Lotter – Realer Humanismus

Konrad Lotter

Realer Humanismus. Eine geschichtliche Betrachtung

Pb., 270 Seiten, 25,- €, Mangroven-Verlag, Kassel 2024

von Reinhard Jellen

Humanistische Gedanken und Überzeugungen stehen gegenwärtig nicht gerade hoch im Kurs. Die Utopie einer Gesellschaft, in der jeder Einzelne „in Gemeinschaft mit Anderen“ die eigenen Anlagen „nach allen Seiten hin ausbilden kann“, so wird eingewandt, habe der Realität nicht standgehalten. Sie sei von der geschichtlichen Entwicklung überholt. Zur Begründung werden dabei vor allem drei Argumente ins Feld geführt. Erstens erfordere die Arbeitsteilung eine zunehmende Spezialisierung und damit eine einseitige Ausbildung der eigenen Fähigkeiten. Wer weiterkommen wolle, brauche keine Bildung, sondern eine solide Ausbildung, die sich an den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts orientiert. Zweitens hätte durch die Konformität des Konsums, der medialen Information oder der Kommunikation eine Nivellierung auch der Menschen stattgefunden. Die Massengesellschaft hätte Massenmenschen hervorgebracht, deren Persönlichkeitsentwicklung außen- und fremdbestimmt sei. Mitunter wird sogar vom „Verschwinden“ des Menschen gesprochen, dessen individuelle Konturen sich auflösten „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“. Drittens habe sich die Technik dem Menschen gegenüber verselbständigt und Macht über ihn gewonnen. Durch die Verschmelzung von Info- und Biotechnologie sowie die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz sei der Mensch zu einem weithin fremdbestimmten und manipulierten Wesen erniedrigt worden. Post- und Transhumanismus haben sich zuletzt die „Überwindung“ des Menschen und die Erzeugung eines „Übermenschen“ zum Ziel gesetzt.

Eine Stärke von Konrad Lotters Buch liegt darin, dass es diese Argumente nicht nur aufgreift und ernstnimmt, sondern auch in ihrer eigenen Dialektik darstellt. Aus den vermeintlichen Grenzen des Humanismus werden auf diese Weise Übergänge zu neuen, erweiterten Formen des Humanismus. Erst die Teilung der Arbeit nämlich offenbart die vielfältigen Potenzen des Menschen und erzeugt die Möglichkeit, sich in verschiedensten Bereichen zu versuchen und ein reiches Leben zu leben. Erst die technischen Fortschritte haben die Entlastung der Menschen ermöglicht, die von der Arbeit freigestellt die Verwirklichung ihrer Anlagen auch „als Selbstzweck“ betreiben können. Und auch die „Masse“ muss nicht nur als Verlust, sondern auch als Vorstufe einer (neuen) Humanität begriffen werden, in der die Menschen solidarisch ihre gemeinsamen Interessen durchsetzen können.

Eine andere Stärke des Buches liegt in seinen klaren Begriffen und Aussagen. Im Fortschritt des klassischen Humanismus zur Zeit der Renaissance und der Goethezeit zum realen Humanismus, den Marx in Auseinandersetzung mit Hegel, den Junghegelianern und Feuerbach entwickelt, so wird gezeigt, vollzieht sich ein mehrfacher Wechsel der Perspektive. Aus der Kritik an der Religion wird die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Nicht mehr an der idealisierten Antike orientiert sich der reale Humanismus, sondern an den geschichtlichen Möglichkeiten, die sich durch den Grad der Naturbeherrschung und den gesellschaftlichen Reichtum eröffnen. Aus der Bildung einzelner Individuen, einer Elite von Humanisten jenseits der „Masse“, entsteht die Forderung nach menschlichen Institutionen, die nicht nur allen Menschen die gleichen Chancen einräumen, sondern auch Frieden mit der Natur geschlossen haben. Was den realen Humanismus zuletzt von den früheren Formen des Humanismus unterscheidet, ist seine praktische Ausrichtung: dem „kategorischen Imperativ“, alle Verhältnisse zu beseitigen, die die Menschen fremdbestimmen und ihre menschliche Würde verletzen.

Etwas abschreckend an Lotters Buch könnten die vielen Bezüge auf philosophische, soziologische, ökonomische und psychologische Werke sein, auf die sich seine Argumentationen stützen. Wer sich von diesem par force-Ritt durch die Geistesgeschichte nicht einschüchtern lässt und sich darauf einlässt, wird das Buch mit Gewinn studieren.

Eilenberger – Geister der Gegenwart

­Wolfram Eilenberger

Geister der Gegenwart. Die letzten Jahre der Philosophie und der Beginn einer neuen Aufklärung

geb., 492 Seiten, 28.- €, Klett-Cotta, Stuttgart 2024

von Konrad Lotter

Unter dem Titel Geister der Gegenwart präsentiert Wolfram Eilenberger eine weitere Philosophiegeschichte der besonderen Art. Zum einen beginnt seine Erzählung 1948, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und endet bereits im Jahr 1984, umfasst also noch nicht einmal die Epoche der Nachkriegszeit, die erst 1989 endet. Die gewählte Zeitspanne wird (nicht ganz einsichtig) durch die Rückkehr Adornos aus dem kalifornischen Exil nach Frankfurt einerseits und den Tod Foucaults andererseits begrenzt. Zudem gehört die Epoche, die als „Gegenwart“ vorgestellt wird, schon seit über 40 Jahren der Vergangenheit an, auch wenn diese „Geister“ in der Gegenwart immer noch herumspuken und die Sekundärliteratur bevölkern. Zum anderen werden die genannten 36 Jahre nicht linear, als Kontinuum erzählt, sondern in der Abfolge von vier Sprüngen und den Stationen oder „Zuständen“ in den Jahren 1948/50, 1957/58, 1968/69 und 1984. Schließlich konzentriert sich Eilenberger, wie schon in seinen Büchern Zeit der Zauberer (mit Heidegger, Cassirer, Benjamin und Wittgenstein) und Feuer der Freiheit (mit Simone de Beauvoir, Hannah Arendt, Simone Weil und Ayn Rand) auf vier „Leitgestalten“, die zwar in ihrem theoretischen Umfeld, aber doch wesentlich als Individuen gewürdigt werden: Theodor W. Adorno, Michel Foucault, Susan Sontag und Paul Feyerabend. Obwohl sie nicht der gleichen Generation angehören, in keiner persönlichen Beziehung zueinanderstehen und auch in ihren Theorien und in ihrem Leben ganz verschiedene Wege eingeschlagen haben, stellt sie Eilenberger als „beispielhafte Verkörperungen eines Lebens im Sinne der Aufklärung“ vor: als die wahren Nachfolger von Kant und seiner Aufklärungsschrift.

Als Adorno nach Frankfurt zurückkehrt, ist zumindest eines seiner Hauptwerke bereits veröffentlicht. In der mit Horkheimer gemeinsam verfassten Dialektik der Aufklärung hat er sich von Marxʼ politischer Ökonomie, die die Grundlage der Kritischen Theorie der Vorkriegszeit gewesen war, verabschiedet. Ähnliche Abgrenzungen werden von Eilenberger auch bei den anderen „Leitgestalten“ angedeutet, die zur selben Zeit noch Studenten waren. Foucault folgt weder seinem marxistisch orientierten Freund Louis Althusser noch Jean-Paul Sartre, der gerade dabei ist, seinen Existentialismus als „Moment“ in die Marxsche Gesellschaftstheorie aufzuheben. Feyerabend schließt sich während der Alpbacher „Hochschulwochen“ an Karl Popper und Friedrich August von Hayek an, die das Projekt einer „offenen Gesellschaft“ auf der Grundlage einer neoliberalen Wirtschaftspolitik verfolgen und sich von den sozialistischen und austro-marxistischen Mitgliedern des „Wiener Kreises“ (Neurath, Carnap) losgesagt haben. Eilenberger nennt zwar die Fakten, stellt aber keine Verbindung zur Ideologie des Kalten Krieges her, der sich die Philosophen gleichermaßen unterordneten und den Marxismus mehr oder weniger mit der stalinistischen Realität des Ostblocks gleichsetzten. Eine Ausnahme bildet Susan Sontag, die 1933 geboren, in den Nachkriegszeiten noch kaum 20 Jahre alt, mit der Entdeckung ihrer Bi-Sexualität beschäftigt ist und sich mit Freuds Psychoanalyse und mit moderner Literatur (Th. Mann, Rilke, Brecht u.a.) auseinandersetzt.

1957/58 werden als die Jahre behandelt, in denen die vier „Leitgestalten“ zu sich selbst und ihrer Philosophie finden. Nur Adorno hat bereits eine feste Stellung innerhalb der Universität, leitet das Institut für Sozialforschung und arbeitet an seiner Negativen Dialektik und seiner Ästhetik. Foucault steht als Leiter des französischen Kulturinstituts in Upsala noch außerhalb der universitären Institution. Dort entdeckt er den „Wahnsinn“ bzw. die „Vernunft“ (als fortschreitenden Ausschluss des Wahnsinns, der selbst in eine Form des Wahnsinns umschlägt) als sein Thema. Feyerabend arbeitet noch als Lektor für Wissenschaftstheorie, Susan Sontag als Redakteurin beim jüdischen Kulturmagazin Commentary und der Partisan Review. Als Stipendiatin studiert sie an der Universität in Oxford. In zunehmender Weise gerät das Denken derer, die Eilenberger als „neue Aufklärung“ behandelt, in diesen Jahren unter den Einfluss von Wittgenstein und der englischen Sprachphilosophie (Gilbert Ryle, John Austin, Nelson Goodman) einerseits, von Nietzsche und Heidegger andererseits.

Weshalb gerade Susan Sontag zu den vier größten „Geistern der Gegenwart“ gerechnet wird, ist nicht recht einzusehen. Sie schreibt Romane und Kurzgeschichten, dreht späterhin Filme und dokumentiert ihre Reisen nach Nordvietnam oder Kuba. Größeres Aufsehen erregt sie mit ihren Essays wie etwa Against Interpretation oder Notes on Camp, in denen sie sich für eine Aufwertung der sinnlichen (Kunst-)Erfahrung stark macht und mit ihrem Eintreten für „Trash“ die Grenze zwischen Hoch- und Popkultur einreißt. Sie entwickelt sich zu einer umtriebigen und glamourösen „öffentlichen Intellektuellen“, deren Werk aber doch weit hinter dem umfassenden und weitverzweigten Œuvre von Adorno oder Foucault zurücksteht. Auch hinter dem Werk von Ernst Bloch und Georg Lukács, die in der behandelten Zeitspanne von 1948 bis 1984 im philosophischen Diskurs ganz oben stehen, von Eilenberger aber nur an Rande erwähnt bzw. überhaupt nicht genannt werden. Sie zählen für ihn nicht zum Kreis der „neuen Aufklärer“.

Der größte Teil des Buches ist den Jahren 1968/69 gewidmet, in denen die Philosophie vor ihrem „Praxis“-Test steht und sich zum Teil radikalisiert. Detailliert berichtet Eilenberger über die politischen Aktionen der rebellierenden Studenten und die verschiedenartigen Reaktionen ihrer Professoren. Adorno ruft nach der Besetzung des soziologischen Instituts die Polizei. Nach der „Sprengung“ seiner Lehrveranstaltung und dem „Busenattentat“ bricht er seine Vorlesungen ab. Foucault, der zuerst als „Gaullist“ verschrieen und angefeindet wird, solidarisiert sich mit den Studenten und wirft am Ende Fernsehgeräte vom Dach der Universität von Vincennes auf die anrückende Polizei. Feyerabend, der zwischen Berkeley und Berlin pendelt und Vorlesungen abhält, radikalisiert sich, sympathisiert mit Cohn-Bendit und vermittelt dem aus dem Frankfurter Institut geworfenen Hans-Jürgen Krahl an der TU in Berlin eine Stelle. Theoretisch entfernt er sich immer weiter von Popper, entdeckt (horribile dictu für einen analytischen Philosophen) Hegel und entwickelt seine anarchistische Erkenntnistheorie, die er später in seinem Buch Wider den Methodenzwang unter dem Motto „anything goes“ veröffentlicht. Susan Sontag, die dem universitären Leben trotz verschiedener Stipendien fernesteht, prangert die brutalen Kriegseinsätze der USA in Vietnam an und verteidigt die Interessen des vietnamesischen und kubanischen Volks. Bezeichnend für Eilenbergers Buch ist, dass er den Schwerpunkt auf die politischen Ereignisse von 1968/69 legt. Kaum ein Wort verliert er dagegen über die breite Rezeption der Marxschen Theorie, die in diesen Jahren einsetzt, viele Diskussionen dominiert und ihre Kritik nicht zuletzt auch gegen die „Leitfiguren“ richtet.

Zwischen 1970 und 1984 erscheinen die vielleicht wichtigsten Werke von Foucault (Archäologie des Wissens, Sexualität und Wahrheit, Überwachen und Strafen) und Feyerabend (neben Wider den Methodenzwang auch Erkenntnis für freie Menschen), allerdings auch von Jürgen Habermas (Theorie des kommunikativen Handelns), der der gleichen Generation wie Foucault und Feyerabend angehört. Während der Zeit der Studentenrebellion hatte er eine wichtige Rolle gespielt, nach dem Tod von Adorno die Leitung des soziologischen Instituts in Frankfurt und 1971, zusammen mit C.F.von Weizsäcker, das Starnberger Max-Planck-Institut übernommen. Von Seiten Eilenbergers wird ihm aber offenbar nicht der gleiche Rang wie den großen Vier zugestanden.

Über viele Seiten hinweg ist Eilenbergers Buch nicht nur informativ, sondern auch unterhaltsam. Es berichtet über theoretische und politische Positionen, aber auch über eine Menge Persönliches und Intimes: über Freund- und Feindschaften, Ehebrüche und Scheidungen, Selbstmordversuche und sexuelle Präferenzen. Neben theoretischen Werken wird nicht selten aus der Schlüssellochperspektive aus persönlichen Briefen oder Tagebüchern zitiert. Gut zu lesen ist das Buch auch wegen seiner straffen Gliederung, seinen kurzen Abschnitten und bezeichnenden Überschriften. Am Ende fragt man sich allerdings, ob Eilenberger und die von ihm präparierten „Leitgestalten“ Kategorien zur Verfügung stellen und Einsichten vermitteln, die es erlauben, die Welt von heute mit ihren ökonomischen und ökologischen, politischen und sozialen Problemen und Konflikten angemessen zu begreifen.

Robeyens – Limitarismus

Ingrid Robeyens

Limitarismus. Warum Reichtum begrenzt werden muss

geb., 377 Seiten., 26,- €, S. Fischer-Verlag, Frankfurt/Main 2024

von Fritz Reheis

Auf einem endlichen Planeten kann es kein unendliches Wachstum geben. Diese Binsenweisheit wird meist auf physische Objekte oder auch auf die Realwirtschaft insgesamt bezogen. Seit einiger Zeit taucht dieser Gedanke jedoch auch im Rahmen eines mathematisch-physikalischen Ansatzes zum Verständnis von Nachhaltigkeit auf. Gemäß der Faltungstheorie von Anders Levermann vom Potsdam Institut für Klimaforschung stoße Wachstum ohne Richtungswechsel notwendigerweise an Grenzen, müssten quantitative Veränderungen notwendigerweise in qualitative münden, die den Grad der Komplexität erhöhen, wenn der Anspruch der Nachhaltigkeit erfüllt werden soll. Ohne auf Levermann Bezug zu nehmen, greift nun auch Ingrid Robeyens, Professorin für Ethik an der Universität Utrecht, diesen Gedanken in Bezug auf das Vermögen einzelner Personen auf. Sie nennt das Prinzip „Limitarismus“.

Um die Dimensionen der sozialen Ungleichheit vor Augen zu führen, beginnt Robeyens mit einem Gedankenexperiment. Wie hoch, so fragt sie, müsste der Stundenlohn des reichsten Menschen im Vereinigten Königreich sein, damit er am Ende eines 45 Jahre währenden Arbeitslebens ein Vermögen von 23 Milliarden Pfund angesammelt hat. Die Antwort: 196.581 Pfund pro Stunde, ein Stundensatz, der ausreichen würde, um sich jeden Tag eine Drei-Zimmer-Wohnung mitten in London zu kaufen (9). Robeyens erinnert mit spürbarer Sympathie an die Occupy-Bewegung 2011 und deren Parole „Wir sind die 99 Prozent“, die der Welt bewusst machen wollte, dass es das übrige „eine Prozent“ sei, das fast all die Probleme bereitet, mit denen wir heute konfrontiert sind. Robeyens berichtet über die Reaktionen einiger ihrer Professorenkollegen aus Philosophie, Ökonomie und verwandten Disziplinen, die sich anfangs amüsierten, als sie von ihrem Forschungsvorhaben erfuhren; einige hätten ihr gar Neid auf die Reichen als Motiv unterstellt. Tatsächlich sei das Buch das Resultat einer im Laufe eines zehnjährigen Projekts herangereiften Überzeugung, „dass wir eine Welt schaffen müssen, in der niemand superreich ist – dass es eine Obergrenze des Reichtums geben muss, den eine Einzelperson haben darf“ (14). Der von ihr geprägte Begriff des Limitarismus verstehe sich als „regulatives Ideal“.

In ihrer Einleitung listet Robeyens die gängigen Einwände gegen eine solche Begrenzung von hohen Vermögen auf und versucht, sie zu entkräften. Das erste Kapitel fragt anschließend: „Wie viel ist zu viel?“ Die Antwort unterscheidet eine politische und eine ethische Obergrenze. Politisch solle das Vermögen einer Person bei „etwa“ zehn Millionen abgeriegelt werden. Ethisch schlägt sie eine Grenze von „etwa“ einer Million vor. Mit dem Wörtchen „etwa“ will sie sagen, dass diese Grenzen für Pfund, Euro und Dollar gleichermaßen gelten könnten.

Die Folgekapitel legen die Gründe für die Notwendigkeit des Limitarismus dar. Die Überschriften lauten: „Extremer Reichtum hält die Armen in Armut, während die Ungleichheit wächst.“ „Extremer Reichtum stammt aus schmutzigem Geld.“ „Extremer Reichtum untergräbt die Demokratie.“ „Extremer Reichtum steckt die Welt in Brand.“ „Niemand verdient es, Multimillionär zu sein.“ „Mit dem Geld lässt sich so viel machen.“ „Philanthropie ist nicht die Lösung.“ Und: „Auch die Reichen werden profitieren.“

Das Schlusskapitel thematisiert Strategien der Umsetzung des limitaristischen Ideals: den Ausbau der sozialen Infrastruktur, fiskalische Maßnahmen, einen fundamentalen Umbau der Wirtschaftsordnung, eine neue Ausbalancierung von Markt und Staat und ethisches Handeln. Anschließend geht es um Wege der Vermögensbegrenzung. Die Stichworte lauten: Demontage der neoliberalen Ideologie („der Kern des Problems“), Reduktion der sozialen Spaltung, Sorge für ein wirtschaftliches Machtgleichgewicht, Wiederherstellung der fiskalischen Handlungsfähigkeit des Staates, Konfiszierung schmutzigen Geldes einschließlich der Entschädigung der Opfer, Umbau der internationalen Wirtschaftsarchitektur mit dem Ziel der Herstellung von globaler Gerechtigkeit, Begrenzung der Managergehälter und fundamentale Veränderung des Erbschaftsrechts. „Letztlich ist die wichtigste Veränderung“, so die Autorin, „dass wir die Mantras ‚Gier ist gut’ und ‚Der Himmel ist die Grenze’ aufgeben“ (319).

Auch wenn die vorgeschlagenen Vermögensgrenzen ziemlich willkürlich wirken, die politökonomische und die ethische Argumentation relativ unverbunden bleiben, eine fundierte politökonomische Analyse fehlt und die eigentlich naheliegende Anbindung des Limitarismus an die Nachhaltigkeitsdiskussion nur ansatzweise erfolgt, handelt es sich um ein wichtiges Buch, dem eine weite Verbreitung zu wünschen ist.

Fleury – Hier liegt Bitterkeit begraben

Cynthia Fleury
Hier liegt Bitterkeit begraben
Über Ressentiments und ihre Heilung
geb, 316 Seiten., 28,– €, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2023

von Ottmar Mareis

Das Problem des RechtspopuIismus grassiert heute in ganz Europa. Die französische Philosophin und Psychoanalytikerin Cynthia Fleury widmet sich in ihrem Buch dem ihm zugrundeliegenden Ressentiment. Im ersten Teil beschreibt sie das Bittere als das, was der Mensch des Ressentiments erlebt. Um sich diesem Thema zu nähern, stellt sie der Reihe nach die bekannten Philosophen und Psychoanalytiker vor, die sich mit dem Ressentiment auseinandergesetzt haben.
Den Auftakt bildet Max Scheler. 1912 veröffentlichte er einen Essay, in dem er bei den Ressentimentgeladenen ein „wiederholtes Durch- und Nachleben einer bestimmten emotionalen Antwortreaktion gegen einen anderen“ beobachtet, „durch die jene Emotion eine gesteigerte Vertiefung und Einsenkung in das Zentrum der Persönlichkeit erhält.“ Für Fleury wird die Verstärkung des permanenten „Durchkauens und Wiederkäuens mit der charakteristischen Bitterkeit einer vom Kauen ausgelutschten Speise“ zentral für ihre Analyse. Die ersten Reaktionen des Ressentiments könnten noch auf konkreten Erfahrungen des “Haters“ beruhen, denen er als Kind oder Jugendliche/r nicht adäquat antworten konnte. Doch mit zunehmender Erfahrung seiner Ohnmacht gegen unüberwindliche gesellschaftliche Autoritäten wandelt sich die Bitterkeit zu jenem gefährlichen universellen Ressentiment, das heute wieder die westlichen Demokratien bedroht.
Das Ressentiment breitet sich im Volk aus, beide werden letztlich von ihm komplett besessen und geleitet. Es ist die andere Seite der Ohnmacht, die den Hater seine Handlungsfähigkeit und Kreativität einbüßen lässt. Er wird immer träger und verliert sein Differenzierungsvermögen, indem er auf ein primitives Reiz-Reaktionsschema regrediert, während sein Groll anwächst. Grollen und Donnern zeichnen die Gesellschaften aus, in denen die Hater reüssieren.
Anschließend stellt Fleury Nietzsches Schriften in seiner Phase der Aufklärung ausführlich vor. Sie erwähnt zwar, dass er auch der Philosoph der europäischen Rechten ist. Aber interessanterweise liest, versteht und verteidigt sie ihn fast vollends als Aufklärer. Der Ressentimentbesessene sei Träger der Sklavenmoral. Nietzsche spricht von den Missratenen, Kranken, Schwachsinnigen, Mittelmäßigen: „Seine Seele schielt, sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hintertüren, alles Versteckte muthet ihn als seine Welt, seine Sicherheit, sein Labsal; er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demüthigen.“ Sie werden zur Herde, die dem Herdentrieb verfällt, indem sie ihre Beschränkungen und ihre Ressentiments zur Norm erheben. Bemerkenswert ist, dass Nietzsche die Missratenen auch als Labile darstellt, die Kränkungen nicht verarbeiten können. Darauf postuliert er, dass sie generell Verdauungsstörungen haben. Sie können nicht richtig oder gar nicht verdauen; sie sind diejenigen, die einen üblen Geruch verbreiten. Gleichzeitig will der Ressentimentbesessene das Fieber seiner Verbitterung ständig nach- oder wiedererleben und die “Magie“ des großen Führers, der seine Rache vollstreckt, indem er ihn in Kriegen verheizt.
Gegen ihn setze Nietzsche den Edlen und dessen Herrenmoral, die von Großzügigkeit bestimmt sei. Jedoch befremdet, dass Fleury die dunkle Triade der Herrenmoral, die Macht zu unterdrücken, auszubeuten und zu versklaven verschweigt. Denn es würde ihr sympathisierendes Leseschema brechen. Den Edlen zeichne ihrer Meinung nach vor allen anderen aus, dass er nicht längst vergangene, oft imaginäre Beleidigungen wiederkäut, die ihn ständig im Zustand des Grolls, der Missgunst und der Rancune gefangen halten. Stattdessen praktiziere er das freiwillige, resiliente, große Vergessen. Es ist ein wesentlicher Zug seiner Mahatma. Deshalb kann seine große Seele stets aufs Neue den Anderen völlig unvoreingenommen offen begegnen. Ihn umgibt die Aura der grandiosen Positivität, die flirrende Offenheit gegenüber der Welt. Um diese Aura zu erläutern, schließt Fleury Rilkes Gedichte über das Offene an. Sie spricht begeistert von Nietzsche, Mallarmé und Rilke, gleichfalls von einer Reihe von Dichtern wie Hölderlin u. a., die das Offene im Bund mit der Großzügigkeit thematisierten. Daran knüpft sie ihre Erfahrungen mit der Heilkunst in Psychoanalysen. Es zeugt vom Gelingen, wenn ein Klient nach langer Therapie reflexiv wahrnehmen respektive verdauen gelernt hat. Ob es ihm gelingt, in der Therapie, in der er sich lange als krasses Opfer präsentierte, die Erfahrung zu machen, sich von seinem selbstquälerischen, destruktiven, narzisstischen Opfertum zu lösen und sich davon zu befreien, nicht mehr dieses Opfer sein zu müssen. Nur wenn er diese Stufe erreicht, könne er wieder handlungsfähig und offen für die Welt werden.
Leider wird zu wenig thematisiert, welche sozialisatorische Bedingungen vonnöten sind, um solch große Seelen, Edelmütige und Offene hervorzubringen. Nur vereinzelt erwähnt sie, dass diese Aufgabe Schulen und Bildungsanstalten zukomme. Fleury liefert zwar eine stupende Analyse des Ressentiments; aber der nächste Schritt wäre definitiv, ein Buch über die Bedingungen und Methoden einer solchen Erziehung zur Offenheit zu schreiben. Hier würden sich wohl die Schwierigkeiten in den heutigen unterfinanzierten, selektiven, darwinistischen deutschen Schulen und im Bildungssystem in extenso offenbaren. Die Mahatma-Pädagogik ist, wenn überhaupt, wenigen teuren Elite-Internaten vorbehalten.
Ein weiteres Kapitel widmet Fleury Adorno und Wilhelm Reich. Hier führt sie hauptsächlich die Minima Moralia und die Negative Dialektik an, von Reich die Schriften zur Massenpsychologie des Faschismus und zu seinen Charakteranalysen der undurchdringlichen, verhärteten Charakterpanzer. Diese Analysen sind nicht nur dadurch, dass sie ihnen Referenz und Anerkennung zollt, aktueller denn je, obwohl sie lange aus dem Spektrum der politischen Kulturkritik verdrängt waren. Wenn man sich von Fleurys poetischem französischen Duktus nicht blenden lässt, der auf der Schwelle zur Trance balanciert, fällt im Gegensatz zu den anderen Kapiteln auf, dass sie hier keine eigene, geschweige denn neuartige Interpretation vornimmt. Vermutlich weil sie gegen diese Schriften kaum bestehen könnte.
In dem letzten, umfangreichsten Teil des Buches wendet sie sich Frantz Fanon zu. Fanon war ein maßgeblicher psychoanalytischer Psychiater und Theoretiker der Postcolonial Studies. Mit „die Verdammten dieser Erde“, und „Schwarze Haut, weiße Masken“ trug er wesentlich zur Analyse des Verhältnisses von Kolonisatoren und Kolonisierten bei. Fleury referiert diese Schriften nicht nur, sondern erklärt und interpretiert wichtige Passagen gründlich. Fanon habe ausführlich dargestellt, dass die Kolonisatoren sowohl die Kultur als auch die Singularität der Kolonisierten ausradierten, indem sie Jahrhunderte auf einen krassen, gewalttätigen Rassismus setzten. Nach dieser langen, brutalen kolonialen Ausbeutung analysierte Fanon minutiös, wie sich diese Gewalt der physischen und kulturellen Auslöschung in der Psyche der überlebenden Indigenen spiegelt. Ihr Schicksal bestehe in einer ebenso großen Verbitterung wie Ressentiment gegenüber sich selbst, ihrer eigenen Kultur und der Welt, solange sie sich nicht in großen Befreiungsbewegungen durch resiliente, nachhaltige (Guerilla-) Kämpfe davon befreien. Der Befreiungskampf, so Fanon, ist dann aber nicht das Ende; denn in postkolonialen Zeiten werde der Rassismus latent und weniger offensichtlich. Es bedarf daher größerer intellektueller Anstrengung zu seiner Entlarvung. Fanon postuliert, dass die emanzipatorische Arbeit des Psychiaters nun erst beginne oder weiterzuführen sei, besonders wenn der Kampf erfolgreich war.
Fleury bespricht weiter Fanons einflussreichste sozial- und ethnopsychiatrische Studien. Sie hebt hervor, dass Fanon vollends bewusst war, mehr noch, herausarbeitete, was es heißt, ein/e Arzt:in respektive Psychiater:in zu sein, der/die in einem kolonialen staatlichen oder konfessionellen Krankenhaus des globalen Südens arbeitet. Die weiße Schulmedizin sei besonders dort ein Medium sowohl der Unterdrückung als auch der Unterwerfung, auch wenn der Arzt jetzt öfter eine PoC ist. Fanon analysierte zudem scharfsinnig, was es bedeutet, als weißer oder PoC-Arzt zu praktizieren. Fleury verstärkt Fanons Fokus auf eine umfangreiche Sozialtherapie, in der es immer auch auf die Institution ankommt, in der er oder sie arbeitet. Es mache keinen Sinn, nur individuell zu therapieren. Man sollte als Arzt:in die Institution und letztlich die postkoloniale Gesellschaft im selben Maße behandeln, mehr noch, erziehen. Das große Wagnis bestehe darin zu versuchen, die Institution von einem Instrument der Unterwerfung in eines der Öffnung zur Bevölkerung und ihren Bedürfnissen hin zu verwandeln. Fleury spricht oft von der Fanonschen Deklosion, der Öffnung der Institutionen. Sie würdigt seinen großen Einfluss, den er auf die 68/70er Jahre, vor allem auf Basaglia, Laing, Foucault und viele PoC-Psychiater:innen hatte. Zudem weist sie darauf hin, dass Fanon nicht der Meinung war, wie heutige postkoloniale Aktivist:innen, auf seinem Schwarzsein bestehen zu müssen.
Es käme zuerst sowohl bei Weißen als auch bei PoC auf den Prozess der Entpersönlichung an, was Fleury an Mallarmé und anderen Dichtern illustriert. Dieser Prozess befördere die Reflexion. Erst nach der reflexiven Entpersönlichung, dh. der Abweisung aller zugeschriebenen Rollen, könne wieder auf die Singularität des Individuums geblickt werden wie auf seine spezifische Individuation. Die persönlichen Gegenstände, auf die Psychiatrisierte teils vehement beharren, wie (Ehe-)Ringe, Schmuck oder Haarspangen seien als ein bedeutendes Element in der Behandlung zu betrachten. Nur singuläre, personale Sichtweisen auf die Klienten könnten der Entmenschlichung respektive Dehumanisierung entgegenwirken, die bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts in den Psychiatrien herrschten. Fleury betont zum Schluss, nicht bei der therapeutischen Singularität der Psychiatrisierten respektive der Hater stehen zu bleiben. Die Demokratie und ihre Institutionen müssten dahingehend wirken, dass sie die ressentimentbessesenen „Ich-verengten“ zur „Ich-Erweiterung“ anregen. Hier zeigt sich ihr therapeutischer Idealismus, der den Ton ihres Buchs bestimmt, am deutlichsten; denn kaum einer von ihnen wird sich einer Psychoanalyse unterziehen. Auch tragen die heutigen starren Institutionen mehr zur Ressentimentproduktion bei als sie aufzuheben. Außerdem war Freud klar, dass der Mensch aus so krummen Holz geschnitzt ist, dass man beim Erziehen, Regieren und Therapieren meist mit mangelndem Erfolg zu rechnen hat.
Dennoch schleudert Fleury ihr Buch als einen intellektuellen Molotow Cocktail aufklärerisch gegen den Trend des Rechtspopulismus in Europa. Das Buch verdient breite Rezeption. Vermutlich kann es jedoch die von ihm Adressierten nur als originaler treffen. Ce la vie.

Beckert – Verkaufte Zukunft

Jens Beckert

Verkaufte Zukunft

Warum der Kampf gegen den Klimawandel zu scheitern droht

geb., 238 Seiten, 28,– €, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024

von Frank Beiler

Das Cover von Jens Beckerts Buch ist eine Adaption des „This is fine“-Memes aus dem Jahr 2016. Es sitzt jedoch kein lächelnder Comic Hund in einem brennenden Haus, der sich selig selbst versichert, dass alles in bester Ordnung sei, sondern man erkennt ein Paar mittleren Alters auf einer Couchgarnitur in einem Wohnzimmer, das sich einem entspannten Alltag widmet, während vor dem Wohnzimmerfenster ein Erdglobus in Flammen steht.

Das Cover steht in einer gewissen Spannung zu dem sachlichen, nachdenklichen Realismus, der das gesamte Buch prägt. Die grundlegende These ist, dass die Macht- und Anreizstrukturen der kapitalistischen Moderne und ihre Steuerungsmechanismen Lösungen zu den globalen Problemen des Klimawandels blockieren. Dies wird in neun Kapiteln in erster Linie empirisch mit dem Verweis auf zahlreiche Beispiele belegt. Gestützt werden die Verweise durch ein einfaches analytisches Modell, das die Wirkmacht des Geflechts aus Macht- und Anreizstrukturen zwischen Wirtschaft, Staat und Bevölkerung veranschaulicht.

Der Staat liefert beispielsweise den regulatorischen Rahmen für die Wirtschaft und kann im Gegenzug mit Steuereinnahmen rechnen. Die Unternehmen verfügen über eine enorme Handlungsmacht, die sich durch den Lobbyismus und die globale Reichweite des Wirtschaftssystems abzeichnet. Politische Entscheidung können dadurch aktiv beeinflusst werden, während Staat und Bevölkerung strukturell auf wirtschaftliches Wachstum angewiesen sind.

Da die Verflochtenheit der unterschiedlichen Handlungslogiken allein nicht ausreicht, um klären zu können, wie ein derartiges Versagen im Kampf gegen die Klimakrise auf allen Ebenen fortbesteht, ergänzt Beckert skizzenhaft drei kulturelle Transformationen: eine neue Definition des Verhältnisses von Mensch und Natur in der kapitalistischen Moderne, die Idee des Fortschritts und der fortwährenden Wohlstandssteigerung und eine Durchsetzung einer Moral des Individualismus.

In den Kapitel drei bis sechs führt Beckert für Wirtschaft, Staat und Konsumenten anschaulich aus, wie die verhängnisvollen Verflechtungen zum Scheitern im Kampf gegen die Klimakrise führen. Wenn es um das zögerliche Handeln des Staates in Sachen Klimaschutz geht, dann greift Beckert auch auf Probleme jenseits der Einflussnahme von Unternehmen zurück und führt aus, wie der langfristige Nutzen der Klimainvestitionen für die Bürger unerfahrbar bleibt und zudem einkommensschwächere Haushalte überproportional belastet. Er spricht im Folgekapitel die Ausbeutung des globalen Südens und die Fortschritts- und Zukunftsversprechen der Wirtschaft an. Auch koloniale Muster und deren Folgen der Naturzerstörung werden hier erkennbar. Eine grundlegende Umgestaltung des globalen Wirtschaftssystems ist zwar unumgänglich – so die Schlussfolgerung – wird allerdings aufgrund der angeführten Verflochtenheit der Handlungslogiken nicht eingeleitet. Die Verflochtenheit zeigt sich auch an dem Anteil des Privatkonsums an der Wirtschaftskraft, der in Deutschland etwas mehr als die Hälfte der Wirtschaftsleistung ausmacht und in den USA über zwei Drittel. Das wiederum führt zu einer Verantwortungsverlagerung auf individuelle Konsumententscheidungen, die – eingebettet in eine politische Ökonomie des Wachstums – kaum zu einer Lösung des Klimaproblems beitragen können.

Die Klimakrise wird sich weiter zuspitzen und massive wirtschaftliche, politische und soziale Verwerfungen mit sich bringen. Der zivilisatorischen Zusammenbruch, für den beispielsweise Rupert Read und Samuel Alexander in Diese Zivilisation ist gescheitert (Meiner, 2020) argumentieren, sieht Beckert dennoch nicht kommen. Viel Leid, extreme Ungleichheit und eine insgesamt ärmere Welt werden die Folge des kapitalistischen Systems sein, für das – aller Widersprüche zum Trotz – kein Ende in Sicht ist, denn die Klimakrise ist für Beckert keine Wirtschaftskrise. Neue Geschäftsmöglichkeiten lassen sich zynischerweise auch unter diesen Bedingungen finden.

Eine Kehrtwende, d.i. eine schnelle Reduzierung der verschiedenen Ressourcenbelastungen unter die planetaren Grenzen, ist unter den gegebenen Bedingungen des Wachstumsimperativs der Wirtschaft kaum möglich. Dem grünen Wachstum gegenüber zeigt sich Beckert nachvollziehbar skeptisch. Geoengineering-Maßnahmen sind mit einem schier unumstößlichen Optimismus verbunden. So ist beispielsweise die CO2-Entnahme in den 2-Grad-Szenarien des UNO-Klimarates bereits fest einberechnet, obwohl es an konkreten Umsetzungsplänen für eine globale Entnahme fehlt und die bisherigen Entwicklungen nicht darauf hindeuten, dass sich daran etwas ändern würde.

Beckerts Arbeit entfaltet ihre Stärken in der sachlichen und schlüssigen Schilderung der gesellschaftlichen Problemlage zur Klimakrise und bietet einen Einblick in die systemischen Barrieren an, die nachhaltiges Handeln so erschweren. Es wird schonungslos herausgearbeitet, warum der Klimawandel ein „tückisches“ Problem ist.

Wer bereits mit den einschlägigen Arbeiten dieses Diskurses, auf die Beckert fundiert zurückgreift, vertraut ist, könnte enttäuscht sein, hier nicht viel Neues vorzufinden. Die theoretische Analyse zentraler Begriffe (Kapitalismus, Macht, Konsum) verbleibt recht oberflächlich, was zu einer Vereinfachung komplexer Zusammenhänge und folglich auch zu wenig konkreten Lösungsansätzen führt. Das Buch ist dennoch als ein Einstieg in die Problemlage zu empfehlen.

Schubert – Lob der Identitätspolitik

Karsten Schubert

Lob der Identitätspolitik

br., 223 Seiten, 20,– €, C. H. Beck Verlag, München 2024

von Paul Stephan

Die Debatte um „Identitätspolitik“ hat derzeit keine so starke Konjunktur wie noch vor einigen Jahren. Die wesentlichen Argumente, so der Eindruck, liegen auf dem Tisch und die gesellschaftliche Debatte widmet sich verstärkt womöglich drängenderen Fragen. Der entscheidende Wendepunkt war wohl die Corona-Krise, gefolgt vom Ukraine-Krieg. Freilich dürfte es sich dabei nur um einen vorübergehenden Waffenstillstand, nicht um ein Ende des Konflikts handeln; denn zu den Themen dieser Debatte wurde mitnichten ein breiter Konsens gefunden – sie werden uns also vermutlich früher oder später erneut einholen.

Insofern kommt Karsten Schuberts Monographie Lob der Identitätspolitik womöglich ein wenig zu spät – vielleicht aber auch zur richtigen Zeit, in der die (relative) Stille zum Anlass genommen werden kann, inne zu halten und zu fragen: Was ist in den letzten Jahren in Sachen „Identitätspolitik“ eigentlich genau passiert? Was hat sie uns gebracht? Sollte sie unverändert fortgesetzt werden – oder lieber nicht?

Der Titel des Buches wie seine Kernthesen haben indes das Potential, sogar Befürworter der „Identitätspolitik“ zu provozieren. Denn oft wird von denen, die als solche von außen bezeichnet werden, geleugnet, dass es „Identitätspolitik“ oder verwandte Phänomene wie political correctness, cancel culture oder wokeness überhaupt gibt. Offene Verteidigungen der Identitätspolitik sind selten. Indem sich Schubert so dezidiert zur Identitätspolitik bekennt, gelingt ihm eine Öffnung der Debatte, die wir dringend benötigen.

Sehr unverstellt gesteht Schubert zudem ein, was von denjenigen, die Identitätspolitik betreiben – wie gesagt: oftmals nicht in der Selbstbeschreibung –, geleugnet oder zumindest relativiert wird: Identitätspolitik ist kein Nullsummenspiel in dem Sinne, dass sie niemandem etwas wegnehmen würde. Sie nimmt vielmehr Menschen, die sich in „privilegierten“ Positionen befinden, etwas weg und verteilt Privilegien um. Der vehemente Widerstand gegen die Identitätspolitik ist aus Schuberts Sicht also keine Überraschung, sondern der erstmal nachvollziehbare Kampf um die Verteidigung bisheriger Privilegien, die man zu Recht als gefährdet ansieht. Auch in dieser Hinsicht ist Schubert seine ehrliche Herangehensweise hoch anzuerkennen, zumal sie seine Argumentation ja nur stärkt.

Das Buch ist zwar als Monographie erschienen, doch eigentlich ist es in weiten Teilen eine Zusammenstellung diverser Fachartikel, die Schubert in den letzten Jahren zu diesem Themenkomplex publiziert hat. Dies merkt man ihm leider beim Lesen an. Nicht nur ist es stellenweise repetitiv, stilistisch bewegt es sich auch sehr in einem akademischen Duktus. Dies bringt natürlich den Vorteil der Versachlichung der oft hitzig geführten Diskussion mit sich, doch abgesehen davon, dass es bisweilen etwas ermüdend ist, Schuberts sehr kleinteiligen Ausführungen zu folgen, könnte man in diesem sehr um Sachlichkeit bemühten Stil auch eine Methode erkennen: Man macht sich unangreifbar dadurch, dass man ein –scheinbar – in sich geschlossenes Gedankensystem konstruiert, in dem jeder mögliche Einwand dem Anspruch nach schon reflektiert und beantwortet wird. Die Zielgruppe des Buches dürfte vor diesem Hintergrund vor allem ein akademisches Publikum sein oder akademisch gebildete Funktionäre von sich für identitätspolitische Themen engagierenden Institutionen, die sich seiner Argumente und Begriffe in der öffentlichen Debatte bedienen können; ein breites Publikum oder gar erklärte Gegner der Identitätspolitik dürfte es jedoch nicht erreichen. Es belehrt eher, als dass es zu überzeugen versucht – und wer möchte schon belehrt werden? Es ist ein Buch für Bürokraten – womit womöglich schon auf ein zentrales Problem der realexistierenden Identitätspolitik verwiesen ist.

Wie möchte Schubert die Identitätspolitik nun angesichts der Tatsache verteidigen, dass sie eben durchaus Freiheitsverluste bedeutet, in manchen Fällen vielleicht sogar für sehr viele Menschen, die große Mehrheit der Bevölkerung? Schuberts entscheidender Zug besteht darin, den Begriff der „Demokratie“ umzudefinieren im Rekurs auf die poststrukturalistische „radikale Demokratietheorie“ – d. h. vor allem auf Foucault und sogar, ausgerechnet, auf Nietzsche. Im Sinne dieses „radikalen“ Begriffs von Demokratie gehe es um eine „Demokratisierung der Demokratie“ (8). Es sei daher zu hinterfragen, wer eigentlich Teil des demokratischen dêmos sei, und wer sich in welcher Position am demokratischen Diskurs beteiligen könne. Eine echte Demokratie sei nur erreicht, wenn letztlich alle Menschen Teil des dêmos sind und gleichberechtigt an diesem Diskurs teilhaben können.

Identitätspolitik definiert Schubert als genau die Bewegung zu einer solchen Demokratisierung. Er unterwirft sie also einem universalistischen Maßstab und versucht dadurch, Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, die ihr Partikularismus vorwerfen. Er unterscheidet allerdings zwischen wirklicher Identitätspolitik, die den Prozess der Demokratisierung auch tatsächlich voranbringt, und bloß partikularer Interessenpolitik, die ihn im Gegenteil blockiert, hemmt oder gar umzukehren versucht. Auch autoritäre und undemokratische Formen der Identitätspolitik kritisiert Schubert vor diesem Hintergrund, auch wenn er diese unterm Strich als „Einzelfälle“ abtut und vor allem immer wieder – und dies ist im Wesentlichen sein „Linksnietzscheanismus“ – betont, dass es bei der Identitätspolitik nun einmal um Macht gehe, und die unterdrückten Minderheiten keine andere Möglichkeit hätten, als die ihnen angetane Gewalt durch eine mitunter gewaltvolle Machtpolitik zu beenden.

Vor diesem Hintergrund beschreibt Schubert Demokratisierung als einen unendlichen Prozess, bei dem es immer wieder darum gehe, dass bisher unterdrückte Minderheiten das ihnen zustehende Maß an Mitsprache erhalten und die Institutionen sich dadurch verändern. Identitätspolitik drohe vor diesem Hintergrund freilich auch – wie Schubert am Beispiel des „transexkludierende(n) radikale(n) Feminismus“ (169) diskutiert – immer wieder in Interessenpolitik umzukippen, wenn sie sich mit einem bestimmten Niveau an Demokratisierung begnügt und nicht die Anliegen immer neuer unterdrückter Gruppen einbezieht.

Dieser Begriff von Identitätspolitik ist nun sehr weit. Schubert begreift sogar den marxistischen Klassenkampf als eine Form derselben (vgl. 25) und wirbt am Ende des Buches für eine identitätspolitische ‚Neuentdeckung‘ des Klassenkampfs: Die Antwort auf die linke Kritik an der Identitätspolitik bestehe also nicht in weniger, sondern in mehr Identitätspolitik (vgl. 183-187).

Diese Bezugnahme auf Marx überzeugt ebenso nur bedingt wie die auf Nietzsche. Was Nietzsche angeht, gesteht er selbst zu, dass es ihm eher um eine lose Anknüpfung aus der Brille der poststrukturalistischen Nietzsche-Interpretation geht (vgl. 69). Was Marx betrifft, liegt der Einwand nahe, ob die Analogisierung ökonomischer und kultureller Unterdrückungsverhältnisse wirklich aufgeht. Marx ging davon aus, dass die ökonomische Unterdrückung des Proletariats die Wurzel aller Unterdrückungsverhältnisse ist und das „Proletariat“ die übergroße Mehrheit der Bevölkerung moderner kapitalistischer Gesellschaften umfasst. Wenn Arbeiter sich um höhere Löhne oder gar um die Aneignung der Produktionsmittel bemühen, scheint das ein völlig anders gearteter Kampf zu sein als derjenige für Gendersprache oder geschlechtsneutrale Toiletten.

Der Haupteinwand gegen Schuberts detailliert ausgearbeitete und an vielen Stellen wirklich erhellende Konstruktionen dürfte jedoch darin liegen, dass sie mitunter wie „bloß theoretische Gedankenblasen“ (167) wirken, die mit der realexistierenden Identitätspolitik und ihren Problemen wenig zu tun haben. Auch wenn Schubert, wie erwähnt, eingesteht, dass es problematische Formen der Identitätspolitik gibt und er dieser keine „carte blanche“ (167) ausstellen möchte, wagt er sich doch selten an die Diskussion konkreter „Einzelfälle“ (166) bzw. fallen seine spärlichen Ausführungen dazu eher apologetisch aus.

So übernimmt er den schon erwähnten Begriff des „transexkludierende(n) radikale(n) Feminismus“, kurz: TERF, der oft jedoch als beleidigend wahrgenommen wird. Immer wieder wird darauf hinwiesen, dass er ähnlich wie ‚turd‘, deutsch: Scheißhaufen, klingt, und er wird im aktivistischen Sprachgebrauch auch immer wieder als Schimpfwort verwendet. Schubert tut so, als handele es sich um einen völlig neutralen wissenschaftlichen Begriff und spricht zwar von einer „regelrecht hasserfüllt[en]“ (170) Debatte, doch meint er damit ausschließlich die feministische Kritik am queeren Feminismus, nicht aber die zahlreichen Fälle von Beschimpfungen, Mobbing bis hin zu physischer Gewalt, die sich mitunter seitens „Trans-Aktivist*innen“ gegen ihre Kritiker richtet.11

Ein wenig komisch ist es auch, wenn Schubert dann die Diskriminierung von Radfahrern gegenüber Autofahrern als Beispiel für den identitätspolitischen Kampf zwischen Privilegierten und Unterdrückten anführt (vgl. 55). Zwar mag es sein, dass Autofahrer aus physischen Gründen im Straßenverkehr strukturell privilegiert sind; doch die Mehrzahl der Autofahrer dürften unterprivilegierte Lohnarbeiter mit Familie sein, die auf ihr Auto angewiesen sind – von Krankenwägen, Polizeiautos, Lieferfahrzeugen etc. abgesehen –; Radfahrer hingegen sind vielfach Studierende oder Angestellte, die das Privileg haben, nah an ihrem Arbeitsort zu wohnen und sich in ihrer Arbeit körperlich nicht allzu sehr verausgaben zu müssen.

Diese Beispiele zeigen, dass es kompliziert wird, wenn es um Identitätspolitik in ihrer empirischen Konkretion geht. Insbesondere ist oft nicht klar, wer denn nun eigentlich privilegiert ist und wer nicht, und wie sich das überhaupt klar bemessen lässt bzw. wer berufen ist, diese Bemessung vorzunehmen. Es ist dies eine Sache spezifischer Konstellationen und Situationen. Schubert wirft dieses Problem an mehreren Stellen seines Buches selbst auf, doch scheint er dessen Tragweite deutlich zu unterschätzen. Denn in Wahrheit gibt es ‚die Privilegierten‘ nicht, gegen die das identitätspolitische Anliegen von der ‚Bremse‘ woker Aktivisten angetrieben werden müsse, die ‚die Unterdrückten‘ repräsentieren, sondern es gibt eine Vielzahl in unterschiedliche Machtgefüge eingebundener Individuen.

In dieser Vielfalt schafft Identitätspolitik künstliche Teilungen, die oftmals zu der grotesken Situation führen, dass (relativ) privilegierte Akademiker mit gut bezahlten Jobs, die sie in vielen Fällen genau ihrem Aktivismus verdanken, Arbeiter und Arbeitslose mit erhobenem Zeigefinger darüber belehren, wie privilegiert und wohlbetucht sie in Wahrheit doch seien, und dass sie unbedingt diesen oder jenen Verzicht leisten sollten. Dass dies bei den Adressaten nicht gut ankommt, ist sonnenklar.

Das Kernproblem des Buches aber ist das Demokratieverständnis Schuberts, auf dem seine gesamte Argumentation fußt. Das wird deutlich, wenn er darüber spricht, wie er sich die Demokratisierung von kulturellen Institutionen wie dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk konkret vorstellt. In diesen soll es nicht darum gehen, die Mehrheit der Bevölkerung zu repräsentieren – was unter Umständen das Gegenteil dessen bewirken würde, was Schubert sich wünscht –, sondern den Anliegen diverser Minderheiten ein größeres Gehör zu verschaffen: „marginalisierte Gruppen [sollen] eine Stimme bei Mittelallokation und Programmgestaltungen haben und besser in Rundfunkräten repräsentiert“ (89) werden. Dass derartige Maßnahmen von denen, die diese Institutionen durch Gebühren, Steuern oder Eintrittsgelder finanzieren, als autoritär wahrgenommen werden und zu einer noch größeren Entfremdung von ihnen führen dürfte – bis hin zur Option für offen rechtsradikale Parteien –, wird von Schubert in Kauf genommen.

Dass sie also – vor dem Hintergrund des gewöhnlichen Demokratiebegriffs – notwendig als undemokratisch und autoritär erscheint, ist das eigentliche Problem nicht nur der von Schubert konzipierten Identitätspolitik, sondern auch das einer Demokratie, die nicht in der Repräsentation und Teilhabe der Mehrheit der Bevölkerung an den sie betreffenden politischen Entscheidungen besteht, sondern als eine Art Diktatur ‚diverser‘ Minderheiten über die Bevölkerungsmehrheit. Auch Marx und Engels sprachen bekanntlich von der „Diktatur des Proletariats“; doch dieses Problem stellte sich ihnen, jedenfalls in der Theorie, nicht, da das zu befreiende Proletariat ja per definitionem die übergroße Bevölkerungsmehrheit war.

Es ist nicht so, dass Schubert nicht einen tatsächlich blinden Fleck im gewöhnlichen Demokratiebegriff aufzeigen würde, der ja stets die Gefahr einer ‚Diktatur der Mehrheit‘ impliziert. Der liberale Kompromissvorschlag bestand daher darin, diese Diktatur durch die Gewährung verfassungsmäßig garantierter und durch Mehrheitsbeschlüsse kaum zu ändernder individueller Freiheitsrechte zu verhindern. Es wurden so, zumindest im Privaten, Schutzräume für die Minderheiten möglich. Doch dieser Kompromiss ist in der Tat faul; denn er gerät regelmäßig ins Wanken, wenn Entscheidungen zu fällen sind, die alle betreffen und daher als gemeinsame gefällt werden müssen: So etwa die Fragen, welche Art von Grammatik in den Schulen gelehrt oder wie das Programm des öffentlichen Rundfunks gestaltet werden soll.

Hierin scheint mir das eigentliche Problem zu liegen. So dürften nur wenige ein Problem damit haben, wenn schwule oder queere Menschen ihren Lebensstil im Privaten pflegen oder Feministinnen unter sich ‚gendern‘. Die Streitfragen tauchen auf, wenn es um Entscheidungen geht, die ihrer Natur nach nicht durch liberale Kompromisse zu schlichten sind, sondern bei denen entweder die ‚privilegierte‘ Mehrheit oder die ‚unterdrückten‘ Minderheiten entscheiden müssen (die freilich auch kein geschlossenes Kollektiv bilden und sich oftmals untereinander widersprechen).

Um zu vermeiden, dass Gesellschaften – und nicht zuletzt die emanzipatorischen Bewegungen – sich angesichts solcher Fragen spalten, führt wohl kein Weg daran vorbei, die Demokratie ‚konventioneller‘ zu denken, als Schubert es vorschlägt: Es müssen Kompromisse gefunden werden, mit denen möglichst viele Menschen leben können. Dabei muss es zugleich darum gehen, diejenigen Fragen nicht aus den Augen zu verlieren, bei denen man sich einig ist und die tatsächlich in der Lage sind, große gruppenübergreifende Allianzen zu schmieden. Dies aber sind die ökonomischen und ökologischen Fragen, nicht die kulturellen. Dann aber würde gälten, die Identitätspolitik, die sich primär auf kulturelle Fragen bezieht, hinter sich zu lassen und den Kampf um ökonomische und ökologische Anliegen nicht durch die Fokussierung auf solch potentiell spalterische Fragen zu demontieren. Dies aber ist nicht nur eine Frage der politischen Theorie, sondern vor allem der Machtpolitik, von der auch Schubert wiederholt spricht.

Umgekehrt kann eine Identitätspolitik, die sich gegenwärtig überwiegend als autoritäre Minderheitspolitik darstellt, auf lange Sicht nur scheitern und, wie Schubert auch anerkennt, nicht weniger autoritäre Gegenreaktionen provozieren. Die Kernfrage einer identitätspolitischen Strategie müsste folglich sein, wie genau man identitätspolitische Forderungen der ‚privilegierten Mehrheit‘ schmackhaft machen kann. Auch wenn Schubert einfordert, dass die Mehrheit doch in das Lob der Identitätspolitik einstimmen müsse, bleibt es bei ihm letztlich doch beim moralischen Appell, der dann zur Not eben auch mit machtpolitischen Mitteln durchgesetzt werden muss. Die Alternative zur aktuellen Identitätspolitik wäre auch hier, sich auf die Forderungen zu konzentrieren, die den ‚Privilegierten‘ wie den ‚Minderheiten‘ gleichermaßen zu Gute kommen: bessere Arbeitsbedingungen, bessere Wohnsituationen, Kampf gegen Naturzerstörung …

Eine andere Weise könnte in der ‚Demoralisierung‘ des identitätspolitischen Kampfes und der Erfindung einer Emotionalisierung bestehen, die in der Lage ist, auch Mitglieder der ‚Privilegierten‘ mitzureißen, sie von identitätspolitischen Forderungen nicht nur abstrakt zu überzeugen, sondern zu begeistern. Hier sind Kunst und eine gekonnte identitätspolitische Essayistik gefragt. In dieser Hinsicht enttäuscht Schuberts Buch leider – es thematisiert diesen Aspekt nicht nur am Rande, ihm gelingt es auch nicht, dafür eine entsprechende Form zu finden. Sein „Lob“ der Identitätspolitik fällt für eine Laudatio sehr nüchtern aus. Es müsste mehr als ein anerkennendes Schulterklopfen sein, sondern eine stürmische Umarmung, die einer vertieften Demokratisierung, wie sie Schubert zu Recht fordert, vorarbeitet. Vielleicht könnte hierbei Nietzsche helfen – nicht als kühler Analytiker der Macht, sondern als Visionär des „Übermenschen“. Identitätspolitik vermag die Massen nur zu ergreifen, wenn sie sich nicht kalt als bürokratisch-autoritäre Umverteilung präsentiert, sondern als ästhetisch-kreative Erfindung einer neuen Gesellschaft.

Diese Gedanken sind freilich nicht neu. Vielmehr müsste Identitätspolitik sich einfach nur auf historische Erfolge rückbesinnen. Wohl kaum eine Rede hat für die Emanzipation der schwarzen Bevölkerung der USA mehr bewirkt als Martin Luther Kings Ansprache I have a dream, in der King in einer mitreißenden religiösen Sprache eine unzweideutig universalistische Vision einer Gesellschaft ohne Rassismus artikulierte. Sein Aktivismus bezog sich stets jedoch nicht nur auf Forderungen des Bürgerrechts, sondern auch auf soziale Rechte. Zudem haben Musik, Literatur, Filme etc. zum Erfolg der antirassistischen Bewegung beigetragen.

In diesem Sinne ginge es also um eine vom Ressentiment befreite Emotionalisierung des Kampfs für identitätspolitische Forderungen, die den „Hass“, mit dem Identitätspolitik oft vorgetragen wird und den sie umgekehrt provoziert, überwindet, um wieder zu einem gemeinsamen linken Projekt zurückzufinden, das nicht als eine autoritäre, phantasielose, hasserfüllte und kleinkarierte Nischenpolitik, sondern als „selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl“ wahrgenommen wird. Einem solchen Lob der Identitätspolitik kann ich mich gern anschließen.

Man denke an Jan Böhmermanns Sendung vom 2.12.22, in der er „TERFs“ nicht nur als „Scheißhaufen“, sondern auch „Nazis“, „dumme Wichser“ und vieles Weitere bezeichnete, und er dafür sogar noch von der Familienministerin Lisa Paus und ihrem Staatssekretär öffentlich gelobt wurde. – Schubert verteidigt seinen Gebrauch des Begriffs „TERF“ auf 221 (Fn. 3). Dass etwa in der Auseinandersetzung mit der britischen Kritikerin des queeren Feminismus, Kathleen Stock, mitunter Grenzen der legitimen Auseinandersetzung überschritten wurden, gesteht er immerhin zu (223; Fn. 8).


  1. Man denke an Jan Böhmermanns Sendung vom 2.12.22, in der er „TERFs“ nicht nur als „Scheißhaufen“, sondern auch „Nazis“, „dumme Wichser“ und vieles Weitere bezeichnete, und er dafür sogar noch von der Familienministerin Lisa Paus und ihrem Staatssekretär öffentlich gelobt wurde. – Schubert verteidigt seinen Gebrauch des Begriffs „TERF“ auf 221 (Fn. 3). Dass etwa in der Auseinandersetzung mit der britischen Kritikerin des queeren Feminismus, Kathleen Stock, mitunter Grenzen der legitimen Auseinandersetzung überschritten wurden, gesteht er immerhin zu (223; Fn. 8). ↩︎

Foucault – Der Diskurs der Philosophie

Michel Foucault

Der Diskurs der Philosophie

geb., 352 Seiten, 34,00 €, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024

von Paul Stephan

Dass man noch einmal ein neues Werk von Foucault in den Händen halten würde, hätten wahrscheinlich die wenigsten Interessenten noch für möglich gehalten. Doch in Foucaults Nachlass fanden dessen Herausgeber tatsächlich ein mehr als 400 Seiten umfassendes handschriftliches Manuskript aus dem Jahr 1966, Le discours philosophique.

Freilich ist die Bezeichnung „Werk“ womöglich nicht ganz angemessen. Das Manuskript scheint zwar in einem ausgearbeiteten Zustand zu sein und warf, so die Herausgeber, „keine besonderen editorischen Schwierigkeiten“ (9) auf, doch es wirkt trotz seiner klaren Struktur und Gedankenführung letztlich nicht ganz zu Ende reflektiert, scheint am Ende abzubrechen und keinem richtigen Fazit zuzulaufen.

Für jeden Kenner der sonstigen Schriften Foucaults wirkt es freilich überraschend. Auch wenn das Buch zahlreiche Gedanken und Motive enthält, die später Einzug in Foucaults publiziertes Werk erhielten – wie die Herausgeber in ihrem äußerst hilfreichen Kommentarapparat und Nachwort detailliert darlegen –, unterscheidet es sich in Inhalt und Form doch deutlich von ihnen. Dies macht es zu einer durchaus lohnenden Lektüre nicht nur für Foucault-Kenner: Hier wird eine Abzweigung in Foucaults Denkweg deutlich, die dieser bewusst nicht beschritt und ihn deswegen in einem ganz neuen Licht erscheinen lässt. Denn Foucault beschreibt in diesem Text nicht nur den philosophischen Diskurs von außen. Er situiert sich viel eindeutiger als in seinem publizierten Werk, in dem er der Frage, ob er denn nun ein Philosoph sei oder nicht, stets auswich, innerhalb dieses Diskurses und fragt nach den Bedingungen und Möglichkeiten seiner Fortsetzung in einer seit Nietzsche radikal gewandelten Denklandschaft. Und er konfrontiert sich selbst sehr klar mit Einwänden und Fragen, die gegen ihn von philosophischer Seite oft vorgebracht wurden, insbesondere derjenigen nach den – historischen wie logischen – Bedingungen und Möglichkeiten seines eigenen kritischen Projekts und bemüht sich um die Klärung einiger zentraler Grundbegriffe desselben (zum Beispiel Diskurs, Archäologie, Diagnose, Archiv …). Mit anderen Worten: Hätte Foucault dieses Manuskript fertiggestellt und publiziert, wäre sein Denken viel deutlicher der Philosophie zuzuordnen, als es auf der Grundlage seiner veröffentlichten Texte der Fall ist. Doch offenbar entschied sich Foucault bewusst gegen diese Möglichkeit.

Um was geht es nun genau? Vorneweg gilt es zu betonen, dass das Buch gerade im Vergleich zu Foucaults sonstiger Prosa extrem trocken und technisch geschrieben ist. Man hat wirklich das Gefühl, ein philosophisches Fachbuch zu lesen, in dem Foucault versucht, auf Augenhöhe in den philosophischen Diskurs seiner Zeit zu intervenieren. Nicht immer ist es ganz einfach, Foucaults äußerst technischen Ausführungen zu folgen.

Zunächst bestimmt Foucault die Philosophie als eine besondere Form des Sprechens, dem in der „abendländischen“ Kultur eine relativ konstante Grundaufgabe zukomme, „zu diagnostizieren“ (13): „Der Philosoph muss ganz einfach sagen, was ist“ (17), er muss die verborgene Wahrheit seiner Gegenwart aufdecken. Doch was heißt das genau, und welche verschiedenen Modi nahm diese eigentümliche Tätigkeit in den letzten 2.500 Jahren an? Und wie es ist um die Philosophie heute bestellt, wie kann sie nach Nietzsche diese Aufgabe noch wahrnehmen? Dies sind die Fragen, die sich Foucault eingangs stellt – und sie bereits machen deutlich, dass es sich um eine philosophische Abhandlung handeln muss, insofern Foucault eine genau solche Diagnose zu betreiben versucht, nur eben als „Diagnose der Diagnose“, als Aufzeigen der verborgenen Wahrheit der Philosophie selbst.

Foucault bemüht sich nun in mehreren analytischen Schritten, die genaue Beziehung zu umreißen, in die der Philosoph zur Gegenwart tritt, und sie von anderen Weisen des Sprechens – Alltagsdiskurs, Wissenschaft und Literatur – abzugrenzen. Inhalt und Form lassen hier wiederum stark den Eindruck einer philosophischen Abhandlung entstehen: Waren es nicht klassische Philosophen wie Hegel oder Kant, die sich ganz ähnliche Frage stellten und sie mithilfe einer ähnlich minutiösen Arbeit am Begriff zu beantworten suchten? Jedenfalls steht Foucault, wie bereits hier deutlich wird, in dieser Abhandlung dem Strukturalismus sehr nahe: Es geht ihm um die genaue Abgrenzung und Beschreibung bestimmter diskursiver Strukturen innerhalb des Gesamtdiskurses des „Abendlandes“.

Allerdings geht Foucault davon aus, dass sich seit dem 17. Jahrhundert, also seit Descartes, ein ganz neuer Modus des philosophischen Diskurses etabliert hat, der völlig anders als derjenige der vorherigen Jahrtausende sei, und dessen Status mit dem „Ereignis“ Nietzsche prekär werde. Im Rahmen der sich in dieser Zeit vollkommen neu etablierenden Arbeitsteilung der unterschiedlichen Diskursmodi komme der Philosophie die seltsame und paradoxe Aufgabe zu, universelle Wahrheit und partikulare Position eines Subjekts zu synthetisieren. Dies unterscheide sie vom Alltagsdiskurs, der einfach nur partikular sei und keinen höheren Anspruch auf Wahrheit erhebe, aber auch den universellen Diskursen der Wissenschaft und der Literatur, in denen das Subjekt des Sprechenden und dessen partikulare Position unerheblich sei. Das Spezifische am philosophischen Diskurs seit Descartes’ „cogito ergo sum“ sei also sein subjektiver Charakter, dass er stets aufzeige und rechtfertige, wie das Subjekt die Wahrheit erkennen könne. Wobei klar sei, dass dieses „Subjekt“ nicht einfach die partikulare Person des Philosophen ist, sondern sich auch als transzendentales Subjekt äußern kann – was aber zwangsläufig das Problem aufwerfe, wie beide Seiten des Subjekts sich zueinander verhalten.

Vor dem 17. Jahrhundert hätte es diese klare Arbeitsteilung der unterschiedlichen Diskursmodi noch gar nicht gegeben, und dies unterscheide die Philosophie davor und danach radikal voneinander. Ihre Gegenstände mögen zwar auf den ersten Blick dieselben sein, doch der Modus, in dem über diese Gegenstände gesprochen wird, sei ein vollkommen anderer.

Eine Erklärung, warum es zu diesem Bruch gekommen sei, führt Foucault dezidiert nicht an; vielmehr weist er Theorien, die sich um die kausale Erklärung kultureller Umbrüche bemühen – wie insbesondere und wiederholt den Marxismus –, dezidiert zurück. Derartige Wandlungen seien das Ergebnis kontingenter heterogener Verschiebungen. Und ebenso weist er es zurück, von irgendwelchen Beeinflussungen zwischen den genannten Diskursen auszugehen. Sie existierten vielmehr ab dem mystischen Ereignis ihrer Begründung, für das es keine Erklärung gebe, nebeneinander her und seien in sich autonom, entwickelten sich der Logik dieses Ereignisses gemäß. Diese fast ein wenig an Luhmanns Systemtheorie erinnernde Position unterscheidet sich sichtlich von der eher machttheoretischen Methodik der späteren Schriften Foucaults. Macht spielt hier noch überhaupt keine Rolle. Es liegt nahe zu vermuten, dass es die Ereignisse von 1968 waren, die Foucault erst dazu führten, seine Methodik stärker zu politisieren und die Frage nach der Verquickung von Wissen und Macht zu stellen.

Foucault Anspruch ist jedenfalls: „Indem man diese Art [von Diskurs] betrachtet, gelangt man zu einer exakten Deduktion der Hauptbegriffe und -themen der Philosophie, die in der Geschichte unserer Kultur aufgetreten sind“ (60). Seit Descartes variiere die Philosophie unentwegt dieselben Grundpositionen zum Verhältnis von Subjekt und Wahrheit, die Foucault im eigentlichen Hauptteil des Buches ab dem 6. Kapitel durchdekliniert und sogar behauptet, dass ihre zeitliche Reihenfolge sich aus dem Auftauchen des Cogito präzise ableiten ließe.

Diese Kapitel überraschen und erinnern wiederum eher an Hegels Philosophiegeschichtsschreibung als an den Foucault, den man meinte zu kennen. War das entscheidende Movens der Philosophiegeschichte also nicht, wie man gemeinhin geneigt ist zu glauben, externe politische Ereignisse, kulturelle Verschiebungen oder Fortschritte der Wissenschaft, sondern folgte sie allein einer internen Dialektik, die seit dem 17. Jahrhundert feststand? Das behauptet jedenfalls Foucault und dekliniert diese Logik in der Folge minutiös durch. Für Philosophiehistoriker sind diese Kapitel aufgrund ihrer durchaus originellen Sichtweise von großem Interesse, auch wenn man oftmals den Eindruck gewinnt, dass Foucault nur bereits von anderen Gesagtes im Rahmen seiner Methodik umformuliert (schon, dass mit Descartes ein ganz neues Zeitalter der Philosophie begann, ist ja ein locus communis der Philosophiehistorie).

Foucault diskutiert in der Folge ausgiebig seine eigene Methodologie (vgl. Kap. 10) und geht dann dazu über, das „Ereignis Nietzsche“ zu beschreiben. Denn mit ihm sei die Strahlkraft des „Ereignisses Descartes“ erloschen, und wir befänden uns in einer ganz neuen Ära – was es uns überhaupt erst ermögliche, den post-cartesianischen Diskurs umfassend beschreiben zu können (wieder eine Hegelsche Denkfigur!). Und wieder wird deutlich, dass sich Foucault selbst als Philosoph sieht, wenn er von der „rein diagnostische[n] Frage“ (199) spricht: „Was geschieht also heute, in diesem singulären Jetzt, in dem man von der Philosophie als einer einfachen Diskursform spricht?“ (ebd.) Dabei geht es Foucault durchaus darum, die Philosophie zu retten, insofern er die Alternative von „endgültige[m] Verschwinden“ (201) und „radikale[m] Neuanfang als ein zweiter Morgen“ (202) pointiert.

Wie schon diese metaphorische Wendung in dem bislang ausgesprochen trocken geschriebenen Buch erahnen lässt, wird es nun – eher im Einklang mit Foucaults sonstigen Schriften – ein wenig lebendiger, aber zugleich auch nebulöser. Mit Nietzsche werde jedenfalls das Projekt der Suche nach einer Kongruenz von Wahrheit und Partikularität im Akt des philosophischen Sprechens aufgegeben, womit vor allem die Differenz von Philosophie und Literatur sich verflüssige – aber auch diejenige von Philosophie und Religion: „[I]n diesem Sinne wird der philosophische Diskurs vom religiösen Diskurs nicht so weit entfernt sein: aber keine Exegese; das Wort Christi selbst“ (208). Das Subjekt, von Descartes bis Husserl das Fundament der „abendländischen“ Philosophie, löse sich auf und weiche einer „Vielheit von Subjekten“ (212), einem „große[n] Pluralismus“ (213), den Foucault insbesondere mit den Namen Bataille und Artaud verknüpft. An die Stelle eines einheitlichen Subjekts des philosophischen Diskurses trete „eine nicht entzifferbare Vielheit von Masken oder Gesichtern“ (ebd.), die strikte Unterscheidung von Wahnsinn und vernünftiger Rede werde ebenso unmöglich. Foucault denkt dabei natürlich vor allem an Nietzsches Ecce homo.

Im 12. Kapitel fährt Foucault in seiner Analyse des „Denken[s] nach Nietzsche“ (224) fort und behauptet die Abkehr von den Grundannahmen der Tradition von Descartes bis Husserl als wesentlichen Grundzug der unterschiedlichen Strömungen des gegenwärtigen Denkens vom Positivismus bis zu Heidegger. Man wende sich vom Subjekt ab und hin zur Sprache bzw., in seiner Terminologie, dem „Diskurs“.

Letzteren Begriff versucht Foucault im 13. Kapitel des Buches näher zu bestimmen und reflektiert wiederum seine eigene Methodologie. Dieses Kapitel ist aufschlussreich und hier spricht Foucault wieder sehr anders als in seinen bekannten Schriften, scheint darauf abzuzielen, eine klare Methodik der Diskursanalyse zu begründen, die der Beschreibung der Dialektik vom „Diskurs“ als der Gesamtheit von demjenigen, was in einer Kultur geäußert wird, und dem „Archiv“ als demjenigen, was von jenem Diskurs aufbewahrt wird und wiederum auf den Diskurs rückwirkt, dient: dem „Diskurs-Archiv“ (255). Dabei betont er klar, dass eine Beschreibung der Gesamtheit eines Diskurses aus logischen Gründen unmöglich sei – wie auch diejenige der Beschreibung der Diskurse fremder Kulturen, die stets die Kategorien des eigenen Diskurses voraussetze. Es gebe mithin kein Außen des Diskurses – „Der Diskurs findet nur im Diskurs statt“ (254) – und die verschiedenen Unterdiskurse bildeten „mit den Bedingungen, die sie aufrechterhalten, sortieren und zirkulieren lassen, ein untrennbares, kohärentes Ganzes …, das seine Autonomie hat“ (ebd.). Auch hier klingt Foucault wieder überraschend systemtheoretisch bzw. luhmannianisch und vor allem, im Gegensatz zu seinen späteren Schriften, äußerst sprachfixiert, um nicht zu sagen „logozentrisch“.

Diese neue Methode, die anscheinend an die Stelle der alten Philosophie und insbesondere auch der Ideologiekritik treten soll, fasst Foucault als „Archäologie“ (S. 262). Sie soll der Beschreibung jenes Diskurs-Archivs dienen, das „sowohl eine irreduzible Zwischeninstanz als auch der gemeinsame Ort, in dem alle Unterscheidungen wurzeln“ fungiert, der „universelle Zwischenraum“ (ebd.). Es handele sich um eine, freilich nie totale, „immanente Ethnologie“ (S. 267), in der es vor allem um eine Beschreibung der Entwicklung der unterschiedlichen Systeme der Archivierung gehe, deren Grundzüge bezogen auf das „Abendland“ Foucault im 14. Kapitel skizziert.

Diese neue philosophische Position bekräftigt Foucault dann im 15. Kapitel noch einmal. Zumindest für die Gegenwart diagnostiziert er: „Das Nicht-Diskursive erscheint und konstituiert sich nunmehr zwischen den Achsen des Diskurses. Heute findet alles seine Möglichkeit im Diskurs: Die Erfahrung, die Realität, die Existenz, die Subjektivität, das Sein sind nichts anderes als diskursive Figuren“ (287), Und der Schlusssatz: „Unter diesen Umständen ist ersichtlich, dass nur das, was Diskurs ist, existieren und der Erfahrung gegeben werden kann. Die Diskursivität, durch die sich die Erfahrung definiert und die ihr ihre Möglichkeit verleiht, kommt immer nur dem Diskurs selbst zu“ (290).

Wie erwähnt, erweckt der Text nicht den Eindruck, am Ende rund und abgeschlossen zu sein. Das von Artaud und Bataille entlehnte Pathos der dionysischen Desubjektivierung und die bemüht nüchterne Methodik der Diskursanalyse scheinen nicht ganz vereinbar zu sein, zumal letztere den Verdacht aufwirft, dass Foucault hier den traditionellen Diskurs der „abendländischen“ Philosophie einfach fortsetzt: Er sucht weiterhin nach einem „identischen Subjekt-Objekt“ (Lukács) als absoluter Grundkategorie, aus der sich dann die Totalität des gesamten Seins entschlüsseln ließe; der „absolute Geist“ feiert in Gestalt des „Diskurs-Archivs“ seine Wiederauferstehung. Vielleicht haderte Foucault mit diesen Schwachpunkten selbst und brach sein Projekt aus diesem Grund ab.

1966 hätte Foucaults Werk äußerst radikal gewirkt, heute wirkt es nicht mehr so originell, sondern eher wie ein recht typisches Dokument der Periode des heroischen Postmodernismus, in der Autoren wie Foucault, Deleuze, Lyotard und Derrida in der Form bemerkenswerter großer Erzählungen wie derjenigen, die Foucault hier entwarf, das „Ende der großen Erzählungen“ verkündeten. Die Eckpunkte von Foucaults Metanarrativ sind schon längst Teil des heute gültigen „Archivs“ geworden und schockieren niemanden mehr, sie wirken fast ein wenig wie Plattitüden. Dies gilt nicht zuletzt für den philosophischen Diskurs, in dem selbst Foucaults Antipoden wie Habermas und seine Anhänger – oder nahezu zeitgleich mit ihm Adorno in der Negativen Dialektik – mehr oder weniger darin übereinstimmen würden, dass die postcartesianische Ära der Philosophie zu Ende sei und mit Nietzsche etwas vollkommen Neues begonnen habe, dass sich Philosophie nun primär auf Gegenwartsdiagnostik und Sprach- bzw. eben Diskursanalyse zu beschränken habe.

Wenn Foucault etwa spöttisch bemerkt, dass die „klassische“ Philosophie bereits nach 300 Jahren an ihr Ende gekommen sei, ist man fast versucht zu erwidern: Jenes Philosophieverständnis wirkt schon jetzt, nur wenige Jahrzehnte später, als an ein Ende gekommen und erschöpft. Mit dem „Neuen Materialismus“ hat sich längst eine neue Version des heroischen Postmodernismus akademisch etabliert, die dessen Grundgestus wiederholt und sich um eine noch stärkere Desubjektivierung bemüht. Strenger Szientismus und Hang zum Irrationalen paaren sich auch hier wieder und werden fast ununterscheidbar. Zugleich scheint sich eine gewisse antipostmodernistische Opposition zu formieren, die für die Reaktualisierung der modernen Philosophie und ihrer Problemstellungen streitet – wie insbesondere der Frage nach dem Subjekt –, und die vielleicht gar für eine Renaissance des philosophischen Marxismus sorgen könnte. Der Deutung Nietzsches kommt in diesem Kulturkampf eine zweifellos zentrale Rolle zu: Ist er ein Apologet der von Foucault bis Latour gefeierten Desubjektivierung oder nicht eher deren Diagnostiker, dessen Schriften sich ein Appell für neue Weisen der Subjektivierung entnehmen lässt? Wobei klar ist: Von dem „Ereignis Nietzsche“ dürfte sich die Philosophie auf lange Zeit nicht mehr erholen, insoweit ist Foucaults Diagnose zuzustimmen. Ob sie sich nur als logozentrische „Archäologie“ betreiben lässt, darf bezweifelt werden.

Der entscheidendste Umbruch, der uns von Foucault trennt, dürfte freilich der völlig neue Modus der Archivierung sein, dem wir unterliegen. Auch wenn man die verschiedenen Weisen der Archivierung für nicht so zentral für die kulturellen Gesamtformationen halten mag wie Foucault, sind seine diesbezüglichen Überlegungen und seine Skizze der Geschichte der „abendländischen“ Kultur- als Archivgeschichte äußerst erhellend. Geht er bereits für seine Gegenwart von der Emergenz „eines integralen Archivs“ (282) aus, in dem sich die Grenzen zwischen Diskurs und Archiv zunehmen auflösen und mithin „der Horizont des Archivs … unbestimmt“ (282) werde – eine durchaus nietzscheanische Diagnose –, leben wir heute in einem ganz neuen Regime der Archivierung, und was das bedeutet, ist noch völlig unabsehbar. Das analoge wird mehr und mehr durch ein rein digitales Archiv ersetzt, dessen Regeln von Statistik und Algorithmen definiert werden. Im Internet freilich sind Diskurs und Archiv vollkommen ununterscheidbar geworden, und der analoge Diskurs erscheint mehr und mehr als ein unwirklicher Schatten des digitalen. Foucaults Konzept des „Diskurs-Archivs“ mag seine Schwachpunkte haben, doch ruft es den Leser dazu auf, sich selbst als „Diagnostiker“ zu betätigen und sich über diese Entwicklungen Gedanken zu machen.

Habermas – „es musste etwas besser werden …“

Jürgen Habermas: „Es musste etwas besser werden…“ Gespräche mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos

geb., 273 S., 28,– €, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024

von Fritz Reheis

Google-Forscher haben jetzt eine „Habermas-Maschine“ entwickelt. Sie soll mithilfe von Künstlicher Intelligenz Menschen im politischen Diskurs zusammenführen können, war zu lesen. Ein letzter, schlagender Beweis, dass es sich bei Jürgen Habermas um einen Ausnahme-Intellektuellen handelt. Habermas, geboren 1929, ist bekanntlich Philosoph und Soziologe gleichermaßen, Begründer der zweiten Generation der Frankfurter Schule und ein durch und durch politischer Mensch, der sich vielfach, zuletzt beim Ukraine-Krieg, in die öffentliche Debatte wortstark eingemischt hat. Inzwischen sind mehr als 250 Interviews mit ihm weltweit publiziert worden.

Der vorliegende Band enthält ein Großinterview, geführt von Stefan Müller-Doohm, emeritierter Professor für Soziologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, und Roman Yos, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Fachgruppe Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal. Beide sind ausgewiesene Habermas-Kenner. Die Besonderheit seines Werkes bestehe darin, so die Einleitung zu einer der Fragen an Habermas, dass er die positiven wie negativen Einflüsse auf sein Werk „nicht nur ordnungsgemäß in Fußnoten“ verzeichne, „sondern geradezu offensiv sichtbar“ mache, „nämlich in einer Vielzahl von Würdigungen, Nachrufen und Portraits“. Habermas habe ein „Subgenre“ des Schreibens entwickelt, dem er bis heute die „Treue“ halte (187). Das Interview mit Habermas beruht auf zwei Treffen am Starnberger See sowie auf einem über viele Monate geführten Mail-Dialog. Die Interviewer vereinbarten mit Habermas, „dass die an ihn gerichteten Fragen sowohl biographische Kontexte berühren als auch „Platz für theoretische Erörterungen und Revisionen einräumen sollten“ (246).

Die Gliederung des Gesprächsbands folgt der Biographie. Es geht um die Stationen Göttingen, Bonn, Frankfurt, Marburg, Heidelberg, erneut Frankfurt, Starnberg und schließlich noch einmal Frankfurt. Thematisiert werden unter anderem die erste Orientierungssuche zwischen Soziologie und Philosophie, die Begegnung und konstruktive Verarbeitung der Kritischen Theorie, der Weg von der „Positivismuskritik“ zur „Kritik der funktionalistischen Vernunft“, vom „nachmetaphysischen Denken“ zur „detranszendentalisierten Vernunft“ und schließlich sein jüngstes Großwerk „Auch eine Geschichte der Philosophie“. „Immer wieder wird deutlich“, so verrät der Einbandtext des Verlags, worum es diesem Philosophen im Kern geht: um „die Begründung des Quäntchens Vernunftvertrauen und der Pflicht zum Gebrauch unserer Vernunft“.

Diese Begründung hängt für Habermas eng mit dem Verhältnis von Soziologie und Philosophie zusammen. „Mich bewegt das Problem, wie ein fragiles und bisher immer wieder zerreißendes soziales Zusammenleben gelingen kann … Mein ‚letztes’ Motiv ist, wenn Sie wollen, die befreiende Kraft des Wortes, die sich nur in den reziprok-egalitären Anerkennungsverhältnissen einer vollständig individuierenden Vergesellschaftung ganz entfalten könnte“ (15 f.). Habermas spricht von einer „Balance“ zwischen „Nähe und Ferne“, „Ja und Nein“, „Zustimmung und Widerspruch“, von „kommunikativen Erfahrungen“, wie sie nur in „sozial halbwegs integrierten Verhältnissen“ möglich seien (16). In Anknüpfung an Kant, Fichte, Schelling und Hegel begleite sein ganzes Werk das Ziel, „eine religiöse Intuition restlos ins Säkulare zu überführen“ (16). Und auf dem Buchcover lesen wir: „Ich halte das Streben, die Welt um ein Winziges besser zu machen oder auch nur dazu beizutragen, die stets drohende Regression aufzuhalten, für ein ganz unverächtliches Motiv.“

Ein Buch, das nicht nur als Einführung in den „Habermas-Kosmos“, sondern auch für fortgeschrittene Habermas-Leser empfohlen werden kann. Das Namensregister erleichtert die Orientierung. Ein Stichwortregister sowie eine Übersicht über Stationen und Wirkstätten sucht der Leser freilich vergeblich.

Benhabib – Kosmopolitismus

Seyla Benhabib: Kosmopolitismus im Wandel. Zwischen Demos, Kosmos und Globus

br., 92 S., 13,– €, Mandelbaum Verlag, Berlin 2024

von Bernhard Schindlbeck

Mit bewundernswerter Ausdauer und Hartnäckigkeit hält Seyla Benhabib gegen alle von den gegenwärtigen Zeitläuften ausgesendeten Signale an ihrem Thema Kosmopolitismus fest, und das mit gutem Recht. Erinnert man sich an ihre vorangegangenen (auch auf Deutsch erschienenen) Publikationen wie Kosmopolitismus und Demokratie. Eine Debatte mit Jeremy Waldron, Bonnie Honig und Will Kymlicka (2006, dt. 2008) sowie Kosmopolitismus ohne Illusionen. Menschenrechte in unruhigen Zeiten (2010, dt. 2016) – dem unter Zeitknappheit leidenden Leser sei der Aufsatz Unterwegs zu einer kosmopolitischen Demokratie? in der Neuen Zürcher Zeitung vom 13.06.2009 empfohlen –, dann darf man mit Fug und Recht resümieren, dass Seyla Benhabib eines der für die kommende Praxis der Menschheit theoretisch wichtigsten Projekte verfolgt, dessen Bedeutung leider noch immer nicht ins Bewusstsein der maßgeblichen Regierenden und Institutionen auf dem Planeten gelangt ist. Eigentlich wissen alle, dass die globalen Krisen wie Klimawandel, Migration und Armut – und neuerdings ganz offensichtlich: die Konkurrenz von Imperialismen mit ihren Stellvertreterkriegen – nicht von den Regierungen auf nationaler Ebene, auch nicht durch internationale Kooperationen gelöst werden können, sondern nur in einem kosmopolitischen Gesamtrahmen. Gegen den aber sperren sich noch immer die meisten Regierungen, vor allem des westlichen Blocks, d.h. die Nachfahren der ehemaligen Kolonialherren.
Im Postskriptum ihres neuen Buches hält Benhabib fest, dass es während der Abfassung des Buches zum Terrorakt der Hamas vom Oktober 2023 kam, der nur dem Anschein nach den Proponenten einer rein machtorientierten „Realpolitik“ Recht gebe, jedoch kein Grund sei, das Beharren aufzugeben, „den latenten emanzipatorischen Gehalt unserer Ideale und Illusionen [mit denen sie sich auf die Frankfurter Schule bezieht – B. Sch.] sichtbar zu machen“ (78).
Das unzweifelhaft enorm wichtige Buch enthält die 2023 von Benhabib am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen gehaltenen Vorlesungen, in denen die Autorin, ausgehend von Grundgedanken Kants (Stichwort „Weltbürgerrecht“), die Möglichkeiten auslotet, zu völkerrechtlich verbindlichen kosmopolitischen Standards zu gelangen, die nationales oder transnational übergreifendes Recht des Demos nicht negieren, aber dennoch transzendieren. In ihrem „kosmopolitische Interdependenz“ genannten Ansatz geht es um „eine Einbettung der demokratischen Selbstbestimmung in ein neues internationales Recht interdependenter Souveränitäten“ (53; Hervorh. im Orig.). Das sieht sehr nach der Quadratur des Kreises aus; ob dem so ist oder nicht, wird nur die Praxis zeigen können. Kantische Vernunftorientierung und „kommunikative Ethik“ (gemeint ist Habermas) sind die philosophischen Stützen, auf denen Benhabibs Auseinandersetzung sowohl mit Kritikern des „kantianischen Kosmopolitismus“ (wie der Aristotelikerin Martha Nussbaum), mit dem politischen Liberalismus als auch mit postkolonialen Theoretikern und Kritikern des Eurozentrismus und westlichen Imperialismus (Walter Mignolo, E. Tendayi Achiume, Dipesh Chakrabarty u.a.), aber auch mit Hannah Arendts Kant-Lektüre und Denkern wie Bruno Latour, Carl Schmitt oder Hans Kelsen ruht. Ihr theoretischer Horizont ist so weit, wie es dem Thema – und dem Globus – gebührt und angemessen ist.
Das erste Kapitel ist der Verteidigung des „kantianische[n] Kosmopolitismus“ gegen seine Kritiker gewidmet, die argumentieren, „dass das kantianische Vermächtnis rundweg abgelehnt und eine andere philosophische Grundlage geschaffen werden müsse“ (25). Seine Forderung, dass alle Staaten die republikanische Regierungsform haben sollten, habe Kant nicht auf die europäischen Kolonien und abhängige Staaten bezogen. Benhabibs wichtigster Referenztext ist natürlich Kants Zum ewigen Frieden (1795), daneben die Metaphysik der Sitten (1797/98). Sie verweist auf Kants eigene Entwicklung hinsichtlich seines Denkens über „Rassen“ und auf seine (gelegentliche) Kritik am europäischen Imperialismus. Allerdings muss kritisch zurückgefragt werden, wie viel Kants Verständnis des „Weltbürgerrechts“ (im dritten Definitivartikel, wo er nebenbei massiv „das inhospitable Betragen“ europäischer Kolonialmächte gegenüber fremden Völkern kritisiert), das er ausdrücklich „auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt“ wissen will, also auf ein (zeitweiliges) Besuchsrecht, für ein heutiges Kosmopolitismus-Konzept hergibt – auch wenn er auf den gemeinschaftlichen Besitz „der Oberfläche der Erde“ hinweist, auf der ursprünglich „niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere“.
Desgleichen ist zu fragen, wie weit die „Prinzipien der kommunikativen Ethik bzw. Diskursethik“ (25) von Habermas im gegebenen internationalen und völkerrechtlichen System ein Weltbürgertum stützen können. Denn Habermas beharrt in seinem Verständnis der deliberativen Demokratie ja darauf, dass diese sich als Ausdruck von Volkssouveränität stets in einem nationalstaatlichen Rahmen (ggf. einem transnationalen wie dem der EU) organisieren müsse, aus dem also immer jemand ausgeschlossen bleibt (z.B. Flüchtlinge, Asylbewerber). Gleichzeitig verlangt die Diskursethik aber, dass „nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten)“ (Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 1983, 103). Das würde bedeuten, dass Asylbewerber bei der Asylgesetzgebung des Landes, von dem sie aufgenommen werden wollen, mitsprechen dürfen. Benhabib übersieht, wie Habermas selbst, diese offensichtliche Unmöglichkeit, um nicht zu sagen: Antinomie.
Anders als etwa die von Benhabib als „Globalisten“ bezeichneten Mitglieder der Gruppe Third World Approaches to International Law (TWAIL) oder E. Tendayi Achiume (von 2017 bis 2022 Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für aktuelle Formen des Rassismus) plädiert Benhabib im zweiten Kapitel ausdrücklich nicht „für eine Welt ohne Grenzen“ (47). Während Achiume „das Konzept der ‚exklusiven Souveränität‘ ins Visier [nimmt], die vorherrschende hegemoniale Vorstellung der westlichen und nördlichen liberalen Demokratien, die es ihnen erlaubt, Migranten und Asylsuchende von ihren Gestaden auszuschließen“ (41), behauptet Benhabib: „Demokratien brauchen juristische Grenzen.“ Denn: „Wir müssen wissen, in wessen Namen ein Gesetz erlassen wird, und wir müssen wissen, wie wir von denen, die es erlassen, und von denen, die dagegen verstoßen, Rechenschaft verlangen können. Wir brauchen sowohl nationale als auch transnationale Gerichte, um den Schutz und die Stärkung von Rechten sowie die Bestrafung von Tätern, die sie verletzen, zu gewährleisten. Aber diese Grenzen der Gerichtsbarkeit sind nicht gleichbedeutend mit militärisch bewaffneten und gewaltsam bewachten Grenzregimen“ (47 f.).
Man sieht, wie sehr Benhabib auf das Recht, insbesondere das Völkerrecht, baut. Das ist gewiss gut gemeint, verkennt jedoch, dass erstens das Recht grundsätzlich ein Gewaltverhältnis ist, und dass zweitens die Sanktionsgewalt, die hinter dem Völkerrecht steht, zweifelhaft ist. Ist ein Staat mächtig genug, internationales Recht ohne die Gefahr von Sanktionen zu brechen (etwa weil er im UN-Sicherheitsrat eine Vetostimme hat oder eine Vetomacht ihre schützende Hand über ihn hält), dann tut er es. Die Geschichte kennt genügend Beispiele. Die Ohnmacht des Internationalen Gerichtshofs wurde z.B. 1984 und 1986 von den USA vorgeführt, die das Urteil gegen sie wegen Unterstützung der Contra-Rebellen in Nicaragua und Verminung der nicaraguanischen Häfen schlicht ignorierten. Als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte der britischen Regierung die Abschiebung von Asylbewerbern nach Ruanda im Juni 2022 untersagte, erklärte die Regierung, man könne aus dem Europarat und der Europäischen Menschenrechtskonvention ja auch austreten und die Zustimmung zur Genfer Flüchtlingskonvention widerrufen. Das Völkerrecht macht mächtige Regierungen nicht zittern. Die Regierungen in dieser Welt, die nicht jederzeit aus Opportunismus Menschenrechte verletzen, kann man vermutlich an einer Hand abzählen. Sich auf das Recht und Gerichte zu verlassen, ist also nicht unbedingt der erfolgversprechendste Weg zu einer kosmopolitisch gestalteten Welt und für „Projekte der Weltgestaltung und des Welt-Teilens durch gemeinsames Engagement in Praktiken und Institutionen“ (38).
Und warum sollten wir, wie Benhabib behauptet, unbedingt wissen, „in wessen Namen“ ein Gesetz erlassen ist? Die vor Gericht beim Urteilsspruch benutzte Floskel „Im Namen des Volkes“ ist ja nur eine leere und Legitimation bloß erheischende Redeweise. In Deutschland erleben wir gegenwärtig, wie von den „demokratischen Parteien“ das Recht auf Asyl geschleift wird, um rechtspopulistische Ressentiments zu bedienen, und dass auch ein (grundsätzlich auslegungsbedürftiger) Verfassungswortlaut faktisch wenig wert ist. In der von exorbitanter Dummheit zeugenden Interpretation des Bundeskanzlers lautet z.B. das Asylgrundrecht in der Verfassung: „Wir dürfen uns aussuchen, wer zu uns kommen darf und wer nicht.“ (Spiegel 36/2024). Eine deutsche Regierung hält von Projekten „des Welt-Teilens“ so wenig wie jede andere westlich-demokratische Regierung. Benhabib selbst weist darauf hin, dass nach der Entkolonialisierung die wirtschaftlichen Unterschiede fortbestanden und durch „die Funktionsweise der Breton-Woods-Institutionen, die nochmals neuere Techniken zur Aufrechterhaltung von Ungleichheits- und Hierarchieverhältnissen formulierten“ (39), zementiert wurden. Sie schreibt: „Wir müssen fragen: … Wie kann ein interaktiver Universalismus nicht nur im Bereich der Moralphilosophie gedacht werden, sondern ganz konkret als eine Form des Institutionenaufbaus und des Welt-Teilens? Versuche zur Dekolonisierung des Völkerrechts hin zu einem integrativeren Kosmopolitismus können den Weg weisen.“
Gibt man als Realist zu, dass die Mächtigen und Regierenden der Ersten Welt kein Interesse an einer Dekolonisierung des Völkerrechts und an einem Welt-Teilen haben, bleibt die Frage: Wer soll denn das Wir im „Wir müssen fragen …“ sein? Es sind eben nur ein paar Moralphilosophen (in Europa und USA) und mehrere Aktivisten aus der Dritten Welt. Dass die heutige sogenannte „Migrationskrise“ ein Ergebnis des westlichen Imperialismus ist, wird in der Öffentlichkeit der kapitalistischen Industriestaaten ignoriert oder glatt geleugnet. Benhabib plädiert (mit Achiume) dafür, „die Unterscheidung zwischen dem politisch verfolgten Flüchtling und dem Wirtschaftsmigranten“ endlich aufzugeben. „Angesichts der langen Geschichte des europäischen Imperialismus in Afrika, Südamerika und dem Rest der Welt ist diese Unterscheidung zwischen dem unehrenhaften Wirtschaftsmigranten und dem ehrenwerten politischen Flüchtling heuchlerisch und unhaltbar“ (42). Vom deutschen Kanzler jedoch werden die Wirtschaftsmigranten bekanntlich als diejenigen bezeichnet, „die kein Recht haben, hier bei uns zu sein.“ Woran man einmal mehr sieht, dass Recht (das seiner Natur nach sowieso kontingent ist) stets sehr beliebig interpretiert und verwendet werden kann.
Das dritte, mit „Der Globus als Welt, Erde und Planet“ überschriebene Kapitel beleuchtet die durch im Anthropozän erzeugten globalen Problematiken (vor allem die Klimakrise) aus Chakrabartys „planetarischer“ Perspektive, die das Globale „überschreibt“, und mit Bruno Latours Konzept des „Terrestrischen“. Beide streben eine „epochale Neuorientierung im Denken“ (63) an, die Benhabib mit der Kritik an moderner Wissenschaft und Technologie sowie moderner Politik konvergieren sieht, „wie sie von der bekannten Tradition des antimodernen reaktionären Denkens vertreten wird, für das die Philosophen Heidegger und Schmitt stehen.“ (ebd.) Über Hannah Arendt, die bekanntlich einen Weltstaat und ein Weltbürgertum ablehnte, und deren Dialog mit Karl Jaspers (dessen Buch Die Atombombe und die Zukunft des Menschen 1957 erschien) kommt Benhabib, die Gefahr des Atomkriegs und den Klimawandel implizit nebeneinanderstellend, zu Arendts schon 1958 vorgetragener Einsicht und zitiert: „Diese auf Furcht vor globaler Zerstörung gegründete negative Solidarität [Hervorh. B. Sch.] ist begleitet von einer weniger evidenten, aber nicht weniger wirksamen Befürchtung politischer Natur. Positive Solidarität im Politischen kann es nur geben auf Grund gemeinsamer Verantwortlichkeit“ (67).
Wie Arendt folgt auch Benhabib Kants Behauptung in Zum ewigen Frieden, dass ein Weltstaat „ein seelenloser Despotism“ sei, der nicht die „Idee des Völkerrechts“, nämlich „die Absonderung vieler von einander unabhängiger benachbarter Staaten“ ersetzen dürfe – ohne zu fragen, wie plausibel Kants Begründung („Aber die Natur will es anders.“) wirklich ist. Dass Staaten, die ja grundsätzlich um Investitionen, Ressourcen, Arbeitskräfte und Macht konkurrieren, selten zu tragfähigen und nachhaltigen Kooperationen finden und ihrer „gemeinsamen Verantwortlichkeit“ eben nicht nachkommen, was man auch tagtäglich auf den ersten Blick sieht, ignorieren Kant, Arendt und Benhabib gleichermaßen. Mit den Überlegungen von Chakrabarty decke sich, schreibt Benhabib, Arendts (sowie Jaspers‘) Urteil, „ ‚daß das Auftreten der Menschheit als greifbare politische Realität das Ende der in der Achsen-Zeit beginnenden Weltgeschichte kennzeichnet … Was jetzt nach dem Ende der Weltgeschichte beginnt, ist die Geschichte der Menschheit“ (68). Bei dieser Denkfigur der „eigentlichen“ Geschichte der Menschheit „nach“ dem Vorhergegangenen darf man sich an einen ähnlichen Gedanken im Marxismus erinnern. Jedoch genau davon setzt sich Benhabib ab: „Aber diese ‚Menschheit‘, die am Ende jener Epoche der Weltgeschichte auftaucht, ist keine Spezies – kein ‚Gattungswesen‘, wie Feuerbach oder Marx vielleicht gesagt hätten. Die Philosophie der Menschheit darf den Menschen nicht als ein singuläres Subjekt betrachten, das ‚im einsamen Dialog zu sich selbst‘ redet, sondern als ‚die Menschen, die miteinander reden und sich verständigen‘. Die conditio humana ist eine Pluralität, nicht Singularität.“ (68; Zitate aus: Hannah Arendt, Menschen in finsteren Zeiten). Fraglich an dieser Marx-Kritik ist freilich, warum man das Gattungswesen nicht als Pluralität denken können sollte. Der grammatikalische Singular impliziert nicht notwendig eine semantische Singularität.
Offen bleibt also am Ende des Buches, wie die Einbettung demokratischer Selbstbestimmung vieler einzelner Staaten in das neue internationale Recht „interdependenter Souveränitäten“ vor sich gehen und wie diese Interdependenz sich gestalten soll. Die Interdependenz besteht ja bereits, nur ohne jeden positiven Effekt für einen Kosmopolitismus. Ebenso bleibt unklar, wie sich „die Ideale der kommunikativen Ethik mit dem kosmopolitischen Ansatz“ verknüpfen lassen, ohne die sogenannte demokratische Selbstbestimmung (die Volkssouveränität) weitestgehend auszuhebeln. Vor allem vergisst Benhabib (wie schon Kant und Arendt), dass es faktisch keinen „gemeinschaftlichen Besitz der Oberfläche“ der Erde gibt. Die Erdoberfläche (Grund und Boden) ist längst überwiegend das private Eigentum von Konzernen (juristischen Personen) und natürlichen Personen. Und Privateigentum bedeutet immer den willkürlichen Ausschluss anderer Personen vom Gebrauch. Gerade in Kants Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre ist dies die raison d’être des Rechts. Der Kosmopolitismus kann sich mithin bestenfalls auf einen halbierten Kant berufen.
Insgesamt kommt das Buch also nicht über den Appell hinaus, von dem man jedoch nach aller Erfahrung weiß, dass er bei den relevanten Institutionen, Politikern und Wirtschaftsführern auf taube Ohren stoßen wird.

Später – Adornos Erben

Jörg Später: Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik

geb., 760 S., 40,– €, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024

von Lothar Butzke

Der Historiker und Journalist Jörg Später möchte eine Geschichte der Bundesrepublik erzählen, von der Rückkehr Adornos und Horkheimers nach Frankfurt am Main bis zum Ende der alten Bundesrepublik. 20 Jahre mit und 20 Jahre ohne Adorno. Adornos Tod bildet darin die Zäsur. Er interessiert sich für die ersten Schüler und Schülerinnen Horkheimers und vor allem Adornos, die später dann von der Theoriegeschichtsschreibung als ‚zweite Generation’ der Kritischen Theorie bezeichnet wurden. Diese ‚zweite Generation’ nennt er „Adornos Erben“.

Später wählt zwölf Schüler und Schülerinnen aus „aufgrund ihrer Funktion im Adorno-Orbit oder einer Rolle, die sie nach 1969 spielten“ (11). Bei ihnen handelt es sich um Jürgen Habermas, Oskar Negt, Hermann Schweppenhäuser, Rolf Tiedemann, Karl Heinz Haag, Alfred Schmidt, Herbert Schnädelbach, Ludwig von Friedeburg, Gerhard Brandt, Helge Pross, Regina Becker-Schmidt und Elisabeth Lenk. Hinzu kommt Alexander Kluge „stellvertretend für viele Zaungäste aus Kunst und Kultur“ (11). Der Autor nutzt dazu neben der Literatur auch die Nachlässe, bei Habermas auch den Vorlass, die in verschiedenen Archiven liegen und hat, soweit noch möglich, auch Gespräche mit ihnen geführt.

Zunächst wird auf rund 140 Seiten die Geschichte des Instituts für Sozialforschung, das Exil und Adornos Wirken als Universitätslehrer mit den ersten Schülern und Schülerinnen bis zu dessen Tod geschildert. In den weiteren Teilen verfolgt er dann die Lebensläufe und akademischen Laufbahnen der genannten Erben und betrachtet sich dabei als „Chronisten, der eine profane Rekonstruktion der Frankfurter Schule und ihrer kritischen Theorien versucht“ (14). Was dabei „die Kritische Theorie der Frankfurter Schule war, beziehungsweise ist, soll nicht mit einer Definition vorab geklärt werden, sondern bildet das hier Darzustellende. So wie in einer Familie über die Erbschaft gestritten wird, haben Adornos Schüler und Schülerinnen miteinander um das angemessene Verständnis von Kritischer Theorie gerungen“ (11) – so, als wäre der Inhalt Kritischer Theorie beliebig, als hätte es den grundlegenden Aufsatz von Horkheimer nie gegeben, und als hätte Habermas nicht explizit davon gesprochen, er wolle keine Tradition fortsetzen, sondern seine eigene Theorie entwickeln. Diese Brüche werden von Später nicht thematisiert.

Dieses recht äußerliche und oberflächliche Verhältnis zur Theorie durchzieht das ganze Buch. Dabei passieren der Autor auch fatale Schnitzer, die sowohl am Verständnis der Philosophie als auch an der Kenntnis der Person Adornos zweifeln lassen. So zitiert er aus einem Aufsatz, den es so nicht gibt: „Wozu noch Philosophie?“ (634, Anm. 43). Adornos Titel enthält jedoch kein Fragezeichen (vgl. Adorno, GS Bd. 10/2), vielmehr ist der Aufsatz die Antwort auf die Frage. Auch lernte Adorno Rudolf Kolisch 1925 in Wien kennen (Adorno/Kolisch, Briefwechsel, Berlin 2023, 805 f.) und nicht in New York und René Leibowitz 1947 in Los Angeles (Adorno, Briefe an die Eltern, Berlin 2003, 437) und nicht in Darmstadt (608, Anm. 11). Das sind Kleinigkeiten, die sich aber hätten klären lassen. Später hätte schweigen können, statt Falsches zu behaupten. Er bemerkt auch nicht, wenn ein zentraler Gedanke Adornos und Horkheimers aus der „Dialektik der Aufklärung“ sinnentstellend zitiert wird: „Eingedenken in die Natur“ (Habermas-Zitat, 452) statt „Eingedenken der Natur im Subjekt“ (Adorno, GS Bd. 3, 58; oder Horkheimer, GS Bd. 5, 64). Er verwendet die Phrase zudem noch, um die Kritik Schnädelbachs an Adorno zu beschreiben: „Über die ‚simple Lösung’, dass man der gigantischen weltgeschichtlichen Fehlstruktur durch ‚Eingedenken in die Natur’ beikommen könne, konnte Schnädelbach nur noch den Kopf schütteln“ (484). Bei Adorno jedoch gibt es diesen Satz nicht.

Des weiteren referiert Jörg Später Thesen von Adorno sowie die Kritik an ihnen, wobei er allerdings der offiziellen Lesart, wie sie von Habermas, Schnädelbach und Honneth propagiert wird, unkritisch folgt bis hin zu der lapidaren Zusammenfassung von Schnädelbachs Kritik: „Adornos Philosophie stimmt eben nicht“ (537), so, als hätte Adorno sich bei einer Rechenaufgabe vertan (Adorno, 6, setzen!). Oder: „Habermas stand im Unterschied zu seinem Lehrer mit beiden Beinen in der Wissenschaft“ (257), als hätte Adorno nie Sozialforschung betrieben. Er wiederholt, was Axel Honneth und andere als Theoriegeschichte konstruiert haben: „eine Erbschaftslinie von Adorno zu Habermas im Sinne des wissenschaftlichen Fortschritts“ (D. Claussen, Kann Kritische Theorie vererbt werden? In: T. Freytag/M. Hawel (Hg.), Arbeit und Utopie. Oskar Negt zum 70. Geburtstag, Frankfurt/Main 2004, 275). Selbstverständlich kommen auch die ‚orthodoxen’ Schüler und Schülerinnen zu Wort; nur bleiben sie dagegen recht blaß. Es ist offenbar Habermas, der die Kritische Theorie beerbt hat, ob er das selbst wollte oder nicht.

Das Buch ist zudem zu großen Teilen in einem unangenehmen, flapsigen und bei Personen oft auch herablassenden und gönnerhaften Ton geschrieben. Da ist von „bürgerliche(r) Software“ (27) die Rede, vom „Spirit des linken Unimilieus“ (423), von „Akteuren, die ihr Ding machten“ (336), von Habermas und Luhmann als „Alphatiere(n) der … Soziologie“ (437). Später teilt aus, wo immer er einen Lacher vermutet: Negts „philosophische Höhenflüge (88)“ und sein „Comte-und-Hegel-TÜV“ (90), der „Zwölftoncineast“ Kluge, dessen Filme spät abends in der „Glotze“ (395) laufen, Regine Lenk die für ihre Professur „vorsingen durfte“ (296). Besonders angetan hat es ihm offenbar Rolf Tiedemann. Zum Tode von dessen Sohn schreibt er im Stile der „Gala“: „Ein grausamer Schock, ein unbeschreiblicher Schmerz, ein kaum zu ertragendes Schuldgefühl – was auch immer in Tiedemann vorging, sein Leben war mit Sicherheit von einem Tag auf den anderen nicht mehr dasselbe“ (294). Und auch beruflich hatte Tiedemann viel Ärger: „Ab und zu schleuderte er eine Tirade in geschliffener Formulierung hinunter, dann vergrub er sich wieder und leckte sein Wunden“ (302). So genau wollten wir das freilich gar nicht wissen.

Nachdem Adornos Theorien nun mal in einem „ausweglosen Negativismus“ (541) endeten, der Erkenntnis nur noch ästhetischen Werken zuerkannte, und sie letztlich einfach nicht stimmten (vgl. 537), während sein ‚Erbe’ Habermas fest „mit beiden Beinen in der Wissenschaft“ stand (257) und sie daher „für nicht mehr zeitgemäß“ (479) befand, war es wohl nichts mit dem Erbe – außer dem Etikett ‚Kritische Theorie’..

Wozu, fragt sich der Leser, sollte man sich dann überhaupt noch mit Adorno abgeben? Weil Adorno die „jüdische Vorstellung“ (403) und die „jüdische Erfahrung“ (586) des Zivilisationsbruchs, mithin das „Auschwitzbewußtsein“ (586) gehabt hatte, während die restliche linke Intelligenz „einfach in einem anderen Film“ (465) war? Nur, man muss nicht Jude sein, um zu begreifen, was der Holocaust bedeutete. Schließlich wurden Auschwitz und der Holocaust Ende der 80er Jahre thematisiert, unter anderen von Dan Diner und Detlev Claussen. Hier hätte Später die unterschiedliche Bedeutung, die diese Erfahrung in den Theorien von Adorno, aber auch Horkheimer, Marcuse und Löwenthal einerseits und bei Habermas, Schnädelbach und Honneth andererseits hatte, herausarbeiten können. Stattdessen bleibt es bei dem blassen Statement: „mir scheint die ‚jüdische Erfahrung’ der Gründergeneration ein konstitutives Element zu sein, das lange übersehen wurde und oft unterschätzt wird“ (586). Dies ist in der Sekundärliteratur jedoch längst behandelt worden. Vielen anderen jedoch war recht schnell klar, dass für Habermas diese Erfahrung, im Gegensatz zur ‚ersten Generation’ kritischer Theorie, nicht konstitutiv für seine eigene Theorie war, sondern sie lediglich das Kolorit oder die Stimmung der Zeit betraf.

Trotzdem habe ich das Buch mit Interesse und Gewinn gelesen. Denn zum ersten mal wird die Geschichte von Adornos Schülern und Schülerinnen detailliert im Zusammenhang mit der deutschen Nachkriegsgeschichte erzählt. Viele Namen erhalten ein Gesicht, und wen man nur als Autor oder Namen kannte, erhält jetzt eine Biographie und nicht zuletzt, der ‚Adorno-Kosmos’ wird vor Augen geführt. Man erfährt, welche Rolle Gretel Adorno am Institut spielte, wie Habermas nach Starnberg ans Max-Planck-Institut wechselte und wieder nach Frankfurt kam. Die Querelen um das hessische Hochschulrahmengesetz werden geschildert, durch die man Kontinuitäten konservativer Politik erfahren kann wie bei Bernhard Vogel, der damals gegen das sozialdemokratische Gesetz hetzte und erst kürzlich in seinen Erinnerungen Bodo Ramelow für gefährlicher für die Demokratie hält als die gesichert rechtsextremistische AfD. Es wird die gesellschaftliche und politische Stimmung mit Studentenrevolte und anschließendem Terror der RAF, für den Adorno und die kritische Theorie verantwortlich gemacht wurden, geschildert. Die darauf folgende Sympathisantenhetze mit Berufsverboten, der deutsche Herbst werden ebenso vor Augen geführt wie Kohls ‚geistig-moralische Wende“ und schließlich der Historikerstreit um Nolte. Interessant sind die Probleme, die Rolf Tiedemann mit dem Adorno- und Benjamin-Archiv und der Herausgabe der Gesammelten Schriften Benjamins hatte, bis hin zum Rechtsstreit mit dem Suhrkamp Verlag um eine angemessene finanzielle Beteiligung der Erben Benjamins. Und es beeindruckt, wie sich vor allem Habermas immer wieder in die politischen und intellektuellen Debatten eingemischt hat. Es entsteht so ein lebendiges Bild der Zeit bis 1989, und man erhält einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der Schüler und Schülerinnen und ihre Beteiligung an den politischen und theoretischen Debatten.

Späters Buch ist sicher nicht geeignet, in die Theorien Adornos oder die Kritische Theorie einzuführen. Dazu wird man die Texte selbst lesen müssen mit geeigneter Sekundärliteratur wie den zitierten Aufsatz von Detlev Claussen oder „Das Eingedenken der Natur im Subjekt“ von Gunzelin Schmid Noerr (Darmstadt 1990). Aber man gewinnt einen lebendigen Einblick ins Wirken seiner Erben in der ‚alten’ Bundesrepublik.