Träger der politischen Veränderung auf, mit dem das Heft Nr. 55 sich befasste. Dessen Beiträge blieben freilich, im Rückblick gesehen, recht vage und diffus. Sie waren offenbar mehr Ausdruck eines Wunsches als der Wirklichkeit. Ähnliches galt auch für das Heft über die: „Philosophie in China“. Die Beiträge in diesem Heft gaben zwar einen ausgezeichneten Ein- und Überblick über das traditionell säkular und pragmatisch geprägte Denken in der Volksrepublik China und arbeiteten auch die Differenzen zu einem westlichen ‚Universalismus‘ heraus; sie ließen aber die Frage nach einem möglichen Gegengewicht zum westlichen Modell des Kapitalismus unbeantwortet.

Auf der Ebene des Sozialen war dann das Heft zum „Internet und der digitalen Gesellschaft“, 2010 erschienen, mit der Vorstellung und Hoffnung auf einen, technologisch bedingten, Wandel verbunden. Das World Wide Web beginne, so hieß es einführend, „die reale Welt des Kapitalismus zu unterminieren“. Es habe „der Vision einer Weltrepublik mit freier Kommunikation neue Nahrung gegeben, einer demokratischen Öffentlichkeit, bei der alle nationalen und sozialen Schranken fallen werden.“ Bei allen Verweisen auf die Gefahren des Missbrauchs überwog in den Beiträgen doch die Hoffnung auf die Chancen eines künftigen „herrschaftsfreien Diskurses“. Werch ein Illtum! – Wie sehr sich diese Perspektive auf die „digitale Gesellschaft“ seither gewandelt hat, verdeutlichen dann die Hefte des Widerspruch über den „Trans-Humanismus“ (66), der den Menschen „das Maß einer (womöglich sich selbst optimierenden) Maschine“ anlegen möchte, über die neuen Möglichkeiten der Verbreitung bornierter Weltbilder und der Verfestigung von Vorurteilen in den Sozialen Medien, denen die Nr. 69 „Öffentliche Meinung und Wahrheit“ gewidmet war, sowie das letzte Heft des Widerspruch über die „Künstliche Intelligenz“ (75). In dessen Zentrum stand nun der „digitale Kapitalismus“, der auf seiner Jagd nach Profit eine rücksichts- und gnadenlose Konkurrenz der High-Tech-Giganten auf dem Weltmarkt bewirkt hat, der die Gesellschaften und staatlichen Institutionen derzeit weitgehend hilflos gegenüberstehen.

VII.

Die Suche nach Alternativen wurde schließlich ab der Mitte des vergangenen Jahrzehnts durch das neue Phänomen überlagert, dass die Kritik am bestehenden System sich politisch nicht mehr nur links verorten ließ, sondern dass sie sich auch in rechten Ideologien artikulierte. So sah sich die Tagung des Widerspruch „Was ist links heute?“ im Jahr 2015, die das Heft Nr. 61 dokumentierte, mit der Herausforderung konfrontiert, dass die Kapitalismuskritik nicht mehr als das ‚Privileg der Linken‘ angesehen werden kann, und dass im öffentlichen Diskurs die Grenzen zwischen links und rechts oft ineinander verschwimmen. Aufgabe der Tagung sollte es daher sein, unter dem Begriff „links“ nicht nur die komplexe Vielfalt linker Aktivitäten zusammenzufassen, sondern sie auch klar gegenüber der rechten Ideologie abzugrenzen. So sehr Einigkeit darüber bestand, dass die Prinzipien linken Handelns der Abbau jeglicher Herrschaft von Menschen über die Menschen und die Natur sowie der weltweite und supranationale Kampf um soziale Gerechtigkeit sind, so kontrovers blieb unter den Teilnehmern freilich die Frage nach den realistischen Wegen zu diesen Zielen.

Das Heft Nr. 68 hatte dann „Die Neue Rechte“ selbst zum Thema. Dabei bestand das Interesse nicht nur darin, dass und wie im öffentlichen Diskurs wieder zunehmend traditionell rechtes Gedankengut einfließt, sondern auch daran, dass die „Neue Rechte“ es nicht ohne Erfolg übernommen hat, traditionell antikapitalistische Theorien und Strategien der Linken in das Projekt einer „nationalen“ bzw. „völkischen Identität“ zu integrieren. Dieser Vermischung von links und rechts gingen denn auch die Beiträge des Hefts über die „Identitätspolitik“ (72) nach, die den Rechten dazu dient, die ‚völkische Substanz‘ zu erhalten, während sie im linken Diskurs vorhandene Diskriminierungen kenntlich machen soll, um sie überwinden zu können.

VIII.

Der Verlust des linken Monopols auf die Kritik des bestehenden Systems führte im Weiteren dann zu einer notwendig gewordenen Reflexion auf die eigenen philosophischen Grundlagen. So bedürfe es angesichts der politisch-ökonomischen Entwicklungen sowie der ökologischen Herausforderungen einer Neubestimmung des altehrwürdigen Begriffs des „Fortschritts“ als Leitidee linker Praxis, der das Heft Nr. 54 gewidmet war. Fortschritt, so der Tenor der Beiträge, lasse sich nicht mehr quantitativ und naiv als ein Mehr an materiellen wie immateriellen Gütern bestimmen. Der Begriff müsse heute zugleich und konstitutiv die natürlichen und einschränkenden Bedingungen und Ressourcen einer solchen Praxis einbeziehen. In ähnlicher Weise thematisierte das Heft Nr. 71, „Problemfall Arbeit“, einen zentralen Begriff jeder historisch-materialistischen Theorie. War es nach diesem Verständnis weder die Vorsehung noch das Schicksal, sondern die Arbeit, durch die die menschlichen Zivilisationen sich überhaupt entwickelt haben, habe sie heute jedoch, wie es im Vorwort hieß, „viel von ihrer ehemaligen Wertschätzung eingebüßt“. Zum einen werde die Arbeit nicht mehr als gestaltend und befreiend, sondern zunehmend als belastend und einschränkend erfahren; und zum anderen sei jede Arbeit als zweckmäßige Tätigkeit zugleich auch ein destruktiver Eingriff in die je vorhandene Natur. Dies aber fordere heraus, neu über die künftige Rolle und Funktion der Arbeit in und für die Gesellschaft nachzudenken.

Entsprechend setzte sich denn auch das Heft Nr. 74 kritisch mit der traditionellen Idee von der einen fortschreitenden Menschheitsgeschichte auseinander. Die Beiträge des Hefts kamen alle zu dem ideologiekritischen Ergebnis, dass die Idee der Kontinuität der Geschichte heute legitimerweise durch die Vorstellung einer Vielzahl kulturell unterschiedlicher Geschichtsverläufe sowie unterschiedlicher Perspektiven des Erzählens von Männer und von Frauen, von Kolonisatoren und von Indigenen zu ersetzen sei.

Diesem Rückbezug auf die eigenen philosophischen Grundlagen dienten auch die Hefte Nr. 65 und 70 zu Karl Marx und Friedrich Engels aus Anlass ihres 200. Geburtstags. In deren Zentrum standen die Fragen und Probleme der dialektischen Methode und ihrer Konzeption von Gesellschaft wie von Natur. Hinsichtlich der Frage nach der Alternative zur kapitalistischen Produktions- und Konsumtionsweise bestand in den Beiträgen jedoch Übereinstimmung, dass mit der von Marx und Engels prognostizierten „Diktatur des Proletariats“ unter den gegebenen Verhältnissen nichts mehr anzufangen sei.

Im Zeichen dieser Rückbesinnung standen zwei weitere Hefte aus jüngster Vergangenheit, die sich grundsätzlich mit der Funktion und der Rolle des Eigentums befasst haben, das von Marx und Engels als wesentlich für die Struktur der Gesellschaft erachtet worden war. Das Heft zur „Eigentumsfrage“ (64) konstatierte, dass die Frage nach Alternativen zum Privateigentum heute ein öffentliches Tabu ist. Während sich sichtbar die Belege häuften, dass die Institution des Privateigentums nicht, wie angenommen, die Wohlfahrt aller fördert, sondern Wenigen den Reichtum und Vielen die Armut beschert, und zudem den Planeten zerstört, findet keine öffentliche Debatte um alternative Eigentumsformen statt. Die anschließende Tagung des Widerspruchs „Privateigentum auf dem Prüfstand“ im September 2022, die in Heft 73 abgedruckt wurde, hatte mit ihren Beiträgen das Ziel, über die Kritik am Privateigentum hinaus die Debatte um alternative Formen eines gemeinschaftlichen Eigentums wiederzubeleben.

Zusammenfassung

Will man abschließend angesichts des Zeitraums von über 40 Jahren ein Fazit ziehen, so hat das Projekt „Widerspruch“ seinem Namen durchaus Ehre gemacht. Es stand während dieser Zeit in der Tat im Widerspruch zu den herrschenden Ideologien. Allerdings wandelte sich durchaus das, was unter einem solchen Widerspruch zu verstehen ist, und zu was er dient. Wurde er zuerst gewissermaßen als die Lokomotive des Fortschritts und seiner „Aufhebung auf höherer Stufe“ gedacht, musste er dann eher als ein Forum verstanden werden, das es unternimmt, die vorhandenen Gegensätze zuzuspitzen, sie aber dennoch auszutragen und auszuhalten, um den Widerspruch schließlich eher im Sinne eines Einspruchs gegen die (scheinbar?) verfestigten und alternativlosen Verhältnisse zu deuten.

Dass der Widerspruch, gewollt oder ungewollt, ein Kind seiner Zeit war, hat seinen Ausdruck letztlich auch in der Resonanz der Themen beim Publikum und damit in den Verkaufszahlen der Hefte gefunden. Als eine solche „Lokomotive des Fortschritts“ wurde der Widerspruch anfangs breit, auch in der Tagespresse, rezipiert. Auch in seiner zweiten Phase als „Forum der Kontroversen“, im „Denken des Anderen“, hatte er noch sein breiteres Publikum. Mit der Verfestigung der bestehenden Verhältnisse jedoch wurde er mit zunehmender Selbstflexion linker Theoriebildung zu einem „Rufer in der Wüste“, dessen Einsprüche doch weitgehend verhallten und nur mehr eine vergleichsweise kleine Leserschaft hatte. Selbstkritisch werden wir uns eingestehen müssen, dass wir, trotz aller Bemühungen, die allmähliche Marginalisierung der linken Theoriebildung nicht haben aufhalten können. Sic tempora mutantur.

Rochedy-Nietzsche

Julien Rochedy: Nietzsche – der Zeitgemässe. Einführung in die Philosophie Nietzsches

br., 176 S., 18,– € (Jungeuropa Verlag, Dresden 2022)

von Paul Stephan

Der junge französische Autor Julien Rochedy (geb. 1988) gilt als einer der wichtigsten Nachwuchsintellektuellen der radikalen Rechten. Er kommt allerdings aus der politischen Praxis. Schon 2006 trat er dem Front National bei, war von 2012 bis 2014 der Vorsitzende der Jugendorganisation der Partei und 2012 beriet er Marine Le Pen bei ihrem Präsidentschaftswahlkampf. 2014 trat er allerdings aus der Partei aus, da er mit ihrem ‚Entgiftungskurs‘ nicht einverstanden war. Er nimmt seitdem extremere Positionen ein und unterstütze bei der letzten Präsidentschaftswahl in der ersten Runde Éric Zemmour.

Rochedy verlagerte seine Aktivitäten seitdem auf die sozialen Medien und das Schreiben mehrerer Bücher, von denen das vorliegende das einzige ist, was bislang auf Deutsch vorliegt. Im Original erschien es im Jahr 2020. Die Lektüre dieses Buches verspricht einen erstklassigen Einblick darin, wie die junge radikale Rechte denkt – und vor allem, wie sie Nietzsche in ihrem Sinne interpretiert. Und es sind keine bloßen ‚Hirngespinste‘. 2019 veröffentlichte Rochedy einen dreistündigen Vortrag zu Nietzsche auf Youtube, der 1,5 Millionen Zuschauer erreichte. Seine Gedanken entfalten also eine große Resonanz und dürften das Welt- und Nietzschebild zahlreicher junger Franzosen prägen.

Auf Breitenwirkung zielt der schmale, etwa 170 Seiten umfassende, Band sichtlich ab. Das Cover ziert ein poppiger Nietzsche im Hawaii-Hemd, der mit einer Pistole zielt. Er trägt eine Sonnenbrille, in der sich eine Art gelber, runenartiger, Blitz spiegelt – eine deutliche Anspielung auf die Symbolik der Identitären Bewegung und der rechtsradikalen Szene allgemein.

Die Stoßrichtung des Buches wird schon ganz am Anfang deutlich, wenn der der Neuen Rechten zugeordnete Historiker David Engels in seinem Vorwort von der „zunehmend um sich greifenden Cancel Culture und der immer deutlicher werdenden medialen und politischen Zensur“ (S. 9) spricht. Der Übersetzer Philipp Bender spricht dann in dem seinen von Nietzsche als „Querdenker im edelsten Sinne des Wortes und als Anti-Mainstream-Rebell“ (S. 13). Es geht also darum, die Moralkritik Nietzsches als intellektuelle Waffe im Kampf gegen den ‚linken Mainstream‘ in Anschlag zu bringen und dem rechten Projekt dadurch eine gewisse ‚Coolness‘ zu verleihen.

Es handelt sich dementsprechend um eine leichte Lektüre. Rochedy vermag es, seine Gedanken sehr eingängig runterzubrechen und dem Leser keine allzu großen Stolpersteine in den Weg zu legen. Dies geht allerdings auf Kosten der Wissenschaftlichkeit. In dem Buch wird auf Zitate weitgehend verzichtet und zahlreiche der, bisweilen steilen, Behauptungen Rochedys bleiben ohne nachprüfbaren Beleg. In einigen Fällen unterlaufen ihm grobe sachliche Fehler.

Eingangs berichtet Rochedy davon, wie er mit 14 Jahren zufällig auf Nietzsches Zur Genealogie der Moral gestoßen sei. Dies sei eine Art ‚Erweckungserlebnis‘ gewesen und er sei fortan, trotz aller Kritik im Detail, „immer wieder zu meinem Meister zurückgekehrt“ (S. 19). Seine Grundperspektive wird bereits hier mehr als deutlich: Wir befänden uns im Zeitalter eines gewaltigen Kulturverfalls, angeheizt von den herrschenden ‚linksliberalen‘, postmodernistischen Eliten und einem grassierenden seichten Hedonismus. Allerorten seien „Nihilismus“ (S. 16) und „Dekadenz“ (ebd.) zu beobachten, der „Triumph des letzten Menschen“ (ebd.), von dem Nietzsche in Also sprach Zarathustra spricht. Es drohe nicht nur der Untergang ‚Abendlandes‘, sondern der Menschheit insgesamt – und Nietzsches Schriften lasse sich nicht nur eine Diagnose dieses apokalyptischen Szenarios, sondern auch ein Ausweg entnehmen.

Es folgt ein knapper Abriss von Nietzsches frühen Jahren bis zur Fröhlichen Wissenschaft (S. 22–49). Dass dieser Teil des Buches so kurz ausfällt, zeigt schon, dass Nietzsches noch stark aufklärerisch geprägte Frühschriften Rochedy nur am Rande interessieren. Und gerade hier findet sich auf nahezu jeder Seite eine Falschbehauptung. So teilt Rochedy unhinterfragt den von der Forschung längst widerlegten Mythos, Nietzsches Familienname sei polnischer Abkunft (vgl. S. 22 f.), unterstellt Hegel die Ansicht, in der antiken griechischen Sittlichkeit habe sich der „wahre[] Geist“ (S. 27) offenbart, nicht etwa erst im Christentum und im modernen Staat, erklärt Danaë und nicht etwa ihre Mutter Leontion zur Geliebten Epikurs (vgl. S. 32) und behauptet, Wagner habe sich erst nach 1872 zum „Nationalisten, Antisemiten und christlichen Reaktionär“ (S. 35) gewandelt. Auch die Einschätzung, die deutsche akademische Philosophie sei noch in den 1870ern von Hegel und nicht etwa vom Neukantianismus dominiert gewesen (vgl. S. 38), zeugt von wenig intellektueller Gründlichkeit und nichts spricht dafür, dass die Widmung des ersten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches an Voltaire ironisch gemeint gewesen sein soll (vgl. ebd.). Falsch ist es auch, den aus Theben stammenden Dichter Pindar als „athenisch[]“ (S. 39) zu bezeichnen.

Die folgenden Kapitel des Buches sind stärker und detaillierter. Hauptbezugspunkt von Rochedy sind die Schriften ab Also sprach Zarathustra. Er geht in seiner Darstellung von dem berühmten 125. Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft aus, in dem Nietzsche, vermeintlich, den ‚Tod Gottes‘ ausruft. Nicht zu Unrecht weist Rochedy darauf hin, dass es in diesem Text jedoch der „tolle Mensch“ ist, der von jenem Ereignis spricht, und es deshalb voreilig ist, Nietzsche selbst diese Aussage zu unterstellen oder darin gar eine einseitige Affirmation jenes ‚Todes‘ zu erblicken. Es handelt sich für Rochedy vor allem um eine Diagnose, die „[d]as 20. Jahrhundert, mit seinen Weltkriegen, dem Kommunismus, dem Nationalsozialismus und der destruktiven Postmoderne“ (S. 52) bestätigt habe. Man erkennt hier also die Frontstellung des Buches: Rochedy möchte eine Alternative zum Kommunismus bzw. der linken Ideologie allgemein aufzeigen, aber auch zur Postmoderne, ohne darum eine faschistische Position zu vertreten. Dies ist jedenfalls sein Anspruch.

Nach einer kurzen Darlegung der „ewigen Wiederkunft“ und des „Übermenschen“ als Grundideen des Zarathustra geht Rochedy nun auf Nietzsches „fruchtbarste, schaffensfreudigste Epoche“ (S. 62) ein, in der er „seine wesentlichen Werke“ (ebd.) verfasst habe. Dazu zählt ihm zufolge vor allem auch Nietzsches „Hauptwerk“ (S. 65) Der Wille zur Macht. Er erwähnt zwar, dass dieses „Hauptwerk“ eine nachträgliche Kompilation der Schwester auf der Basis von Nietzsches Aufzeichnungen ist, doch rückt die Sache in ein irreführendes Licht, insofern er es als „unvollendet[]“ (S. 65) bezeichnet. Dabei brach Nietzsche die Arbeit an diesem Buch tatsächlich bewusst ab, was seinen Status als „Hauptwerk“, „in welchem Nietzsches Metaphysik deutlicher zum Ausdruck kommt und sich schlüssiger offenbart“ (ebd.) in Zweifel ziehen sollte – von der aus philologischer Sicht unhaltbaren verfälschenden Editionspraxis Elisabeth Förster-Nietzsches einmal abgesehen.

Jene „Metaphysik des Willens zur Macht“ (S. 68) steht ganz im Zentrum von Rochedys Nietzsche-Deutung. Er umreißt sie wie folgt: „Das Universum ist eine Ganzheit, in dem […] nichts neu erschaffen und nichts zerstört wird. Sondern alles wird durch ein Spiel von Kraft und Macht zwischen jenen transformiert, denen es gelingt, eine feste Einheit zu bilden, wie etwa ein Baum, ein Bakterium, ein Stern oder ein Sandkorn, aber auch ein Mensch oder eine menschliche Zivilisation.“ (S. 69 f.) Dies ist Rochedy ethischer und theoretischer Leitgedanke: Man soll den so verstandenen „Willen zur Macht“ als Grundprinzip allen Seins anerkennen und bewusst ausleben, das heißt zu versuchen, eine solche „feste Einheit“ herzustellen.

Das entscheidende Problem der Moderne erblickt er umgekehrt im „Verschwinden“ (S. 73) jenes Willens im Zuge der Dominanz von Intellektualismus und Moralismus, in der „Degeneration und Perversion“ (S. 74) desselben. Um diese Entwicklung genau zu analysieren, folgt eine vertiefte Betrachtung der Genealogie und ihrer Unterscheidung von auf Selbstbejahung beruhender „Herren-“ und auf Verneinung bzw. „Ressentiment“ gründender „Sklavenmoral“. Diese übernimmt Rochedy vollkommen unkritisch und spricht gar von einer hier entwickelten „Methode […], die im Grunde auf alle zeitgenössischen Prozesse anwendbar ist“ (S. 97): „Allgegenwärtige Phänomene wie Antirassismus, Feminismus, Progressivismus und Sozialismus erscheinen in einem neuen Licht.“ (Ebd.) Diese vermeintlich wohltätigen und moralisch hochstehenden Bewegungen würden durch Nietzsches Brille kenntlich als Auswüchse eines pervertierten Willens zur Macht: „Die Sklavenmoral ist ausschließlich darauf gerichtet, die Starken, Aristokraten und wahrhaft Glücklichen zu eliminieren. Vertreter, die diese Moral in Stellung bringen, um gänzlich irdische, profan-politische Ziele zu verfolgen, schaffen nicht die Dominanz von Menschen über Menschen ab, sondern ersetzen nur die augenblicklich Dominanten.“ (S. 100)

Doch auch Rochedy will an der grundsätzlichen Existenz von Herrschaftsverhältnissen nichts ändern, sondern wirft den westlichen Eliten vor, im Bann der Sklavenmoral „im (Selbst-)Hass und Masochismus“ (ebd.) zu versinken und es damit zuzulassen, „dass eine Masse von inferioren Gestalten, die von den aristokratischen Vorfahren noch sofort und rücksichtslos ausgeschaltet worden wäre, die Möglichkeit zur Machtergreifung erhält“ (ebd.).

Eine gewisse Grausamkeit und Unterdrückung sei eben eine zentrale Bedingung einer hohen Kultur und eine auf Friedlichkeit und Gleichheit ausgerichtete Zivilisation sei daher dem Untergang geweiht, unterminiere ihre eigene Existenzgrundlage, entfremde sich im Namen eines einseitigen Rationalismus von allen „lebendige[n] Wirklichkeiten“ (S. 117). Insbesondere die EU ist Rochedy vor diesem Hintergrund ein Dorn im Auge. Sie verweigere es „sich anhand von konkreten und reellen Elementen zu definieren und zu identifizieren“ (S. 115 f.).

Allerdings distanziert sich Rochedy ebenso vom traditionellen Nationalismus. Nietzsches Schriften entnimmt er einen „wohlverstandenen Europäismus“ (S. 126), er spricht von der „absolute[n] Notwendigkeit“ (S. 127) zur europäischen „Einheit angesichts anderer entstehender Mastodonten wie den USA oder Russland“ (ebd.). Dies ist sein eigentliches Gegenprojekt zum „Nihilismus“: „Die vereinte europäisch-abendländische Zivilisation muss die politische und menschliche Reaktion gegen Barbarei und Nihilismus sein.“ (S. 131) Aus diesem Grund seien auch Mussolinis und Hitlers Nietzscheanismus zu verwerfen, da es ihnen misslungen sei, „ihre Politik […] auf eine bewusst abendländisch-europäische Ebene [zu] heben“ (ebd.). Stattdessen bezieht er sich auf Ernst Jünger: Er sei „ein europäischer Aristokrat, ein wahrer Übermensch“ (ebd.) gewesen, der „für eine europäische Einigung im Namen der großen europäischen Kultur“ (S. 132) plädiert habe.

Es sei jedoch, wie nicht zuletzt Nietzsche selbst zeige, möglich, dem Nihilismus auch auf individueller Ebene zu entgehen: „Diese Dekadenz ist nicht unentrinnbar. Es ist uns möglich, gegen sie revoltieren, indem man sein eigenes Sein und Dasein in einer bestimmten Transformation umwandelt sowie eine (erneute) Umwertung aller Werte vollendet. Man beginnt, außergewöhnliche und höhergeartete Menschen um sich zu scharen und sich gegenseitig wertzuschätzen und zu unterstützen. So schließlich […] entdecken wir den Übermenschen in uns.“ (S. 139)

Es geht Rochedy dabei jedoch dezidiert nicht um ein Programm universeller Selbstverwirklichung, sondern, in Anschluss an Julius Evola, einen „radikalen Aristokratismus“ (S. 143). Nur ‚starke‘ Menschen sollen und dürfen sich um eine solche heroische Lebenshaltung bemühen: „Der Zweck der Menschheit besteht […] darin, überlegene Individuen – wenn nötig, sogar überlegene Völker – zu erzeugen.“ (S. 144) Er zitiert an dieser Stelle zustimmend die gemeinhin umstrittensten Nietzsche-Passagen, in denen sein „Meister“ von der Notwendigkeit neuer Sklavereien oder eines erneuerten Kastenwesens spricht: „Man muss eine Klasse oben festlegen, die für die Ausdünstungen des Vulgären von unten undurchlässig ist. Andernfalls wird sie unweigerlich untergehen.“ (S. 146) Gerade die Demokratie und der Sozialismus, so Rochedy in Anschluss an Nietzsche, ermöglichten durch ihre Erzeugung einer „große[n] plebejische[n] Masse“ (ebd.) die Entstehung einer neuen Aristokratie, nach der diese geschwächten ‚Bienenmenschen‘ instinktiv verlangten.

Ganz im Sinne des ‚umgedrehten Rousseauismus‘ des späten Nietzsche ruft auch Rochedy zur Rückkehr „zum Körper und Körperlichen“ (S. 156) auf, was er immerhin auch mit einer Kritik der Umweltzerstörung verknüpft. Doch dies bedeutet vor allem die Entfesselung des inneren ‚Raubtiers‘: „Das Leben als Krieg annehmen, heißt, den Frieden mit dem Leben zu machen.“ (S. 159) Nur so lebe man auch im Einklang mit dem „Sein“ (S. 163, Rochedy zitiert hier Heidegger): „Teilnehmen am Leben bedeutet in letzter Konsequenz, ihm gehorsam zu sein, indem man als Mensch seine gesamte vitale Kraft entfaltet. Im Einklang mit dem Existierenden zu existieren, das ist der Wille zur Macht.“ (Ebd.) Im Geiste dieser Ideen gelte es vor allem, den ‚inneren Nihilisten‘ zu überwinden im Sinne eines Ideals, das Rochedy vor allem in den französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts wie Fontenelle oder Rochefoucauld realisiert sieht: „Sie stellten den mustergültigen Typus eines elitären Menschen dar, der einst den Edelmann Frankreichs treffend charakterisierte. Dieser Typ – ihn haben die Heutigen allzu leicht vergessen – ist das Ideal des absolut Männlichen und der Universalbildung, die im Gegensatz zur modernen Spezialisierung steht. Der Edelmann ist vornehm, aber gleichzeitig auch ein Krieger. Er ist ebenso kultiviert wie lebenskräftig und tapfer; Philosoph und Christ, also von starker Spiritualität. Kurzum, dieses Ideal umschreibt den ‚kompletten‘, perfekten Mann, wie er uns in der Geistesgeschichte Europas oft entgegentritt.“ (S. 77)

Wer sich nur ein wenig mit den Klassikern der rechten Nietzsche-Rezeption vertraut ist, erkennt schnell, dass Rochedy nur deren ‚Einsichten‘ in popularisierter und aktualisierter Form wiederkäut. Er rekurriert etwa auf die ‚klassische‘ Differenzierung von Kultur und Zivilisation, mit der ironischerweise während des Ersten Weltkriegs Thomas Mann zum Krieg gegen Frankreich aufrief (vgl. S. 83), beruft sich an zentralen Stellen auf Heidegger (S. 66, 139, 144 & 163), Evola (S. 88 & 143) und eben Ernst Jünger. Einmal auch Ayn Rand (S. 142), die große Vordenkerin der neoliberalen Konterrevolution. Diese namentlichen Erwähnungen sind bemerkenswert, da Rochedy in dem Buch so gut wie nie irgendwelche Referenzen anführt. Oswald Spengler bleibt zwar ungenannt, doch ist mit seiner Apokalyptik stets präsent, ebenso wie Alfred Baeumler.

Die rhetorische Strategie des Buches ist raffiniert: Es beginnt relativ unpolitisch und sachlich – man wundert sich fast ein wenig –; erst in seinem Verlauf offenbart Rochedy nach und nach seine politischen Ansichten. Es geht ihm, wie man dem Buch unschwer entnehmen kann, durchaus um eine Überwindung bornierter Nationalismus im Dienste einer Vereinigung Europas, doch es soll sich um Europa handeln, das sich von liberalen, demokratischen, sozialen und humanistischen Werten verabschiedet und wieder an seine vermeintliche vergangene Größe anknüpft. Es soll von „kriegerischen“, „männlichen“ Werten regiert werden und zum Erreichen dieses Ziels schreckt Rochedy vor gewaltsamen Methoden nicht zurück: „Ist […] ein sauber ausgeführter Uppercut an das Kinn des Gegners zwingend weniger ‚klug‘ als das verbale Gegenargument?“ (S. 154) Man muss sich das von ihm ersehnte Europa wohl ein wenig wie Putins Russland vorstellen.

Entsprechend beschwert sich Rochedy darüber, dass die europäischen Städte „von „afrikanischen Straßenhändlern“ (S. 45) wimmeln, verkündet immer wieder seinen Hass – vielleicht gar sein Ressentiment? – gegenüber vermeintlich körperlich ‚verwahrlosten‘ Intellektuellen (vgl. S. 47 & 154 f.) und bezeichnet die frühen Christen als „menschliche[n] Abschaum“ (S. 94) und „Versager“ (ebd.).

Zwar verteidigt er Nietzsche mit dem Argument zwar ein Antifeminist, darum aber nicht misogyn gewesen zu sein (vgl. S. 140), doch es ist klar, dass in diesem ‚neuen Europa‘ Frauen – ebenso wie alle anderen ‚minderwertigen‘ Menschen (‚Behinderte‘, Nicht-Weiße, Homosexuelle etc.) – eine bestenfalls untergeordnete Rolle spielen sollen. Nicht misogyn ist das allenfalls, wenn man, wie er, davon ausgeht, dass Frauen von Natur aus zu einer devoten Position bestimmt sind.

Besonders wüst wird es jedoch, wenn Rochedy an den neurechten Mythos vom ‚Großen Austausch‘ anknüpft (vgl. S. 104 & 113) und in diesem Sinne den europäischen „Ethnomasochismus“ (S. 111) geißelt. Es gebe eine regelrechte Strategie bestimmter ‚Eliten‘, die darauf abziele, die angestammte weiße europäische Bevölkerung durch Afrikaner und Muslime zu ersetzen – aus welchen Gründen auch immer.

Auch wenn Rochedy sich also eifrig darum bemüht, sich vom historischen Faschismus und dem Imperialismus und Militarismus zu distanzieren, sogar von der Entfesselung einer „absurde[n] Gewalt in zwei Weltkriegen“ (S. 111) spricht, ist nicht klar, wie er sich davon abgrenzen bzw. diese ‚Degeneration‘ verhindern möchte. Insbesondere die deutschen Nazis verfolgten ja durchaus die Idee eines von ‚Ariern‘ dominierten Abendlands, das es vor Judentum, ‚Bolschewismus‘ und westlichem Liberalismus zu retten gelte und agitierten in diesem Sinne in den von ihnen besetzen Gebieten. Handelte es sich bei den Weltkriegen, bei Imperialismus und Faschismus, nicht genau um Eruptionen der ursprünglichen, verdrängten Grausamkeit und „Männlichkeit“, die Rochedy doch eigentlich begrüßen müsste, auch wenn die Notwendigkeit ihrer zivilisatorischen Einhegung durchaus zugesteht? Und wie genau distanziert er sich beispielsweise von neonazistischen Hooligans oder Terroristen, die „afrikanische Straßenhändler“ oder anderen „Abschaum“ im Sinne der von Rochedy propagierten ‚Wehrhaftigkeit‘ einen „Uppercut“ verpassen oder gar massenhaft niedermetzeln wie Anders Behring Breivik oder Brenton Tarrant, die sich auf genau dieselben Konzepte bezogen? Man muss Rochedy nicht einmal unterstellen, sich subjektiv von diesen ‚Exzessen‘ nicht tatsächlich zu distanzieren im Sinne des während des Zweiten Weltkriegs geläuterten Ernst Jünger – doch wenn er das ehrlich meint, sollte er sich ernsthaft fragen, inwieweit es sich nicht um ‚Exzesse‘ seiner eigenen Ideologie handelt.

Was Nietzsche angeht, gilt für Rochedy dasselbe wie für seine Vordenker – umgekehrt das, was er den „linken ‚Nietzscheanern‘“ (S. 149) unterstellt: Sie „missbrauchen […] ständig nur die Hälfte seines Denkens“ (ebd.). Zu Recht kritisiert Rochedy die unter postmodernen Interpreten bisweilen verbreitete Unart, die Einheitlichkeit von Nietzsches Denken vollkommen zu leugnen und in ihm nichts weiter als einen Skeptiker und Ironiker zu verstehen, der eigentlich nichts zu sagen habe außer einem Aufruf zur rein negativen geistigen Befreiung. In der Tat gleicht ein solcher Nietzsche eher Max Stirner (vgl. S. 150). Doch Rochedys Interpretation krankt an demselben Fehler, alle gegenläufigen Aspekte in Nietzsches vielfältigem Denken – wie insbesondere seine Werke vor dem Zarathustra – auszublenden.

So findet sich in der Morgenröthe – über die Rochedy kaum spricht – ein bemerkenswerter Aphorismus, Nr. 206, in dem Nietzsche in sehr deutlichen Worten das Leid der europäischen Arbeiterschaft benennt und anklangt und als Lösung selbst eine Art ‚großen Austausch‘ vorschlägt: Die europäischen Arbeiter sollen in andere Kontinente auswandern, um dort ein heroisches Leben führen zu können, und durch für eintönige Arbeiten besser geeignete Chinesen ersetzt werden.

Diese Überlegung Nietzsches ist natürlich, als realpolitische Agenda genommen, eher ein Kuriosum und ihrerseits rassistisch. Doch sie zeigt immerhin, dass Nietzsche wenigstens in dieser Phase die ‚soziale Frage‘ keinesfalls gleichgültig war und er sich zumindest Gedanken machte, wie man sie lösen könnte – und zu ihrer Lösung schlägt er eben genau eine Maßnahme vor, die Rochedy als Inbegriff des „Ethnomasochismus“ verunglimpft. Und wieso eigentlich nicht? Wenn man die rassistische Prämisse akzeptiert, dass es ‚Rassen‘ gebe, die mehr oder weniger gut zur Unterordnung bestimmt seien, warum nicht große Teile der europäischen Bevölkerung austauschen? In einem ähnlichen Sinne spricht Nietzsche wiederholt davon, dass man, wenn man die antisemitischen Stereotype akzeptiert, eigentlich auf die Erzeugung einer ‚arisch‘-jüdischen ‚Mischrasse‘ hinarbeiten müsse, um die den Juden zugeschriebenen nützlichen Eigenschaften mit denen der ‚Arier‘ zu verbinden.

Was Nietzsche zugleich immer wieder – schon in der von Rochedy nur beiläufig erwähnten zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, Über Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben – betont, ist der perspektivische Charakter aller Erkenntnis und die Notwendigkeit des Experimentierens mit verschiedenen Wertmaßstäben, um zu niemals definitiven, jedoch immer besseren Weltinterpretationen zu gelangen. In diesem Sinne stehen auch alle Überlegungen des späten Nietzsche zum „Willen zur Macht“, zur Notwendigkeit einer Rückkehr der „Herrenmoral“, zu neuen Sklavereien und Kastensystemen etc. – diese Stellen erfindet Rochedy ja nicht, das steht alles wörtlich bei Nietzsche; auch in seinen publizierten Schriften – unter dem expliziten Vorbehalt, eine solche „Perspektive“ bzw. ein bloßes Gedankenexperiment darzustellen, dem man als Leser durchaus widersprechen kann und auch soll. Nietzsche spricht immer wieder als die Kernessenz seiner Schriften aus, dass es eben darum gehe, ein eigenes Urteil zu gewinnen und sich selbst von seinen Schriften nicht beeindrucken zu lassen. So lautet eines der die Fröhliche Wissenschaft einleitenden Gedichte:

„Es lockt dich meine Art und Sprach,

Du folgest mir, du gehst mir nach?

Geh nur dir selber treulich nach: –

So folgst du mir – gemach! gemach!“

Auch Zarathustra stößt seine Jünger immer wieder von sich. Er will gar keine Gläubigen um sich scharen haben, keine ein- für allemal feststehende Doktrin verkünden. Und dies genau im Namen der Vielfalt des „Lebens“ und der Wirklichkeit, die es immer wieder neu zu entdecken und zu definieren gelte.

Insofern Rochedy bei Nietzsche eine „Metaphysik“ aufzuspüren meint und in seiner experimentellen Genealogie der Moral einen Generalschlüssel vermutet, der ausreichen würde, um die komplexe soziale Realität der Moderne hinreichend zu verstehen, entspricht er zwar, partiell, dem Wortlaut von Nietzsches Schriften, doch widerspricht ihrem Geist. Nietzsche ruft immer wieder zur „Selbstüberwindung“ auf und richtet dieses Programm dezidiert, so der Untertitel des Zarathustra, an „Alle und Keinen“. Rochedy selbst stellt seinem Buch sogar das Nietzsche-Zitat voran: „Leben – das heißt für uns Alles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme verwandeln.“ (S. 7)

Doch diesem Programm einer heroischen Selbstwerdung als permanenter Selbstüberwindung folgt er nicht, sondern glorifiziert in kitschiger Manier Nietzsche und Wagner zu den „wohl zwei größten Genies, die die Welt jemals gesehen hat“ (S. 25) und bezeichnet sich gar selbst als „Adepten“ (S. 63) Nietzsches. Es ist jedoch sehr unnietzscheanisch, in seinen Schriften Material für ein politisch-ideologisches Programm zusammenzuklauben, das sich – wie Rochedy ja selbst zugibt – seit spätestens 1945 gründlich desavouiert hat.

Es ist ohne Zweifel wahr, dass unsere Zivilisation, ja: die Menschheit, vor großen Herausforderungen steht, zu deren Lösung es radikaler Ideen benötigt. Doch ist alles, was die vermeintlich so avancierte Neue Rechte zu bieten hat, ein billiger Abklatsch von längst veralteten und historisch widerlegten Konzepten, begründet auf dem waghalsigen Versuch, alle großen Probleme der Gegenwart auf das einfache Schema „Herren- vs. Sklavenmoral“ zu reduzieren? Wen soll das ernsthaft überzeugen – vielleicht diejenigen, die die heutige Realität ressentimentgeladen betrachten und verzweifelt nach Schuldigen für ihr eigenes Unvermögen suchen und sie eben nicht im ‚alten weißen Mann‘, sondern einer ominösen ‚postmodernen Elite‘ finden? Nietzsches großer Appell: Befreit euch von solchen Denkblockaden, öffnet euch der Vielfalt des Seins! Wagt neue Experimente und neue Perspektiven – aber holt bitte nicht verstaubte Götzen aus dem Gruselkabinett hervor.

In diesem Sinne kann ich mein Schlusswort mit Rochedy eigenen Worten beenden: „Der selbsternannte ‚Unzeitgemäße‘ des 19. Jahrhunderts ist im 21. so zeitgemäß wie nie. Man muss ihn lesen und wieder lesen, auch wenn man nicht alle seine Ideen ungeprüft und bedingungslos übernehmen will (was er selbst als stets kritischer Geist wohl missbilligt hätte).“ (S. 168)

Leserbrief 1

Hans-Günter Melchior, Vorsitzender Richter a.D.

Liebe Widerspruch-Redaktion,

so sehr ich mich darüber freue, dass man beim „Widerspruch“ an einen alten Leser denkt, so bedauere ich andererseits die „Einstellung der Herstellung“ des Heftes.

In der Tat: Ich glaube, zu den ebenso treuen wie gleichzeitig überzeugtesten Lesern des Heftes zu gehören (es war für mich immer mehr als nur ein „Heft“).

Ausnahmslos war jedes Heft für mich nicht nur ein Anlass zum Denken und Nach-Denken, sondern weit mehr dazu, die gesellschaftspolitische Entwicklung der Bundesrepublik kritisch und vor allem unter dem Aspekt sozialer Gerechtigkeit zu betrachten und meinen Protest hervorzurufen.

Es ist mir und meinem inzwischen alt gewordenen Kopf (85 Jahre) natürlich nicht oder nicht mehr möglich, bei der Fülle der – von mir alle aufbewahrten – Widerspruch-Exemplare und der dort behandelten Themen ein umfassendes Resümee abzugeben.

Beeindruckt hat mich immer der denkerische Ansatz ausnahmslos aller Autoren. Da wurde insbesondere zu sozialpolitischen Entwicklungen nicht politische Polemik wie saures Aufstoßen abgelassen (wie es allzu oft, ja fast regelmäßig, politische Praxis ist), sondern es wurde der Versuch unternommen, politische, gesellschaftliche und vor allem soziale Missstände unter dem Aspekt strengen – in der Regel philosophischen – Denkens als das zu entlarven, was sie sind: Gefährdungen des sozialen Friedens, mehr noch: als Verstoß gegen die Regeln strengen Denkens. Das hatte für mich immer wieder etwas von intellektueller Unbestechlichkeit. Es wurde nicht polemisiert, sondern mit Gründen gefochten, die sich der Logik verpflichtet fühlten. Und dass oft Logik und Wahrheit gleichgesetzt wurden, ist unter dem Aspekt stringenten Denkens (vielleicht nicht gerade der Literatur) legitim.

Einige, eher willkürlich herausgegriffene Beispiele, die mich nachhaltig beeindruckten. Keineswegs mit dem Anspruch auf Vollständigkeit, eher unter dem Aspekt der Noch-Gegenwärtigkeit:

Der jüngste Aufsatz von Konrad Lotter im Heft 72 zum Beispiel: „Identitätspolitik als Kampf um Anerkennung“: Der nicht arbeitende Herr verliert seine Selbständigkeit und gerät in Abhängigkeit zum Knecht. Eine Feier des „knechtische(n) Bewusstseins“. Was für ein denkerisch-politischer Ansatz!. Wie gründlich Lotter dieser Frage und ihrer Begründung nachgeht! Und wie er um die soziale Anerkennung des Knechtes wirbt. Eindrucksvoll. Die Knechte sind im Kommen!

Oder der von Dirk Siederoth im Heft 75 unternommene, höchst beachtliche Versuch, die Instrumentalisierung des Menschen durch die von ihm selbst geschaffenen Denkstrukturen gleichsam als Verobjektivierung der Person an die Wand zu malen. Die Befunde der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno drängen sich auf (s.a. Roger Behrens´ Aufsatz im Heft 58: „Kritische Theorie der Kulturindustrie heute: Fortzusetzen Jordi Maiso im Gespräch mit Roger Behrens“).

Und wie sprach mir, einem ehemaligen Vors. einer Strafkammer bei hiesigen Landgericht, Alexander v. Pechmann aus der Seele mit seinem Aufsatz: „Fake News und die Wahrheitsfrage“, Heft 69).

Und so weiter. Ach, hätte ich nur die Kraft und die Zeit, noch einmal alles zu lesen. Lassen Sie es genug sein. Ich habe einige neuzeitliche Arbeiten herausgegriffen. Die Fülle an Erkenntnissen und Einsichten aus meiner langen Zeit der Leserschaft darzustellen, würde vielleicht noch einmal ein Heft füllen. Längst bin ich pensioniert und habe mich der Schriftstellerei (zahlreiche Romane) und der Theaterkritik zugewandt. Bereichert nicht zuletzt an Erkenntnissen aus dem „Widerspruch“. Allein der Titel hat inspiriert.

Das nur nebenbei. Eher als Entschuldigung dafür, dass ich jetzt, immer noch anderweitig in Anspruch genommen, das Schwelgen einstellen muss.

Noch einmal: Ich trauere dem höchst verdienstvollen „Heft“ nach. Schwimmen denn wirklich im Alter langsam die „Felle davon“?

Bleibt der Dank an die Verantwortlichen. Es ist ein ganz herzlicher Dank und eine symbolische Umarmung. Sie haben sich um das Denken und den Geist verdient gemacht.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr

H.G. Melchior

Leserbrief 2

Bruno Fey, Dipl-Ing, M.A. (Phil.)

Liebe Widerspruch-Redaktion,

vielen Dank für Ihr Schreiben vom 30.07.2024. Ihrer Frage bzw. Ihrer Bitte komme ich gerne nach.

für mich war der Widerspruch immer eine höchst lesenswerte Lektüre. So manch einen Artikel habe ich mehrfach gelesen und einige Formulierungen Ihrer Autoren habe ich mir teilweise zu eigen gemacht. Es versteht sich daher fast von selbst, dass ich die Hefte sorgfältig archiviert habe.

Insbesondere das Heft 68 zur „Neuen Deutschen Rechte“ fand ich besonders lesenswert. Es lassen sich zahlreiche weitere Hefte anführen, wie „Öffentliche Meinung und die Wahrheit“, oder „Identitätspolitik“, die ich gerne immer wieder zur Hand nehme.

Kritisch möchte ich allerdings anmerken, dass ich die zunehmend verwendete Gendersprache als störend empfunden habe. Ein Einsehen bei den Redakteuren ist nach meiner Erfahrung aber eher nicht zu erwarten.

Ich freue mich nun auf das Web-Portal www.widerspruch.com und versichere Ihnen, weiterhin Ihr treuer und höchstinteressierter Leser zu bleiben.

 Mit freundlichen Grüßen

 Bruno Fey

EDITORIAL

‚Wieder mal eine Zeitschrift von frustrierten Philosophen für frustrierte Philosophen. Wer weiß, wie lange die sich diesmal hält’, werden einige von Euch denken. Auch wir wissen es nicht. Aber eines wissen wir: die bloße Kritik an den Zuständen im herrschenden Lehrbetrieb, die aufkommende Frustration über die Sinnlosigkeit des „Philosophierens“ in den Seminaren genügt nicht als solide Grundlage für die Arbeit an einer Zeitschrift. Blinder Aktionismus nach dem Motto ‚Tu irgendwas, aber tu was’ reicht vielleicht hin, um eine Zeitschrift zu gründen und eine Zeit lang sein Publikum für den eigenen aufgestauten Unmut zu finden; aber diese Unmittelbarkeit des Handelns trägt nicht; sie hat schon den Keim des Untergangs in sich, wie es in der Sprache der Philosophen so anschaulich heißt.

Für eine Zeitschrift – und erst recht für eine alternative zum herrschenden Lehrbetrieb – braucht es ein Programm. Und das haben wir! Ein klares, nachvollziehbares und festumrissenes Programm, das wir Euch vorstellen wollen.

Philosophie – wofür?

Beginnen wir zunächst mit der zweiten Frage, die seit eh und je an die Philosophie gerichtet worden ist. Nicht: „Was ist eigentlich die Philosophie?“ – die spezifische Aneignung der Welt als Totalität –, sondern: „Was soll Philosophie?“ Wozu ist sie eigentlich gut? – Eine berechtigte Frage. Sie ist sogar so berechtigt, dass sie nicht nur immer wieder die Philosophen stellen, sondern alle die arbeitenden Menschen, die wissen wollen, was sich Philosophen da mit ihren Geldern eigentlich alles ausdenken, und was damit anzufangen ist.

Philosophie ist für die Philosophie nicht das Letzte. Sie hat ihren Sinn und Zweck nicht in sich, sondern muß sich in ihrem Tun vor der Gesellschaft verantworten und an deren Bedürfnissen und Interessen orientieren. Wie jede Arbeit, so ist auch die philosophische zugleich gesellschaftliche Arbeit. Im Grunde ein so selbstverständlicher und naheliegender Gedanke, dass er den meisten unserer Philosophen aufs Höchste suspekt ist.

Einiges über das „Münchner Philosophieren“ oder die Selbstgenügsamkeit der Philosophie

Leugnet man diese Erkenntnis, geht man also vom ‚immanenten Zweck’ der Philosophie, von der Philosophie als Selbstzweck, aus, dann befinden wir uns schon auf dem besten Wege, uns der gesellschaftlichen Realität zu entheben und in die lichten Höhen der „Münchner Philosophie“ zu entschweben. Aus der lebendigen Wirklichkeit gelangen wir in das tote Reich der verschiedenen Geister, setzen an die Stelle der realen Auseinandersetzung und des wirklichen Lebens die Stille der geistigen Versenkung in eine längst vergangene Gedankenwelt. Die lebendige Unruhe wird ersetzt durch „eine dem philosophi­schen Geist nicht gerade günstige Bravheit“, wie ein zeitge­nössischer Philosoph die gegenwärtige Situation unserer Philosophie zurecht schildert.

Diese Abstraktion und Trennung der „geistigen Welt“ von der Wirklichkeit aber erzeugt nichts anderes als einen ganz unwirklichen Schein der Selbstgenügsamkeit. An die Stelle wirklicher Befriedigung tritt eine Scheinbefriedigung in der Entrückung und Entzückung an jener geistigen Welt, die nur ein paar weltferne Studenten der Philosophie auf die Dauer in ihren Bann ziehen kann. Aber für die anderen führt diese untragbare Kluft zwischen einer Welt der Unsicherheit, der physischen und psychischen Verarmung, der Arbeitslosigkeit und der Kriegsgefahr einerseits und der heiteren, unbeschwerten, mit sich zufriedenen Gedankenwelt der Philosophen andererseits zu einem Widerspruch, den selbst der Stärkste nicht langer auszuhalten vermag, und der ihn am Sinn der Philosophie zweifeln lässt.

Dieser Widerspruch ist jedoch keineswegs das Problem der Philosophie insgesamt, sondern der “Münchner Philosophie“, insofern sie mit dem Mittel der Abstraktion bewusst oder unbewusst statt zu Erklärung, nur zur Verklärung der gesellschaftlichen Zustände beiträgt.

Zum Verhältnis von Philosophie und Wirklichkeit

Philosophie, die nicht Selbstzweck ist, hatte immer schon ein bewusstes Verhältnis zum gesellschaftlichen Leben, zu den Aktionen, Gedanken und Ideen der Menschen. Wirkliche Philosophie hat nie sich selbst, sondern immer das wirkliche Leben zum Gegenstand.

Nur – wie verhält sie sich zu diesem ihrem Gegenstand? Verhält sie sich zu ihm nur theoretisch oder auch praktisch? Ist die Aufgabe der Philosophie, in einer gleichsam titanischen Anstrengung eine irgendwie aus den Fugen geratene Wirklichkeit im Begriffe, im philosophischen Denken, nochmals zusammenzubringen und sie als letztlich doch vernünftig zu erweisen? Oder ist es ihre Aufgabe, den Menschen Zielvorstellungen zu artikulieren, ihnen Perspektiven zu formulieren und zu begründen, die auf einen gesellschaftlichen Fortschritt hinorientiert?

Nach unserer Auffassung kann sich das philosophische Denken ebensowenig selbst genügen wie es nur ein theoretisches „Auf-den-Begriff-bringen“ ist. Philosophie soll dem gesellschaft­lichen Fortschritt dienen und sie muß dies, wenn sie dem Leben der Menschen überhaupt etwas geben will. Nicht abstrakte Utopien, unwirkliche Wunschvorstellungen von einer anderen, besseren Welt, sondern mögliche und realistische Ziele soll die Philosophie nach unserer Auffassung setzen und begründen.

Wir verwechseln nicht den Missstand und den Stillstand des philosophischen Fachbereichs mit der Wirklichkeit. Wir sehen eine Welt, die auf Veränderung drängt, die unter vielen Qualen und mit großen Mühen Neues hervorbringen will und wird; Aufgabe der Philosophie ist es, dieses „Neue“ zu formulieren und ihm zur Realität zu verhelfen. Die Einheit von Theorie und Praxis, von Philosophie und tätiger Veränderung mag zwar ein theoretisches Problem sein, seine Lösung aber ist allemal eine Sache der Praxis.

Die arbeitenden Menschen in den Betrieben und Büros, im Studium und im Beruf, die oft orientierungslos um ihre Existenz kämpfen müssen, sie haben ein Recht auf eine Philosophie, die ihnen weder erklärt, dass ja letztlich alles seine Ordnung habe, noch weißmachen will, wie sie sich zu verhalten haben und was eigentlich rechtens sei, sondern eine Philosophie, die sich ihrer Interessen annimmt, sie artikuliert, verallgemeinert und bei ihrer Realisierung behilflich ist.

Unsere Zeitschrift – Ein Organ der lebendigen Diskussion …

Unsere Zeitschrift möchte wieder einmal die Wirklichkeit, in der wir leben, wenn wir nicht auf gut münchnerisch philoso­phieren, und die vor den Seminaren halt machen musste, in die Philosophie einbringen. Wir wollen uns nicht weiterhin mit scholastischen Pseudo- und Sekundärproblemen herumschlagen, sondern sie in der Weise aufnehmen und diskutieren, wie sie uns die Wirklichkeit stellt, – und zwar sub specie ihrer Veränderung.

Wir wissen, dass das schwierig und kompliziert ist. Wir wollen keine Popularphilosophie treiben, die jedem nach dem Munde redet; auch keine „politische Philosophie“ im Sinne eines Teilgebiets der Philosophie, sondern eine Philosophie, die sich in ihren innersten Quellen dem historischen und dem sozialen Fortschritt verpflichtet weiß. Wir sehen auch, wie schwer das gegenwärtig ist. Gerade heute, wo ganze philosophische und wissenschaftliche Institute es sich zur Aufgabe gemacht zu haben scheinen, uns zum Verzicht auf Veränderung, auf Fortschritt mit allen nur erdenklichen Mitteln zu bewegen. Aber wir beziehen unser Vertrauen auf eine bessere Zukunft aus den Kräften der Vergangenheit und der Gegenwart, die diese Verzichtserklärungen nicht gemacht haben, die sich dem Fortschritt der Menschheit verpflichtet gefühlt haben und weiterhin fühlen. Wir orientieren uns am Gedankengut vergangener und gegenwärtiger Philosophen, die ihre theoretische Arbeit in den Dienst praktischer Veränderung von Natur und Gesellschaft gestellt haben.

… und ein Gegner von Dogmatismus und Reduktionismus in der Philosophie

Was wir unter allen Umständen vermeiden wollen und vermeiden werden, ist engstirniger Dogmatismus, lebensfernes Sektierertum und unphilosophische Rechthaberei. Wir vertreten keinen Alleinvertretungsanspruch in den Fragen des Fortschritts und der Entwicklung von Menschheit und Gesellschaft.

Die Zeitschrift soll ein Forum der Diskussion, eine Plattform der lebendigen Auseinandersetzung um die wesentlichen Fragen über unsere Gegenwart und um die Perspektiven der Zukunft sein, an der sich jeder Interessierte beteiligen kann und sollte.

Allerdings – sie soll eine philosophische Zeitschrift werden, eine Zeitschrift, die diese Fragen und Probleme unter philosophischen Aspekten und Gesichtspunkten thematisiert und behandelt.

Sicherlich sind auch die Probleme der Wissenschaftstheorie, der Erkenntnistheorie, der Sprache, der Logik und Mathematik, oder der Platon- und Aristoteles-Deutung philosophische Probleme. Aber wir wenden uns gegen die verkürzte Auffassung, Philosophie hätte keine andere Aufgabe, als über die bestehenden Wissenschaften zu reflektieren, oder sei nicht mehr als die Erinnerung und Vergegenwärtigung vergangener Philosophie, und sei darauf zu reduzieren.

Philosophie ist für uns in erster Linie und vor allem die geistige Aneignung der Wirklichkeit als Totalität; nicht lebensferne Abkapselung und weltfremde „Theoretisierei“, sondern die geistige Öffnung zur wirklichen Welt, die Aufnahme und theoretische Verarbeitung ihrer Probleme und die Entwicklung und Begründung von Perspektiven und Zielvorstellungen. Diese Offenheit schließt sowohl Dogmatismus als auch Reduktionismus aus.

Einladung

Wir wollen eine Zeitschrift gestalten, die all dies berücksichtigt, die interessante, diskussionswürdige und perspektivreiche Beiträge veröffentlicht, die wichtige Informationen über das philosophische Geschehen gibt, sich mit der gegenwärtigen Philosophie vor allem in München kritisch auseinandersetzt und – die dazu Eure Unterstützung und Mitarbeit braucht.