Zizek – Die Paradoxien der Mehrlust

Slavoj Žižek

Die Paradoxien der Mehrlust. Ein Leitfaden für die Nichtverwirrten

Tb., 491 Seiten, 22,- €, Frankfurt/Main 2023 (S. Fischer-Verlag)

von Ottmar Mareis

Im ersten Teil seines Buches unternimmt Žižek den Versuch, den Kapitalismus durch das Theorem der Mehrlust, das auf Jacques Lacans Jouissance basiert, zu erklären. Der Kapitalismus, so Žižek, bestehe hauptsächlich aus dem Mehrwert, den die Kapitalisten aus der Arbeit der Proletarier und Angestellten pressen. Dieser fließe ihnen automatisch zu und sei das Wesen des profitorientierten Wirtschaftens. Der Kapitalismus sei mit dem Mehrwert in so essentieller Weise verbunden, dass alle Anstrengungen, den Kapitalismus abzuschaffen, an dieser unverwüstlichen Verflechtung gescheitert sind und daran scheitern werden. Diese Lust, aus der Arbeit anderer Mehrwert zu schöpfen, entspricht nach Žižek dem Konstrukt der Mehrlust in der Theorie Lacans. Doch dieser Vergleich von Mehrwert und Mehrlust hinkt ziemlich, wie sich zeigen wird. Er könnte erklären, warum Žižek sich einen lacanschen Marxisten nennt; aber mindestens die Hälfte der von ihm im Weiteren vorgestellten lacanschen Konstrukte belegen, dass sie nichts mit der Rationalität der Analysen von Marx gemein haben, sondern vielmehr in einen Obskurantismus münden.

In seinem Werk bemüht sich Žižek die Fortdauer des Kapitalismus anhand ausgewählter lacanscher Theoreme zu erklären und diese allgemein verständlich zu machen. Er unterschlägt jedoch, dass Lacan zu seiner Zeit der wohl größte Kritiker der französischen 68er wie der Linken war. Zudem würde Lacan es vehement ablehnen, mit Marx kurzgeschlossen zu werden, wie übrigens vice versa genauso Marx, was Lacan betrifft. Der Redlichkeit halber hätte Žižek eine Geschichte schreiben müssen, wie und mit welchen Theoremen Lacan die Linke in den 70ern so vehement angriff. Als notorischer Lacanverehrer versucht Žižek stattdessen, die lacanschen Konstrukte der Jouissance, der Erwartung der Mehrlust, der Jouissance des großen Anderen sowie der subjektiven Destitution für eine Gegenwartsanalyse fruchtbar zu machen. Die Frage stellt sich daher, ob und in welchen Teilen seines Werks ihm das gelingt.

Im Hauptteil des Buches wird Lacans Theorie, wie schon in anderen Büchern, vertieft und angewendet. Nach Lacan, der 1981 starb, leben wir seit den 70er Jahren in der Postmoderne, in der es, nach der 68er Studentenrevolte und ihrer “sexuellen Befreiung“ im Westen, kaum mehr Unterdrückung gebe. In Lacans Denken ist das (sexuelle) Begehren jedoch essentiell als Reaktanz auf die Unterdrückung angewiesen. Aus seiner Sicht begann daher mit dem Verschwinden der Unterdrückung auch das ‚Endspiel‘ des Begehrens. Das Begehren, der Eros, befinde sich sozusagen in einer profunden Agonie, die schwere psychische Folgen zeitige. Diese lassen sich an der enormen Zunahme, ja der Epidemie von Burnouts und Depressionserkrankungen seit dieser Zeit ablesen.

Žižek geht es im Folgenden darum aufzuzeigen, dass die Mehrlust, durch ihre Tücken und Paradoxien hindurch, auch gravierende repressive Konsequenzen birgt. Einen ersten Eindruck dieser Paradoxie vermittelt Žižek am Verhalten Lacans bei dessen öffentlichen oder privaten Diners, nicht nur im Kreis seiner Student:innen. Für ihn sei es bei solchen Anlässen völlig normal gewesen, lustvoll laut zu furzen, – ohne dass er darauf angesprochen wurde. Erschien Lacan das Gericht von Gästen als schmackhafter als das von ihm bestellte, tauschte er die Teller ungefragt aus, – ohne dass die Betroffenen sich wehrten. Auf diese Szenen folgend, lotet Žižek detailreich aus, warum wir uns nicht wehren, was wir von solcher Unterdrückung haben und mehr noch, „warum wir unsere Unterdrückung genießen.“ Er führt an Beispielen aus der Literatur, Musik und Filmen (Vikings, Solaris, Katla, Rammstein, Schostakowitsch) aus, warum vor allem das Genießen der Unterdrückung mit der Erwartung der Mehrlust des Begehrens verbunden ist, und wie diese am lacanschen Theorem vom großen Anderen andockt.

Plastisch wird dies anhand des ersten Finales von Bert Brechts „Dreigroschenoper“ veranschaulicht. In ihm wünscht sich Polly einen Mann, den sie wirklich lieben kann. Auch wenn Vater Peachum ihr mit der Bibel in der Hand Recht gibt, kommt unerwartet die Wende: „Das Recht des Menschen ist‘s auf dieser Erden, da er doch nur kurz lebt, glücklich zu sein, teilhaftig aller Lust der Welt zu werden, zum Essen Brot zu kriegen und nicht einen Stein. Das ist des Menschen nacktes Recht auf Erden, doch leider hat man bisher nie vernommen, dass etwas recht war und dann war’s auch so! Wer hätte nicht gern einmal Recht bekommen? Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so… Wir wären gut anstatt so roh. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.“

Žižek merkt an, dass dieser Text sich nur mit Weills raffinierter Musik deuten lässt. Die erste Hälfte mutet an wie eine getragene, langweilige religiöse Predigt. Die zweite jedoch weist eine fröhlich zynische, quirlige Intonation auf: „Die offensichtliche Freude, mit der das Unerfreuliche (die traurige Botschaft) überbracht wird, ist die Mehrlust in ihrer reinsten Form.“ Die letzten zwei Sätze nehmen gar einen ekstatischen Ton an. Žižek beobachtet parallel dazu, dass auch bei den Linken oft auf „die Verhältnisse“ verwiesen wird, die sie allein nicht ändern können. Er macht darin eine ähnlich heuchlerische Jouissance aus, dass man, um gegen sie zu kämpfen, selbst auch roh sein dürfe, dass man also das Rohsein gewissermaßen ausschweifend genieße.

Diesem zynischen Genießen geht Žižek noch weiter auf den Grund. Dass wir durch unsere Entfremdung hindurch genießen, bedeute, dass unser Genießen durch den großen Anderen vermittelt sei. Genauer gesagt: das für uns unzugängliche Genießen des Anderen, z.B. das dem Mann unzugängliche Genießen der Frau oder das imaginierte Genießen einer fremden Ethnie, wird projektiv sadomasochistisch verstärkt.

So gehe es auch bei der von Donald Trump bis heute aufrechterhaltenen Lüge „Stop the Steal“, mit der er seine Fans aufs Kapitol hetzte, nur oberflächlich um den vermeintlichen Klau der Wahl. Unbewusst skandierten sie vielmehr: „Stoppt den verrückten Genußklau, now!“ Im karnevalesken Charakter des Kapitolsturms plus dazugehörigem Schamanen agieren Trumps Fans eigentlich das Zurückerobern derjenigen Jouissance aus, die sie bei anderen ethnischen wie Gender-Gruppen (PoC, Mexikanern, Arabern, LGBTQ-Personen etc.) wirken wähnen. In Anlehnung an die slowenische Philosophin Alenka Zupancic weist Žižek darauf hin, dass es sich hierbei weniger um ein individuelles persönliches Genießen handelt, sondern – ähnlich einem unpersönlichen Gottesglauben – um ein unpersönliches Genießen durch das „Subjekt einer Gestalt des großen Anderen.“ Dieses unpersönliche Genießen definiere als eine Art monströser Befangenheit die Perversion. So ist auch nach Lacan der Perverse derjenige, der sich als Werkzeug des Genießens des Anderen begreift. Dass wir angeblich oft wegsehen oder den Blick abwenden, wenn Marginalisierte geopfert werden, zeigt nach Lacan, „dass wir im Objekt unserer Begierden die Bestätigung dafür suchen, dass ein Begehren jenes Anderen, den ich hier Deus obscurus nennen will, präsent ist.“ Der monströse Bann oder die Befangenheit, in der ein Perverser handele, spiegele wider, was er für das Genießen seines Abgotts tut. Der Perverse sei daher kein fieser Kretin, der es genieße, seine Opfer zu quälen, sondern „ein kalter Profi, der seine Pflicht auf unpersönliche Weise um der Pflicht willen tut.“

Nach der Erklärung solchen Genießens vertritt Žižek eine weitere gewagte These, die seine bisherige stützen soll. Nach Hannah Arendt basiere die Verwandlung eines „gewöhnlichen Sadisten zu einem richtigen Perversen“ auf einer bewussten, absichtlichen Reorganisation wie in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, als nämlich die SS die Lagerverwaltung von der SA übernahm.

„Hinter der blinden Vertiertheit jener SA-Leute war oft deutlich ein überwältigender Haß des Ressentiments zu spüren gegen alle sozial oder geistig oder körperlich besser Weggekommenen, die man nun, als Erfüllung unmöglich geglaubter Wunschträume, in seiner Macht hatte. Es ist bezeichnend, dass dieses Ressentiment, von dem auch noch später in den Konzentrationslagern einiges zu spüren war, auf uns wie ein letzter Rest menschlich verstehbaren Verhaltens wirkt. Das eigentlich Grauenhafte der Lager jedoch ist, dass diese spontane Vertiertheit in den deutschen Lagern mehr und mehr zurücktrat, nachdem die SS ihre Verwaltung übernommen hatte, und von einer absolut kalten, absolut berechnenden und systematischen Zerstörung der menschlichen Körper zum Zwecke der Zerstörung der menschlichen Würde abgelöst wurde, die sich genug in der Gewalt hatte, den Tod zu verhindern oder auf unabsehbar lange Zeit hinauszuschieben. Die Lager waren jetzt nicht mehr der Tummel- und Vergnügungsplatz von Bestien in Menschengestalt, das heißt von Menschen, die eigentlich in Schwachsinnigenheime, Irrenanstalten und Gefängnisse gehörten, sondern umgekehrt: sie wurden zu den Exerzierplätzen, auf denen vollkommen normale Menschen zu vollgültigen Mitgliedern der SS erzogen wurden.“ (Arendt)

Als Beispiel führt Žižek Adolf Eichmann an, der sich immer auf den Befehlsnotstand berufen hatte, der Befehlen angeblich nur gehorchte, um seine Pflicht als Bürokrat zu tun. Er wollte keinerlei persönlichen Genuss verspürt haben, als er die Shoa ins Werk setzte, obwohl ihm irgendwie klar war, dass er dieses Grauen maßgeblich mitorganisierte. Doch Žižek insistiert darauf, dass genau diese Pflicht Teil seines Genießens war, es war sogar „das, was seinem Genießen ein Mehr hinzufügte – er genoss, aber er genoss auf eine rein interpassive Weise durch den Anderen, den dunklen Gott, den de Sade als das höchste Wesen an Bösartigkeit bezeichnet (l’être suprême en méchanceté).“

Žižek versteht sein Werk durchaus als kritische Reflexionsform, so jedenfalls lassen sich Teile seines Buches lesen. Doch die Frage sei erlaubt, ob er nicht im Hauptteil mit Theoremen arbeitet, die denen ultrakonservativer, reaktionärer, theologischer und sogar faschistischer Provenienz ähneln. Denn Hitler und die NSdAP wollten dem „deutschen Volk“ sowohl ihren Willen als auch den unbedingten Gehorsam aufzwingen. Aber hat sich dieses Volk nicht freiwillig ekstatisch seinem „obskuren Gott“ unterworfen? Und hat es die Unterwerfung nicht ultimativ genossen? Mit Lacan formuliert: Hat das Volk nicht alles für die Jouissance des Führers getan, mehr noch, „sich als Werkzeug des Genießens des großen Anderen begriffen?“ Wenn aber Žižek solche lacanschen Konstrukte der Jouissance auf den Nationalsozialismus bezieht, – laufen sie nicht auf eine Exkulpierung der je individuellen Schuld hinaus? Und hatte nicht schon Adolf Hitler in „Mein Kampf“ fabuliert, dass man das Volk als passive Masse, als Frau, begreifen solle, die es genießt, unterworfen zu werden? Jeder mag selbst entscheiden, ob diese Argumentationsmuster einander „verwandt“ sind.

Im letzten Teil des Buches wendet sich Žižek der „subjektiven Destitution“ zu, einem weiteren lacanschen Theorem. Diese sieht er etwa im Selbstopfer der Brechtschen „Maßnahme“ wie auch in der Begeisterung jeglicher revolutionärer Bewegung am Werke. Die freiwillige Zustimmung zur eigenen Opferung unter die Ideologie der kommunistischen Partei beziehungsweise ihren Richterspruch sei zudem die Methode der Wahl, um dem korrumpierten Genießen, wie es in der „Dreigroschenoper“ vorgeführt wird, zu entkommen. Man bleibt öfter sprach- und ratlos bei Žižeks Interpretationen; denn es bleibt offen, ob er diesen Deutungen nicht auch zustimmt.

In der subjektiven Destitution, so Žižek, sei „das Subjekt radikal gespalten in eine reine Leere und das Objekt, das es ist.“ Auf diese Weise würden wir „die Sterblichkeit überwinden und erlangen den Zustand des Untoten: kein Leben nach dem Tod, sondern Tod im Leben, keine Aufhebung der Entfremdung, sondern extreme, selbstabschaffende Entfremdung – wir geben den Maßstab auf, an dem wir Entfremdung messen.“ Diese Auflösung sieht er auch in den Nirwana-Religionen, den Mystikern und letztlich in den Bewegungen des religiösen Fundamentalismus wie den Taliban am Werk. Sie immunisiere gegen Vernunftgründe und mache ihre Vertreter unerreichbar, zudem unangreifbar.

Da der westliche Universalismus nach Žižek an einem passiven Nihilismus leide, evoziere er religiöse Fundamentalismen als Reaktanz. Ihnen gelte es, mit einem aktiven Nihilismus a là Nietzsche zu begegnen, d.h. mit einem Ausbruch wahrer selbstzerstörerischer Negativität, den Žižek anhand distinguierter Produkte der Popkultur wie auch an dem Film und der Figur des „Jokers“ erklärt. Der Joker ist eine vollkommen vereinsamte Figur, die dem Missbrauch und der Vernachlässigung durch seine psychisch kranke Mutter ausgesetzt war, die ihrerseits, vielen Alleinerziehenden gleich, unter Vereinsamung litt. Die kritische Perspektive des Films besteht nun darin, dass er die kapitalistische Gesellschaft und ihre Medien als Verursacher dieser Misere im Denken und Handeln des Jokers ins Visier nimmt. Zwar kreist die psychische Labilität des Jokers immer um die subjektive Destitution; aber zugleich wendet sich diese abgründige Leere im Subjekt gegen die sie verursachende Gesellschaft. Am Ende des Films wird Joker in eine Talkshow eingeladen, in der Murray, der Talkmaster, im üblichen TrashTV-Stil beginnt, über die Verrücktheit des Psycho-Jokers herzuziehen. Doch am Schluss des Gesprächs greift der Joker Murray zunächst verbal an: ob er überhaupt wisse, wie die Welt außerhalb seines TV-Studios aussehe? Er prangert die enorme Spaltung, Vereinzelung und Atomisierung der US-Gesellschaft an. Das Gespräch eskaliert, bis der Joker Murray vor laufender Kamera erschießt.

Die Zuschauer aber sympathisieren mit dem Joker. Gleichzeitig ist man entsetzt über die Gewalt, die einerseits durch die Talkshows, andererseits durch die Eskalation der Gewalt in der Talkshow ausgeübt wird. „Joker“ ist einer der wenigen Filme, denen es gelingt, dass man sich als Zuschauer zugleich als Voyeur entlarvt fühlt.

Dieses letzte Kapitel in Žižeks Buch hätte mit seinen gekonnten Schattierungen der verschiedenen Nihilismen in den westlichen Gesellschaften hindurch mit dem ersten Teil durchaus eine aktuelle und kreative Zeit- und Gesellschaftskritik bieten können. Da der Autor jedoch zu stark von sich überzeugt, teils sogar unangenehm von sich selbst berauscht ist, gewinnt man den Eindruck, dass sie ihm vor allem selbst als Dope dienen.

Liverpool – Racism kills

Layal Liverpool

Racism kills. Wie systematischer Rassismus der Gesundheit schadet und was wir dagegen tun können

aus dem Englischen von Regina M. Schneider

br., 461 Seiten, 24,70 €, Berlin 2024 (Aufbau-Verlag)

von Marianne Rosenfelder

Ohne die großen Herren der Philosophie beim Namen zu nennen, – aber sie sind nicht unschuldig, wenn das genus proximum von Personen substituiert und bewertet wird durch so triviale differentiae specificae wie Hautfarbe oder Haartextur. Der Begriff der Rasse – auf Menschen angewandt – wurde schon vor etlichen Jahrzehnten wissenschaftlich widerlegt. Doch scheint dies seiner verhängnisvollen Nachhaltigkeit keinen Abbruch zu tun.

Die Ärztin und Wissenschaftsjournalistin Layal Liverpool geht der longue durée des Begriffs auf dem Gebiet der Medizin nach und dokumentiert und kritisiert den hohen „gesundheitlichen Tribut“, den „Rassismus und Diskriminierung fordern“ (15). Ihr Buch basiert auf wissenschaftlichen Studien, Statistiken, historischen Rekursen zu Anthropologie und Medizin sowie auf Fallstudien und Interviews mit Medizinern, Forschern und betroffenen BIPoC (Black Indigenous People of Colour), die ihre Erfahrungen mit Rassismus im Gesundheitssystem einbringen. Zudem reflektiert die Autorin ihre Familiengeschichte und ihre eigenen Erfahrungen als PoC (Person of Colour) sowie die Variabilität ethnischer Identität durch Selbst- und Fremdzuschreibung.

Liverpool liefert statistisch valide Nachweise, dass die durch Stereotype bedingten Verzerrungen im Gesundheitssystem auf der Überzeugung beruhen, „Rasse“ sei ein biologisches Merkmal. Doch race ist ein soziales Konstrukt mit Rassismus im Gefolge. Die Kategorie der „Rasse“ ist genetisch irrelevant. Vielmehr ist „die generische Variation einzelner Individuen innerhalb einer menschlichen Population aus dem selben demographischen Großraum größer … als zwischen denen einzelner Populationen“ (19 f.). Als schwarz gelesene Menschen sind untereinander nicht enger verwandt als Afrikaner:innen mit Europäer:innen (23). Trotz wissenschaftlicher Evidenz dieses Sachverhalts werden gesundheitliche Disparitäten weiterhin biologistisch, ergo deterministisch, begründet, ohne Rassismus als ihre eigentliche Ursache zu benennen. Zudem ist die Forschung auf weiße Patienten fokussiert und defizitär gegenüber BIPoC.

Prinzipiell birgt jede Art der Diskriminierung – sei es aufgrund von Rasse, Klasse, Geschlechtsidentität oder Behinderung sowie einer Verschränkung dieser Kriterien – ein medizinisches Risiko. Gesellschaftliche und gesundheitliche Benachteiligung bedingen einander. Wie Statistiken zu Corona belegen, sind ausgrenzende Gesellschaften anfälliger für infektiöse Krankheiten. Dass Rasse eine historisch bedingte soziale Kategorie ist, zeigen die Apartheitsgesetze in Südafrika oder die Jim-Crow-Gesetze in den USA. Dennoch hat, wie die Autorin belegt, die Willkür und Absurdität rassistischer Kategorisierungen die Wissenschaft der Medizin bis dato fest im Griff – und dies mit drastischen Konsequenzen für die öffentliche Gesundheit und für die betroffenen Patienten, deren medizinische Daten, automatisiert durch Algorithmen, ärztliches Handeln beeinflussen.

Das effektivste Antidot gegen Rassismus in der Medizin wäre Aufklärung, denn die Folgen von Rasse als biologische Kategorie sind fatal. Etliche Absurditäten der racial bias sollten daher nicht unerwähnt bleiben. Allen voran die Mär von der kräftigeren Haut und der Schmerzresistenz von BIPoC, mittels derer sich Sklavenhalter und Kolonisten von Schuld für ihre Grausamkeiten entlasteten. Dieses bis dato virulente Klischee führt zu einer Bagatellisierung von Krankheitssymptomen von PoC.

In der Psychotherapie und Psychiatrie werden rassistische Demütigungen meist gar nicht erst thematisiert. Ärzte fokussieren bei PoC auf Psychosen, Zwangseinweisungen inklusive. Im 19. Jahrhundert wurde die Flucht aus der Sklaverei als die psychische Krankheit der „Drapetomanie“ diagnostiziert, noch in den 1960er Jahren wurde der Kampf um Bürgerrechte als „Protest-Psychose“ pathologisiert. Bei Gehirnerschütterungen erfolgt race norming durch kognitive Funktionstests mit im Vergleich zu Weißen niedrigeren Grenzwerten.

In der Spirometrie wurden erst unlängst auf „Rasse“ basierende Parameter verworfen. Dafür ist seit 1999 international ein race norming der Kreatinin-Werte Usus. Ausgehend von dem Stereotyp als schwarz eingestufte Patienten hätten mehr Muskelmasse, wird mittels eines Multiplikators ein höherer Testwert generiert. Um als nierenkrank eingestuft zu werden, müssen Schwarze bereits schwer krank sein. Weitere Ungleichheiten für PoC bestehen bei Krebs, bei kardiovaskulären Erkrankungen und bei Infektionen.

Rassismus ist ein chronischer Stressor. Und Geld nützt bei Rassismus auch nicht viel. Der Schutzeffekt eines hohen sozioökonomischen Status ist für PoC nachweisbar ziemlich gering.

In Teil I dokumentiert Liverpool das global nachweisbare gesundheitliche Gefälle zwischen den ethnischen Gruppierungen innerhalb einzelner Länder. Ihre Analyse erfasst Ungleichheiten gegenüber rassifizierten Gruppen primär in den USA, aber auch in Großbritannien, Kanada, China, Brasilien, Nigeria, Mexiko, Australien sowie im indischen Kastensystem.

In Teil II geht es um die Bedrohung der öffentlichen Gesundheit durch systemischen Rassismus, also die Verweigerung des Zugangs zu „hochwertiger Gesundheitsversorgung“ aus ethnischen Gründen (122f.). Tradierte Armut, Umweltrassismus, Wohngegenden mit hoher Luftverschmutzung sind gesundheitsschädigende Erscheinungsformen von systemischem Rassismus. Hinzu kommt Colourism, also Diskriminierung innerhalb der rassifizierten Gruppe durch internalisierte Farbhierarchien.

Sozialer Alltagsrassismus hat psychische und physische Folgen. Bereits die Antizipation rassistischer Ausgrenzung strapaziert das vegetative Nervensystem. Die Autorin plädiert daher für die Anerkennung von Rassismus als „chronisches Stressmoment und akut traumatisches Erlebnis“ und als durch Sklaverei bedingtes, epigenetisch nachweisbares transgenerationelles Trauma.

In Teil III weist die Autorin nach, dass Rassismus in der Medizin „ethnisch bedingte, gesundheitsbezogene Ungleichheiten weiter verfestigt“, z. B. durch eine rassifizierte Ausbildung, durch einen prozentual geringen Anteil ethnischer Minderheiten in Medizin und Wissenschaft oder durch die Tradierung und Verstetigung rassistischen Gedankenguts (244/5). Liverpool appelliert an die Mediziner, ihren eigenen Rassismus anzuerkennen, den Patienten zuzuhören und zu unterscheiden zwischen Rasse „als Parameter für gesundheitliche Risiko-Scores“ und Rassismus als soziales Konstrukt, das gesundheitliche Ungleichheiten ermöglicht (281).

Der Titel der englischen Ausgabe des Buches lautet Systemic: How Racism is making us ill. Das klingt weniger dramatisch als der deutsche Titel Racism kills. Dafür fokussiert der deutsche Untertitel „… und was wir dagegen tun können“ auf Liverpools in Teil IV dargelegte Vorschläge zur Lösung des Problems medizinischer Ungleichbehandlung gegenüber BIPoC.

Liverpool fordert Datenerhebungen zu ethnischen Disparitäten in Kranken- und Sterberaten, um die racial bias im Gesundheitswesen zu beheben. Da multiethnische Studien nachweisbar zu besseren Therapien führen, könnte auch die weltweite Vielfalt genetischer Varianten die medizinische Forschung voranbringen. Allerdings sollten Medikamente, die mittels der Daten von PoC entwickelt wurden, diesen auch zugute kommen und rassistische Praktiken wie die Tuskegee-Experimente (1943-1972) oder heimliche Probenentnahmen wie im Fall der HeLa-Zellen (1950) geächtet werden. Die Genome indigener Völker seien Bodenschätzen vergleichbar, die es vor neo-kolonialer Ausbeutung und Kommerzialisierung ihrer DNA durch die Wissenschaft und die Pharmaindustrie zu schützen gilt durch Maßnahmen wie Rechte an den Resultaten, finanzielle Beteiligungen oder medizinische Infrastruktur.

Die Autorin hält ethnisch bedingte gesundheitsbezogene Ungleichheiten für ein globales, aber nicht unabwendbares Problem. Als das Buch 2024 herauskam, war diese Einschätzung noch berechtigt. Doch nach den Beschlüssen der US-Abwicklungsverwaltung, insbesondere bezüglich USAID, hat sich bereits jetzt die die Situation verschlechtert.

Besonders in Liverpools Forderung nach Aufhebung der data gaps zeigt sich die Ambivalenz des Begriffs der Rasse, die auch seit 2000 in den Diskussionen um die Streichung des Begriffs aus Artikel 3 des Grundgesetzes zum Ausdruck kam. Der Begriff ist a priori historisch negativ belastet und wissenschaftlich unhaltbar. Es gibt de facto keine Menschenrassen. Doch durch den Tatbestand des Rassismus oder des othering, also als soziale Konstruktion, die mit dem Begriff race (entsprechend der sozialen Konstruktion von gender) umschrieben wird, erhält der Begriff seine Relevanz, indem er die Voraussetzung der Justiziabilität rassistischer Ungleichbehandlung und Diskriminierung bildet. Dies war auch die Begründung für dessen Beibehaltung in Artikel 3 GG.

Die von der New York Times am 7. März 2025 veröffentlichte Liste mit 200 Worten, die die momentane US-Administration von öffentlichen Websites, Curricula und dergleichen zu löschen plant, hat also Methode, und es bleibt zu hoffen, dass diese Methode nicht auch andernorts Schule macht. Neben Begriffen zu Klima, Kultur, Gender, Diversität ist praktisch das gesamte Wortfeld betroffen, von dem das vorliegende Buch handelt. Wie wird man also künftig rassistische und ethnische Ungleichbehandlung einklagen können, wenn folgende Begriffe nicht mehr zur Verfügung stehen?: at risk, bias(ed), BIPOC, disability (pl.), discrimination, disparity, ethnicity, in-equality, equal opportunity, health disparity, inclusion, minority (pl.), Native American, political, pregnant person, prejudice, race, race & ethnicity, racial diversity, r. inequality, r. justice, racism, segregation, stereotype (pl.), systemic, social justice, trauma, traumatic, tribal underprivileged, underrepresented, victim (pl.) und women.

Racism kills ist und bleibt ein Politikum. Als engagierte Autorin steht Liverpool, wie es aussieht, mit ihrem Thema vor neuen großen Herausforderungen.

Ypi – Die Architektonik der Vernunft

Lea Ypi

Die Architektonik der Vernunft. Zweckmäßigkeit und systematische Einheit in Kants „Kritik der reinen Vernunft“

br., 245 Seiten, 22,- €, Berlin 2024 (Suhrkamp-Verlag)

von Bernhard Schindlbeck

„Dieses Buch handelt von der Einheit der Vernunft in der Kritik der reinen Vernunft. Es versucht zu erklären, warum eine solche Einheit notwendig ist, wie Kant die Idee einer solchen Einheit verteidigt und warum das Projekt letztlich scheitert.“ So beginnt Lea Ypi ihre Einleitung, in der schon die Behauptung, dass Kants Projekt scheitere, auf jeden an Kant ernsthaft interessierten Leser wie ein Köder wirken muss. „Das Hauptargument ist“, fährt sie fort, „dass die Einheit der Vernunft in einem transzendentalen Prinzip der Zweckmäßigkeit begründet ist, das unabdingbar für die systematische Integration des theoretischen und praktischen Gebrauchs der Vernunft ist, zugleich aber die für Kants Projekt wesentliche Trennung von Kritik und Metaphysik bedroht.“ (20)

Mit diesem Programm wendet sich Ypi, wie der Buchtitel verrät, dem vorletzten Abschnitt in Kants erster Kritik zu, der „Architektonik der reinen Vernunft“, die Kant in der transzendentalen Methodenlehre nach der „Disziplin“ und dem „Kanon“ und vor der „Geschichte der reinen Vernunft“ platziert. Er sei „einer der dichtesten, rätselhaftesten, ja zuweilen gerade undurchdringlichen Texte in Kants gesamtem veröffentlichten Werk“ (ebd.). Ypis Buch „legt nahe, dass Kants Antwort auf diese Frage an eine bestimmte Darstellung der Vernunft gekoppelt ist, die deren zweckmäßigen Charakter betont. Doch wie die folgenden Seiten zeigen werden, ist das Konzept der Zweckmäßigkeit, das Kant in der ersten Kritik vertritt, ein Konzept der ‚Zweckmäßigkeit als Design‘, das sich von der ‚Zweckmäßigkeit als Normativität‘, das in seinen späteren Werken eine zentrale Rolle spielt, stark unterscheidet. Im ersten Fall, Zweckmäßigkeit als Design, ist die Beziehung zwischen Vernunft und Natur in der Idee Gottes verankert. Im zweiten Fall, Zweckmäßigkeit als Normativität, ist sie im Begriff der reflektierenden Urteilskraft verwurzelt und durch transzendentale Freiheit begründet. Gott bleibt zwar Teil des Systems, spielt aber eine zunehmend marginale Rolle, eine, die nachfolgenden Autoren wie Marx und Hegel den Weg zu einer Geschichtsphilosophie ebnete, die ihn schließlich gänzlich überflüssig werden ließ.“ (22)

Dass das letztere Argument eher schwach ist, erhellt schon daraus, dass die hegelianische und die marxistische Geschichtsteleologie im Grunde selbst nur als dogmatisch fundierte Ersatztheologien fungieren, die ihr jeweiliges Absolutes an ein entweder schon erreichtes oder noch immer erhofftes Ende einer vor-läufigen Zeit setzen. Die Behauptung historischer Notwendigkeiten und „das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte“ (Engels) sind ja auch „nur“ Metaphysik – und, solange sie ihren eigenen dogmatischen Charakter nicht reflektiert, eine schlechte obendrein.

Gott bleibt in allen drei Kritiken (in unterschiedlicher Weise) prominent. In der Postulatenlehre der Kritik der praktischen Vernunft markiert er die (als notwendig zu denkende) Funktionsstelle der Vergabe einer nach Tugend „proportionierten Glückseligkeit“ (AA 124), die ja an Aktualität bis heute nichts verloren hat. Wenn die weltliche Gerechtigkeit nicht gewillt ist, die superreichen Steuerhinterzieher, deren politisches Personal, die Kriegstreiber und Menschenrechtsverletzer aller Art zu bestrafen, wer dann? Außerdem wird Gott durch die reflektierende Urteilskraft keineswegs marginalisiert. Die letzten Paragraphen (87 bis 91) der Kritik der Urteilskraft , die sich an einem moralischen Gottesbeweis abarbeiten, widerlegen Ypis Behauptung von einer „zunehmend marginale[n] Rolle“. Wenn es schließlich im Opus postumum heißt „est Deus in nobis“ (XXII, 130), was manche Kant-Kenner, z.B. Eckart Förster, als Preisgabe des klassischen Theismus lesen, dann bedeutet das, dass man Kants Gottesbegriff möglicherweise ganz neu verstehen muss, statt ihn einfach als obsolet abzutun.

In sieben zwischen der Einleitung und einem Fazit angeordneten Kapiteln werden vor dem Hintergrund einer immensen Kenntnis der Sekundärliteratur und Kant-Exegese, deren größter Teil mit wenigen Ausnahmen (z.B. Henrich, mit seiner längst kanonisch gewordenen Erklärung des Begriffs der „Deduktion“ bei Kant) aus der analytischen Philosophie kommt, Schritt für Schritt die relevanten und problematischen Fragen zur Einheit der Aufgaben, Leistungen, Bedürfnisse, Interessen, Zwecke der Vernunft (sowie der anderen Vermögen wie Verstand und Urteilskraft) entfaltet, wobei in den letzten drei Kapiteln („Die Deduktion der transzendentalen Ideen“, „Die Rolle der Ideen aus praktischer Perspektive“ und „Das Reich der Zwecke“) die in der Einleitung vorgelegten Thesen ihre ausführliche Begründung erhalten. Als einer der wichtigsten Aspekte kristallisieren sich die Darstellungs- und Begründungsunterschiede zwischen der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft heraus. Schon in der Einleitung aber expliziert Ypi genauer, worum es ihr geht: „Mein Argument ist, dass in der Kritik der reinen Vernunft zwar die Einheit der Vernunft durch die zweckmäßige Funktion der Ideen der Vernunft erreicht wird, das Projekt aber gleichwohl letztlich daran scheitert, Kants eigenen kritischen Standards gerecht zu werden. Es scheitert, wie ich zu zeigen hoffe, weil die praktische Vernunft in der ersten Kritik kein eigenes Gebiet für ihre Gesetzgebung und keine notwendige Verbindung zur transzendentalen Freiheit hat: Dies ist etwas, das erstmals in der Grundlegung auftaucht, in der Kritik der praktischen Vernunft weiterentwickelt wird und Kants Analyse der Zweckmäßigkeit in der Kritik der Urteilskraft prägt. Es scheitert auch daran, dass Kant in Ermangelung dieser Verbindung das Prinzip der Zweckmäßigkeit weiterhin mit der Idee des ‚intelligenten Designs‘ statt mit der besonderen praktischen Normativität der Vernunft verbindet.“ (33)

Zweifelhaft ist, ob die Kritik der praktischen Vernunft wirklich eine „Weiterentwicklung“ der Grundlegung ist und nicht eher ein Neuansatz, zumal Kant in letzterer noch eine „Deduktion des kategorischen Imperativs“ versucht, was er in ersterer als unmöglich aufgibt und durch das „Faktum der Vernunft“ ersetzt, welches „an die Stelle dieser vergeblich gesuchten Deduction des moralischen Prinzips“ tritt (KpV, 47).

Am Ende der Einleitung wird weiter erklärt: „Ich schließe das Buch mit der These, dass der Preis, der für die architektonische Einheit der ursprünglich getrennten Systeme von Natur und Freiheit zu zahlen ist, eine transzendentale Theologie ist, die die Vernunft implizit zu metaphysischen Annahmen über die Ordnung der Natur verpflichtet, die ihr kritischer Teil ausdrücklich ausgeschlossen hat.“ (39)

Die These, eine „transzendentale Theologie“ verpflichte die Vernunft zu metaphysischen Annahmen über die Ordnung der Natur, ist schon sehr merkwürdig. Denn Gott (und daneben die Unsterblichkeit der Seele) sind eben nur Postulate und keine Theologie. Hat der „kritische Teil“ die Postulate wirklich „ausgeschlossen“, nur weil er Gottesbeweise als unmöglich erwiesen hat? Auch dass „Kant die Verteidigung der Physikotheologie zurückzog und sie in der Kritik der Urteilskraft in eine ethische Theologie umwandelte“ (39), ist eine seltsam überzogene Behauptung. Von einer „ethischen Theologie“ zu sprechen, ist schon angesichts der Tatsache, dass Kant in seiner Religionsschrift die Religion für die philosophische Ethik als bloß unterstützende pädagogische Hilfskraft in den Dienst nimmt, eine starke Verzerrung. Der Kant schon so oft gemachte Vorwurf einer Re-Theologisierung ist also auch hier verfehlt.

Die Annahme, dass Natur und Freiheit ursprünglich getrennte Systeme seien, ist nicht minder falsch, denn in uns Menschen selbst, die wir gleichzeitig Natur- und Freiheitswesen sind, sind sie a priori integriert. Wir können nur sinnvoll handeln, weil die Natur eine durchgehend kausal determinierte ist; wir müssen uns auf die Naturgesetzlichkeit verlassen können, um überhaupt Zwecke setzen und realisieren zu können. Und dennoch sind wir frei, können (qua Orientierung am kategorischen Imperativ) autonom handeln. Natur und Freiheit sind also keine „getrennten Systeme“, für deren architektonische Einheit ein Preis zu zahlen wäre.

Die Bedeutung der systematischen Einheit der Vernunft und damit der transzendentalen Ideen in der Vermittlung von Natur und Freiheit ist so unbestritten wie die Rolle der Zweckmäßigkeit als transzendentales Prinzip. In der Kritik der Urteilskraft, so Ypi, sei der Begriff der Zweckmäßigkeit anders als in der Kritik der reinen Vernunft „ein Begriff der Zweckmäßigkeit als Normativität“ (149). Diese sei in „Analogie zu unserem praktischen Vernunftgebrauch“ zu sehen: „Objekte in diesem Sinne als zweckmäßig zu beurteilen, ist gleichbedeutend damit, zu fragen, wie diese Objekte wären, wenn sie eine bestimmte Anzahl normativer Eigenschaften aufwiesen – oder zu fragen, wie ein Objekt sein sollte, wenn praktisch vernünftige Menschen für seine Planung zuständig wären“ (150). Zweckmäßigkeit in diesem Sinne habe nichts mit der in der Kritik der reinen Vernunft verwendeten „Zweckmäßigkeit als Design“ zu tun. Diese betrachte die „Ordnung der Natur und die Ordnung der Zwecke“ als „in einem zweckmäßigen System verbunden, das die Begriffe der Natur und der Freiheit in Bezug auf die Idee Gottes integriert“ (214). In Ypis Interpretation ist Gott der „Designer“, der in der Kritik der reinen Vernunft (im Unterschied zu den folgenden Kritiken) für den Begriff der Zweckmäßigkeit sorgt und verantwortlich ist – und der dafür nicht auf praktische Vernunft und Freiheit zurückgreifen muss. Zweckmäßigkeit als essentiell-integrales Element in der Architektonik (Einheit und Systematik) der Vernunft komme in der ersten Kritik also nicht ohne Gott aus, und darin sieht Ypi einen metaphysischen Rückfall hinter deren eigentlichen kritischen Anspruch, d.h. das Scheitern Kants. Jedoch ist die Unterscheidung zweier Zweckmäßigkeitsbegriffe künstlich; Kant muss sie nicht machen, denn die Antwort auf die Frage, wie ein Objekt wäre (oder sein sollte), wenn praktisch vernünftige Menschen für seine Planung zuständig wären, kann nur so ausfallen: Es wäre exakt so, wie es auch ein göttlicher Designer planen würde („est Deus in nobis“).

Dass der Preis für die architektonische Einheit ein Rückfall in eine transzendentale Theologie sei, die metaphysische Annahmen über die Natur beinhalte, die der kritische Teil dezidiert ausschließe, ist Ypis zentrale These, die auch erkläre, „warum die transzendentale Freiheit zum Hauptthema der Kritik der praktischen Vernunft wurde“, und warum Kant die Verteidigung der Physikotheologie in eine „ethische Theologie“ in der Urteilskraft „umwandelte“ (39). Abgesehen davon, dass von „ethischer Theologie“, wie gesagt, keine Rede sein kann, widerspricht zum Beispiel eine Passage in dem der „Architektonik“ vorhergehenden „Kanon der reinen Vernunft“, in der reine Vernunft, Moralität und zweckmäßige Einheit der Natur miteinander verbunden werden, dieser Darstellung deutlich: „Was können wir für einen Gebrauch von unserem Verstande machen, selbst in Ansehung der Erfahrung, wenn wir uns nicht Zwecke vorsetzen? Die höchsten Zwecke aber sind die der Moralität, und diese kann uns nur reine Vernunft zu erkennen geben. Mit diesen nun versehen, und an dem Leitfaden derselben, können wir von der Kenntnis der Natur selbst keinen zweckmäßigen Gebrauch in Ansehung der Erkenntnis machen, wo die Natur nicht selbst zweckmäßige Einheit hingelegt hat; denn ohne diese hätten wir sogar selbst keine Vernunft … Jene zweckmäßige Einheit ist aber notwendig und in dem Wesen der Willkür selbst gegründet, diese also, welche die Bedingung der Anwendung derselben in concreto enthält, muß es auch sein, und so würde die transzendentale Steigerung unserer Vernunfterkenntnis nicht die Ursache, sondern bloß die Wirkung von der praktischen Zweckmäßigkeit sein, die uns die reine Vernunft auferlegt“ (B 844 f.). Ein göttlicher Designer ist hier offensichtlich nicht erforderlich. Menschliche Praxis allein präsupponiert die zweckmäßige Einheit der Natur, ohne welche aussichtsreiche Zwecksetzungen gar nicht möglich wären.

Wenn man Zweckmäßigkeit in „normativer“ Perspektive betrachtet, genügt es also nicht zu fragen, „wie diese Objekte wären, wenn sie eine bestimmte Anzahl normativer Eigenschaften aufwiesen – oder zu fragen, wie ein Objekt sein sollte, wenn praktisch vernünftige Menschen für seine Planung zuständig wären.“ Man muss dann konsequenterweise auch danach fragen, wie die Verhältnisse und Zusammenhänge aller Objekte aussähen, wenn praktisch vernünftige – und d.h. nicht nur hypothetischen Imperativen (Klugheitsregeln) folgende, sondern sittlich handeln wollende – Menschen für die Planung dieser Zusammenhänge zuständig wären. Womit sich sofort (abermals im Konjunktiv) die Frage auftut, ob es dann überhaupt einen Unterschied zwischen der von einem göttlichen Designer entworfenen und der von praktischer Vernunft entworfenen Zweckmäßigkeit gäbe. Ein Grund für einen solchen Unterschied ist nicht sichtbar. Damit wird auch deutlich, dass –

anders als Ypi suggeriert – die praktische Vernunft gar kein „eigenes Gebiet für ihre Gesetzgebung“ (33) braucht.

Es fällt auf, dass das Sittengesetz (der kategorische Imperativ) in Ypis Buch kaum eine Rolle spielt, was möglicherweise mit ihrem eigenen, im empiristisch-naturalistischen Denken der analytischen Philosophie wurzelnden Verständnis von Freiheit (freedom of agency, Handlungsfreiheit) und einem daraus resultierenden gewissen Unverständnis für den kantischen Begriff zu tun hat. Im „Praktische und transzendentale Freiheit“ überschriebenen Abschnitt des 6. Kapitels schreibt sie: „Kant scheint davon auszugehen, dass die menschliche Vernunft nur durch die Freiheit zum Bestimmungsgrund für praktisches Handeln werden kann. Aber welche Art von Freiheit? Wie verhält sich die Freiheit zum zweckmäßigen Charakter der Vernunft?“ (185) Ganz nebenbei: Ernst Cassirer würde sagen, dass hier „zweckmäßig“ mit „zweckhaft“ verwechselt wird.

Dass es verschiedene Arten von Freiheit (die praktische und die transzendentale) gebe, ist in Kants Kritiken gar nicht möglich. In der ersten wird Freiheit als nicht widerlegbare Möglichkeit in einer durchgängig kausal determinierten Natur aufgewiesen, wobei „auf diese transzendentale Idee der Freiheit sich der praktische Begriff derselben“ gründet. (B 561) In der zweiten Kritik wird mit dem kategorischen Imperativ der praktische Begriff der Freiheit (Willensfreiheit) als Autonomie dargestellt und entfaltet. Nur wenn man Willensfreiheit gegen empirisch verstandene, d.h. bedingte Handlungsfreiheit setzt, gibt es Arten von Freiheit. Kant aber kennt nur eine Art von Freiheit, die sich als (eben unbedingte) Autonomie erweist. Heteronomie ist eben nicht Freiheit. „Die Freiheit im praktischen Verstande ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“ (B 562). – Eine Kant-Kritik könnte, wenn man von Arten der Freiheit spricht, am ehesten am Freiheitsbegriff der Metaphysik der Sitten ansetzen, wo Kant zu einem Begriff der Willkürfreiheit übergeht und diesen (man muss sagen: zweifelhafterweise) für in der Ethik begründet hält. Er nähert sich in seiner Rechts- und Tugendlehre also einem liberalistischen Freiheitsbegriff an, der eben nichts mit Sittlichkeit als Autonomie zu tun hat. Aber diese mögliche immanente Kant-Kritik kommt bei Ypi nicht vor. Sie trägt in ihrer Interpretation ihren eigenen liberalistischen Freiheitsbegriff in Kants Denken hinein und findet dann Probleme, die es in Kants kritischem Werk gar nicht gibt.

Es stimmt also nicht, wenn sie behauptet: „Kant ist es wichtig, zwischen der Realität praktischer und transzendentaler Freiheit zu unterscheiden, denn ohne diese Unterscheidung müsste er erklären, wie eine übersinnliche Ursache (die nur prinzipiell möglich oder als nichtwidersprüchlich anerkannt wird) empirische Phänomene begründen kann. Dies wird in der ersten Kritik jedoch ausdrücklich ausgeschlossen“ (185). Es geht bei Kant nicht um „übersinnliche“ Ursachen, wenn er in der dritten Antinomie von „Kausalität aus Freiheit“ spricht. Autonomie (Willensfreiheit) muss keine empirischen Phänomene „begründen“. Hier wird einmal mehr Ypis empiristischer Approach deutlich, mit dem man Kausalität aus Freiheit (die dann als „übersinnlich“ diskreditiert wird) und Autonomie natürlich nicht verstehen kann.

Auch eine andere exemplarische Stelle (aus dem zweiten Abschnitt des Kanons) zeigt, wie man mit dem empiristisch-analytischen Zugang zu einer Fehlinterpretation gelangt. Ypi schreibt: „Kant scheint unter moralischer Erfahrung ‚Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gemäß in der Geschichte des Menschen anzutreffen sein könnten‘ zu verstehen. Die menschliche Geschichte ist die Dimension der Erfahrung, in der die praktischen Ideen gesetzgebend sind: ‚Da sie gebietet, daß solche geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können.‘ Wie trägt dieses Verständnis von Erfahrung zur Vollendung der kritischen Aufgabe bei?“ (183)

Dass die Geschichte als Dimension der Erfahrung gebiete, was geschehen soll, ist eher eine hegelianisch-marxistisch inspirierte Interpretation, die durch eine Verkürzung der zitierten Passage zustande kommt, die als ganze gelesen ein völlig anderes Argument liefert: „Die reine Vernunft enthält also, zwar nicht in ihrem spekulativen, aber doch in einem gewissen praktischen, nämlich dem moralischen Gebrauche, Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung, nämlich solcher Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gemäß in der Geschichte des Menschen anzutreffen sein könnten. Denn da sie gebietet, daß solche geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können, und es muß also eine besondere Art von systematischer Einheit, nämlich die moralische möglich sein, …“ (B 835). Das Pronomen „sie“ (in „da sie gebietet“) bezieht sich also, anders als Ypi interpretiert, auf „die reine Vernunft“ und nicht auf die „Geschichte“.

Noch deutlicher zeigt sich Ypis empiristischer Zugang zu Kants Kritiken, wenn sie über das „Reich der Zwecke“ schreibt: „Moralische Zwecke werden in einer Welt gesetzt, die sowohl von moralischen Normen als auch von Naturgesetzen beherrscht wird. Das Mitglied des Reichs der Zwecke ist daher faktisch kein Souverän: Der Erfolg seines moralischen Handelns hängt nicht nur davon ab, was es tut, sondern auch von den Handlungen anderer Menschen, von den empirischen Kontingenzen und Beschränkungen, auf die es stößt. Daher ist es prinzipiell denkbar, dass die Welt mit dem moralischen Gebrauch der Vernunft nicht vereinbar ist oder ihn gar behindert“ (202 f.). Abgesehen davon, dass nur Handlungen als solche Erfolg haben, aber der Erfolg der Moralität einer Handlung empirisch gar nicht erkennbar wäre, geht Behauptung, dass die empirische Realität moralischem Handeln im Weg stehen kann, ins Leere. Denn nur weil die Realität so ist, wie sie ist, genau deshalb sind wir moralisch gefordert. Aber sie steht deshalb der Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und Zivilcourage nicht im Weg. Moralisch handeln heißt eben oft: sich gegen die Realität stellen.

Ganz ähnlich führt die empiristische Kant-Interpretation in die Irre, wo es um das Verhältnis „der Ordnung der Natur und der Ordnung der Zwecke“ geht, um die „Verbindung zwischen systematischer moralischer Einheit und der systematischen Einheit der Natur.“ Denn, so Ypi: „Ohne die systematische Integration des Reichs der Natur und des Reichs der Zwecke zu erklären, können wir auch nicht erklären, wie moralische Normen für Menschen bindend sein können, deren moralische Motive stets mit nichtmoralischen vermischt sind“ (201 f.). Dergleichen ist nur für empiristische Moralphilosophen ein Problem, nicht für Kant. Dass wir aus Neigungen (Präferenzen, Interessen etc.) handeln, die in das Reich der Natur gehören, ist klar. Aber ebenso klar ist, dass wir nicht die Sklaven unserer Neigungen sein müssen, sondern uns (aus moralischen Motiven) über sie hinwegsetzen können. Einer „systematischen Integration“ beider Reiche bedarf es nicht, um Normativität und deren Verbindlichkeit zu erklären. Wie oben erwähnt, sind Natur und Freiheit immer schon ineinander verschränkt.

Vermutlich steckt hinter Ypis Problemkonstruktion noch immer das sich seit Schiller bis heute durchziehende Missverständnis von der angeblichen Lustfeindlichkeit Kants und seiner Verachtung von Neigungen, das auf der falsch verstandenen Feststellung beruht, dass letztere als bloße (subjektiv kontingente) Gegebenheiten keinen moralischen Wert haben. Daran, dass wir auch Neigungen (eine Triebstruktur) haben, ist für Kant nichts falsch. Man muss sie nur richtig einordnen.

Wenn Kant die Differenz von Sinnlichkeit (Natur) und Sittlichkeit (Freiheit) betont, dann dramatisiert Ypi diese Differenz unnötig, um auch die Integration beider in der ersten Kritik als ein Drama, als scheiternd und als erst in der Kritik der Urteilskraft gelungen darstellen zu können. Aber allein unser Handeln, das auf Zwecksetzungen beruht, zeigt schon, dass Zwecke nur in einem integralen Verständnis von äußerer (erkannter und verstandener) Natur und menschlicher vernunftorientierter Praxis möglich sind. Fragt man nach dem sittlich fundierten Freiheitsanteil an dieser Praxis, dann kommt (mit der dritten Antinomie) der Zusammenhang der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft in den Blick. Unbestritten ist, dass in der ersten Kritik im Abschnitt über die Antinomien „Kausalität aus Freiheit“ nur als Möglichkeit, genauer: als nicht unmöglich – und noch nicht, wie in der zweiten Kritik, als „Wechselbegriff“ zum transzendentalen Prinzip der Sittlichkeit – erarbeitet wird. Somit bleibt der Freiheitsbegriff noch unentfaltet; er muss hier auch noch nicht elaboriert werden, sodass die praktische Vernunft in der ersten Kritik verständlicherweise „kein eigenes Gebiet für ihre Gesetzgebung“ hat. Sie braucht hier keines. Sie braucht überhaupt kein „eigenes Gebiet“, da sie immer und überall zugange ist.

Daraus ein Scheitern des Anspruchs der Vernunft zu konstruieren geht nur, wenn man das kritische Werk Kants nicht als fortgeschriebene und sich weiterentwickelnde Gesamtheit liest, sondern die Kritiken so einander gegenüberstellt, dass man in deren jeweiligen einzelnen Aspekten Unterschiede und Widersprüche entdeckt, die man dann gegeneinander ausspielen kann, wie etwa praktische Vernunft und transzendentale Freiheit.

Eine ganz andere Kant-Lektüre bietet (nur als ein Beispiel von vielen) etwa Axel Hutters Das Interesse der Vernunft (2003), dessen Untertitel Kants ursprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken schon andeutet, dass es um eine „Gesamtdeutung der Kantischen Vernunftkritik“ (Hutter, 23) geht und die Kritiken als ein einheitliches Werk zu verstehen sind.

Wenn Ypi den Vorwurf der Re-Theologisierung erneut erhebt, um an in ihr das Scheitern des kritischen Anspruchs festzumachen, dann müssten sich doch weitere Fragen anschließen, deren wichtigste wäre: Weshalb versucht Kant überhaupt in einem explizit kritischen Projekt traditionelle Metaphysikbestände wie Gott, Zweckmäßigkeit der Natur und Unsterblichkeit der Seele zu retten? Eine Antwort findet man beim späten Horkheimer. „Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel“, schreibt er in seinem Aufsatz Theismus – Atheismus (1963). Wobei zu ergänzen ist, dass Sinn ohne Unbedingtheit keiner wäre; ein „relativer“ Sinn ist bestenfalls nur eine Kette von kontingent gesetzten Zwecken und deren Verweisen aufeinander. Auf der Ebene bloß empirischen Wissens lässt sich kein Sinn erkennen, auffinden oder konstituieren. Die sog. exakten Wissenschaften sind nicht in der Lage, eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Existenz (sei es des individuellen Lebens oder, in holistischer Absicht, der Welt) zu generieren. Und sie machen die Frage nach einem letzten Grund nicht obsolet. Wiederholt weist Hutter darauf hin, dass es Kant um „das Unbedingte (um das es doch eigentlich zu tun ist)“ geht (KrV B 593), um die „Vernunft, die das Unbedingte fordert.“ (B 592) Nicht anders in der Kritik der Urteilskraft: „Die Vernunft ist ein Vermögen der Prinzipien, und geht in ihrer äußersten Forderung auf das Unbedingte, da hingegen der Verstand ihr immer nur unter einer gewissen Bedingung, die gegeben werden muß, zu Diensten steht.“ (B 339) Bei aller Gelehrtheit fasst Ypi, wenn sie vom „kritischen Projekt“ Kants spricht, den Ausdruck „Metaphysikkritik“ viel zu weit und nimmt den Titel von Kants erklärender Didaktik zur Kritik der reinen Vernunft nicht ernst und wörtlich genug, nämlich: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783). Dass Metaphysik und Wissenschaft einander ausschließen und unvereinbar sind, gilt heutzutage, da man sich zumeist einem vermeintlichen „nachmetaphysischen Denken“ (Habermas) verpflichtet weiß, als ausgemachte Sache, aber man übersieht dabei bereitwillig die ursprünglich dogmatischen, d.h. axiomatischen Voraussetzungen in jeder Wissenschaft.

„Kants Kritik“, schreibt Axel Hutter, „gilt also nur einer bestimmten Auffassung von Metaphysik, nämlich der, die die das ‚Unbedingte‘ in eine unvermittelte Opposition zur Erfahrung rückt. Eine solche Kritik ist in der Tat ein wichtiges Mittel, um ‚das Verfahren der bisherigen Metaphysik umzuändern‘. Der ‚wesentliche Zweck‘ der Transzendentalphilosophie ist demnach ein kritisch veränderter Metaphysikbegriff, nicht aber ein ‚Ersetzen‘ der Metaphysik durchexakte Wissenschaft“ (Hutter, 22). Ypis für ihre Interpretation vorausgesetzte Annahme einer „für Kants Projekt wesentliche(n) Trennung von Kritik und Metaphysik“ (20) ist also ein Missverständnis.

Ohne Unbedingtheit ist auch die von Ypi nur beiläufig behandelte Idee des „höchsten Gutes“ nicht verstehbar, die die Forderung enthält, „diejenige Realität, die nicht ist, aber sein soll, realisierte Sittlichkeit und eine dieser entsprechend gestaltete Welt“ zu verwirklichen. (So umschreibt es Wilhelm Jacobs 2014 in seinem Fichte-Buch.) Es ist egal, mit welchen Bezeichnungen man diese sein-sollende und zu verwirklichende Welt versieht (z.B. Sozialismus, Kommunismus oder nur gerechte Gesellschaft); ohne das Verständnis für „unbedingten Sinn“ kommt man ihr nicht näher. Dass so eine Gesellschaftsform der Rechtsphilosophie Kants von 1798 eklatant widerspricht, ist klar. Das liegt jedoch daran, dass letztere den Fehler enthält, dass sie selbst nicht mit Kants Ethik vereinbar ist, da Kant, wie oben erwähnt, in ihr Willkürfreiheit, die „tatsächlich gar keine Freiheit ist“ (Andrea Esser, Anti-imperiale Strukturen der Sittlichkeit), zugrunde legt und nicht, wie in der Kritik der praktischen Vernunft oder der Grundlegung, Freiheit als Autonomie. Was ein Großteil der Kant-Exegeten nicht (so wenig wie Kant selber) sehen will, ist also, dass Kant in den kritischen Schriften und in der Rechtsphilosophie zwei unterschiedliche Freiheitsbegriffe verwendet: zuerst Autonomie, später den liberalistischen Freiheitsbegriff, die beide unvereinbar sind. Freiheit ist ein Begriff, der die Unbedingtheit der Autonomie im ethischen Sinn meint. Der Liberalismus kennt keine Unbedingtheit.

Liest man Gott also sinnvollerweise als (personifizierte) Chiffre für Unbedingtheit, die verhindert, dass Vernunft materialistisch-instrumentell halbiert wird und dadurch zu einer beliebigen (machtorientierten) Zweckrationalität verkommt, die nichts mit Kants in der Vernunft angelegten „Zweckmäßigkeit“ zu tun hat, dann zeigt sich woran und weshalb Lea Ypi in ihrer Auseinandersetzung mit Kant scheitert. Als empiristisch orientierte Philosophin weiß sie mit Unbedingtheit, Absolutheit, Autonomie wenig anzufangen, denn all das gibt es im Empirismus nicht. (Adorno hat in seinen „Meditationen zur Metaphysik“ im letzten Abschnitt seiner Negativen Dialektik immerhin das absolut Falsche als solches benannt.)

In Ypis Kant-Rezeption ist – so ähnlich wie die „höchste Intelligenz“ – auch das „höchste Gut“ in erster Linie ein Beleg für die Re-Theologisierung und nicht ein ethisch unbedingt Gesolltes (ein Auftrag an die Menschheit), das man gerne „Sozialismus“ nennen darf (oder welche Bezeichnung man immer für eine „gerechte und gelungene Gesellschaft“ finden will). Auch in ihren Berliner Benjamin-Lectures vom Juni 2024 (mit dem Titel „What is moral socialism?“) legte sie charakteristischerweise nicht Kants Autonomie-Begriff, sondern die empiristisch verstandene Handlungsfreiheit des politischen Liberalismus (freedom of agency) zugrunde, mit der man Kant nicht gerecht werden kann. Damit wird verständlich und nachvollziehbar, warum sie trotz aller analytischen Subtilitäten und Differenzierungen in ihrem Architektonik-Buch letztlich immer an Kant vorbei argumentiert. Nicht Kant scheitert in seiner Kritik der reinen Vernunft mit seiner Systematisierung der Vernunft zu einer Einheit, sondern eher Lea Ypi mit ihrem Versuch, Kant ein solches Scheitern nachzuweisen.

Parrique – Wachstum bremsen oder untergehen

Timothée Parrique

Wachstum bremsen oder untergehen. Wie wir mit Degrowth die Welt retten

aus dem Französischen von Andrea Hemminger

geb., 367 Seiten, 28.- €, Frankfurt/Main 2024 (S. Fischer-Verlag)

von Fritz Reheis

Der alte Deutsche Bundestag hat in seiner letzten Woche die wundersame Geldvermehrung beschlossen, ehe der neue beschließen wird, wofür das Geld genau gebraucht wird. Angesichts der Tatsache, dass ein Großteil des Geldes in die Aufrüstung gehen wird (angeblich unausweichlich angesichts einer „dramatisch verschärften“ Bedrohungslage), braucht es heute besonderen Mut, den seit Langem stattfindenden Selbstbetrug der weit fortgeschrittenen Moderne zu stoppen. Das Buch „Wachstum bremsen oder untergehen“ will Anstoß und zugleich Ratgeber auf diesem Weg sein. Der in Frankreich geborene Autor, Timothée Parrique, der als Ökonom an der School of Economics and Management der Universität Lund in Schweden arbeitet, gilt als einer der wichtigsten Kritiker des Wachstumsprinzips.

Der kompromisslose Titel und die Einleitung mit der Überschrift „Ökonomie, eine Frage von Leben und Tod“ wird durch die folgende Bestandsaufnahme voll gerechtfertigt. Der ökologische Kollaps ist für Parrique keine Krise, sondern eine „Misshandlung“ der Erde; die soziale Spaltung ist für ihn „globale Apartheid“; und statt vom Anthropozän spricht er vom „Kapitalozän, Ökonozän und BIPozän“ (11 f.). Degrowth, so Parrique, ist keine unfreiwillige Dauerrezession, sondern „eine demokratisch geplante Reduzierung der Produktion und des Konsums zur Verringerung des ökologischen Fußabdrucks im Geiste sozialer Gerechtigkeit und in der Sorge um Wohlstand“ (17). Zur Vollständigkeit der Definition gehört für ihn die Angabe der unteren Grenze dieser Reduzierung: Sie könne enden, wenn eine „statische Wirtschaft im Einklang mit der Natur“ erreicht ist, „in der Entscheidungen gemeinsam getroffen werden und der Reichtum gerecht verteilt wird, um ohne Wachstum prosperieren zu können.“ Diesen Zielzustand nennt der Autor „Postwachstum“ (ebd.). Das Buch will sich einer dreifachen Herausforderung stellen: Verstehen, warum die Wachstumswirtschaft eine Sackgasse ist, skizzieren, wie Postwachstum aussehen könnte, und einen Weg vorschlagen, der dorthin führen könnte (ebd.).

Im 1. Kapitel geht es um die Irreführung durch das BIP, im 2. um die Unmöglichkeit der Entkopplung, im 3. um den Gegensatz von Markt und Gesellschaft. Im 4. Kapitel werden falsche Versprechungen der Wachstumsbefürworter entzaubert (etwa zu Armut, Beschäftigung und Lebensqualität). Das 5. Kapitel erzählt die Geschichte des Degrowth. Im 6. Kapitel wird der Weg des Übergangs skizziert. Das 7. Kapitel beschreibt Postwachstum als gesellschaftliches Projekt. Im 8. Kapitel schließlich werden die wichtigsten Kontroversen abgehandelt, die um das Thema Wachstumsbegrenzung und Postwachstumsgesellschaft entstanden sind. Darin ist das Verhältnis von Wachstumsökonomie und Kapitalismus besonders interessant. Für Parrique ist zwar klar, dass die Überwindung des Wachstumszwangs mit dem Ausstieg aus dem Kapitalismus einhergehen muss. Jedoch müssten „ökomarxistische Kritiker des Degrowth“ einräumen, „dass Wachstum nicht nur die Frucht des Kapitalismus ist, sondern auch das Produkt einer Metaphysik der Grenzenlosigkeit, die den Imperialismus, Kolonialismus, Extraktivismus, Produktivismus, Konsumismus, Materialismus, Transhumanismus etc. überzieht.“ Daraus folgt für Parrique: „Eine echte anthropologische Metamorphose, die weitaus radikaler ist als der bloße Antikapitalismus, ist unverzichtbar.“ (303)

An dieser Stelle könnte man einwenden, dass die genannte „Metaphysik der Grenzenlosigkeit“ selbst als Konsequenz kapitalistischer Vergesellschaftung begriffen werden kann, wie seit Marx vielfach dargelegt wurde. Und der Rezensent vermisst auch einen systematischen Blick auf die Temporalität, die mit dem im Titel verwendeten Begriff des „Bremsens“ und der Forderung nach „Einklang“ mit der Natur implizit angedeutet ist. Eine genauere Marx-Lektüre hätte hier wichtige Einsichten zum Verhältnis von Wert, Geld, Kapital einerseits, Zeit, Mensch und Charaktermaske andererseits ermöglicht. Dennoch kann das Buch für Einsteiger in die Postwachstums- bzw. Degrowth-Diskussion uneingeschränkt empfohlen werden – wegen seiner argumentativen Stringenz, seiner thematischen Vielfalt, seiner didaktischen Durchdachtheit und seiner sprachlichen Eleganz.

Stanley – Wie Faschismus funktioniert

Jason Stanley

Wie Faschismus funktioniert

kart., 216 Seiten, 22,- €, 2024 (Westend-Verlag)

von Bruno Heidlberger

Eine neue geopolitische Ära hat begonnen. Revisionistische Mächte zielen auf die Zerstörung der liberalen Weltordnung. Ihre Feinde haben die Initiative zurückerobert. Der reichste Mann der Welt, Elon Musk, hat sich zum „Chief-Verstärker des globalen Autoritarismus“ gemacht und Donald Trump geholfen die Präsidentschaftswahl 2024 zu gewinnen. „Der Autoritarismus setzt die Methoden der organisierten Kriminalität und des Rowdytums ein, um die Ordnung in der Partei aufrechtzuerhalten und sicherzustellen, dass die Autorität des Führers unangefochten bleibt“, erklärt die US-amerikanische Historikerin Ruth Ben-Ghiat.

„Ich kenne einige Leute, die Trump gewählt haben, Verwandte, Bekannte, Freunde – keine Ultrarechten, eher normale Leute. Viele von ihnen sind warmherzige Menschen, ohne viel politischen Durchblick, eher apolitisch“, sagt der US-Literaturwissenschaftler und Schriftsteller George Saunders. Für fast die Hälfte dieser ‚normalen’ Leute ist „offene Wertschätzung Hitlers akzeptabel“, berichtet die Washington Post.

Wie ist so etwas möglich? Warum wählen „normale, warmherzige Menschen“ diesen Präsidenten? „Was gestern noch arg verstörend war, wird durch stete Wiederholung irgendwann als normal empfunden“, beschreibt die Philosophin Petra Bahr den allmählichen Prozess der Normalisierung. Wiederholungen sind ein mächtiges Stilmittel nationalistischer Propaganda. Im Zeitalter von Social Media ist Propaganda vergleichbar mit der Invasion in Millionen von Gehirnen mit dem Ziel, Faktizität zu vernichten, Krisen zu produzieren, Emotionen zu manipulieren und Ungleichheit zu zementieren. Musk ist der erste globale Oligarch und der einflussreichste Agitator auf X. Er verbreitet Fake-News, antimigrantische Verschwörungstheorien, manipuliert Ängste und setzt Aggressionen frei, ist mit dem einflussreichen neofaschistischen Blogger und Vordenker Curtis Yarvin befreundet und interagiert mit dem britischen Rechtsextremisten Tommy Robinson auf X. Er hat sich „geschworen, den Wokeness-Virus zu zerstören“. Alt-Right beherrscht jetzt die sozialen Medien.

„Droht uns eine Wiederkehr des Faschismus? Befinden sich die liberalen Demokratien heute auf dem Weg in eine neue autoritäre Gesellschaftsform?“ Um diese Frage geht es in dem 2018 erschienen Buch How Fascism Works, das jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt. Jason Stanley, 1969 in Syracuse (New York) geboren, ist ein amerikanischer Philosoph, der bis vor kurzem an der Yale University in New Haven, Connecticut lehrte und schon lange vor dieser „Normalisierung“ warnt. In Wie Faschismus funktioniert analysiert er die Entstehung faschistischer Ideologien mit Bezug auf die USA, Indien und Europa. In einem Interview im polnischen Nachrichtenmagazin Polityka setzte er sich 2022 mit den Mechanismen der Entstehung und Verbreitung faschistischer Ideologien in Mittel- und Osteuropa und den Strategien der polnischen PiS-Partei auseinander.

Stanley kündigte jetzt an, die USA aufgrund des derzeitigen politischen Klimas zu verlassen. „Ich habe Angst, dass mich die Regierung ins Visier nimmt“. Stanley möchte seine schwarzen und schwarz-jüdischen Kinder schützen. Er sieht Angriffe auf DEI und die „Schwarze Geschichte“ als Angriffe auf schwarze Menschen und sagt: „Ich möchte, dass meine Kinder in Freiheit aufwachsen.“ Er folgt damit dem Ehepaar Timothy Snyder und Marci Shore, die beide in Yale Geschichte unterrichten nach Kanada, um an der ‚Munk School of Global Affairs and Public Policy’, zu arbeiten. Trotz seines Umzugs, so Stanley, werde „für die amerikanische Demokratie kämpfen, wo immer ich bin.“

Stanleys Forschung ist biographisch motiviert. Seine Mutter, Sara Stanley, und sein Vater, Manfred Stanley, kamen als Flüchtlinge in die USA. Sie hatten die Schrecken des Antisemitismus in West- und Osteuropa erlebt. Sein Vater ist in Berlin aufgewachsen. Sie waren Deutsche. Am Ende verlor seine Familie alles. „Mein Großvater, Magnus Davidsohn, war Oberkantor an der Synagoge in der Fasanenstraße; mein Vater sah das Haus abbrennen. In der Reichspogromnacht wurde mein Vater brutal zusammengeschlagen, in Folge dessen quälten ihn sein Leben lang epileptische Anfälle“, berichtet Stanley. „Meine Mutter stammt aus Ostpolen und überlebte in einem sibirischen Arbeitslager, bevor sie 1945 nach Warschau zurückgeschickt wurde, wo sie und ihre Eltern die Brutalität des polnischen Nachkriegsantisemitismus erfuhren.“

Faschismus ist für Stanley eine ständige Versuchung. Er sei nicht für Hitler und Mussolini reserviert. Wovor Stanley warnt, ist nicht die Wiederkehr des historischen Faschismus, aber vor „faschistischen Taktiken“. Das Buch handelt von den gemeinsamen Merkmalen faschistischer Bewegungen und Taktiken, von sich wiederholenden Mustern, Weichenstellungen, Tendenzen von Normalisierungen im öffentlichen Raum. Stanley geht es darum, dass wir diesen Sog frühzeitig erkennen – uns dem Sog seiner Normalisierung widersetzen. Normalisierung heißt für ihn, das Unsagbare sagbar, das Undenkbare denkbar zu machen. Die Abstimmung am 29.01.25 im deutschen Bundestag war womöglich so ein Tag der Normalisierung. Ein Tag, wo in autoritärer Anmaßung das Grundgesetz und die Menschenrechte nichts mehr gelten. „Mir ist es völlig gleichgültig, wer diesen Weg politisch mitgeht. Ich gehe keinen anderen“. Migration und Kriminalität bei Flüchtlingen sind die Lieblingsthemen einiger Medien und von Konservativen bis nach rechts außen. Damit zielt man direkt auf Affekte und Ressentiments der Wähler und kann Wahlen gewinnen. Was die Neue Rechte nie geschafft hat, das haben CDUCSU und FDP geschafft, die Spaltung der bürgerlichen Mitte. Die Probleme scheinen jetzt erst richtig anzufangen.

Im aktualisierten Vorwort, noch vor der erneuten Wahl Donald Trumps zum Präsidenten, meint Stanley, seine „Lehren von damals“ hätten heute „eine Dringlichkeit erreicht“, die er „selbst nicht vorhersehen konnte“. Die liberale Demokratie sei „selbst in ihren ehemaligen Bollwerken auf dem Rückzug – seit Mitte des 20. Jahrhunderts“ sei „sie nicht mehr dermaßen gefährdet.“ „Hinter dieser transnationalen, ultranationalistischen Bewegung“, so Stanley, stünden „die Kräfte des Kapitals“. Technologieriesen profitierten ebenso wie die Medien von dem dramatischen Aufeinandertreffen von „Freund und Feind“. Zudem freuten „sich Ölkonzerne, wenn ultranationalistische Bewegungen Klimaschutzvereinbarungen wie das Pariser Abkommen als Bedrohung der staatlichen Souveränität“ darstellten. „Je schwächer einzelne Länder und internationale Verträge werden, desto größer wächst die Macht multinationaler Unternehmen.“ Stanleys These lautet, dass der Faschismus „keine neue Bedrohung darstellt, sondern vielmehr eine ständige Versuchung ist“.

Wenn Stanley von „Faschismus“ spricht, meint er den „Ultranationalismus jeglicher Couleur (ethnisch, religiös, kulturell), … wobei die Nation durch einen autoritären Anführer vertreten wird, der in ihrem Namen spricht.“ „Faschistische Politik“ müsse auch „nicht zwangsläufig zu einem explizit faschistischen Staat führen“; gleichwohl sei sie „gefährlich“. Sie umfasse „eine Vielzahl unterschiedlicher Strategien: die mythische Vergangenheit, Propaganda, Anti-Intellektualismus, Unwirklichkeit, Hierarchie, Opferrollen, Recht und Ordnung, sexuelle Ängste, Appelle an das Vaterland und den Abbau von Gemeinwohl und Einheit.“ Einzelne Elemente auf dieser Liste seien „legitim und manchmal gerechtfertigt“; wenn sie aber in einer Partei oder politischen Bewegung zusammenkämen, seien sie gefährlich, vor allem dann, wenn sie Teile der Bevölkerung entmenschlichen. „Das berechnendste Symptom faschistischer Politik“ sei „die Spaltung“. Kommunisten setzten auf die „Klassenunterschiede, Faschisten auf ethnische oder religiöse Differenzen“. Letztendlich schaffe faschistische Politik mit Hilfe von Geschichtsrevisionismus, mythischer Erzählungen, Propaganda und Anti-Intellektualismus „einen Zustand der Unwirklichkeit, worin Verschwörungstheorien und Fake-News eine vernünftige Debatte“ ersetzten. Im weiteren Verlauf des Textes analysiert Stanley ausführlich diese faschistischen Strategien in Bezugnahme auf ihre Ausprägung in den Vereinigten Staaten, insbesondere vor und während Donald Trumps erster Präsidentschaft.

Epilog

Jason Stanley ist überzeugt, nur wenn wir faschistische Politik erkennen, können wir ihren schädlichen Auswirkungen entgegentreten und zu unseren demokratischen Idealen zurückfinden. Mit seiner Studie will uns Stanley auf die „Gefahr einer Normalisierung des faschistischen Mythos“ hinweisen. Sozialwissenschaftliche Forschungen zeigten, „dass Einschätzungen zur Normalität“ …]„von dem beeinflusst werden, was die Menschen für statistisch unauffällig halten“. Dabei spielen das soziale Umfeld und die Medien eine große Rolle. Der Yale-Philosoph Joshua Knobe und sein Psychologie-Kollege Adam lieferten „eine Erklärung für ein Phänomen, das diejenigen, die den Übergang von der Demokratie zum Faschismus miterlebt haben, regelmäßig aus eigener Erfahrung und mit großer Besorgnis betonen: die Tendenz von Bevölkerungen, das vormals Undenkbare zu normalisieren“. Dies sei auch, so Stanley, „ein zentrales Thema der 1957 erschienenen Memoiren meiner Großmutter Ilse Stanley, Die Unvergessenen.“„Sie blieb bis zum letztmöglichen Moment, im Juli 1939, in Berlin, um im Untergrund weiterarbeiten zu können. Von 1936 bis zur Reichskristallnacht wagte sie sich, als Nazi-Sozialarbeiterin verkleidet, in das Konzentrationslager Sachsenhausen und rettete dort, einen nach dem anderen, Hunderte von Juden (412 Menschen, d. Verf.) vor dem Tod. In ihrem Buch schildert sie das Missverhältnis zwischen den extremen Zuständen, die sie im Konzentrationslager erlebte, einerseits und der Leugnung des Ernstes der Lage und ihrer Normalisierung durch die jüdische Gemeinde in Berlin andererseits. Sie bemühte sich, ihre Nachbarn von der Wahrheit zu überzeugen“.

Stanley macht zum Schluss seiner Studie deutlich, wie weit die Normalisierung bereits vorangeschritten ist. Derzeit erlebten wir, „wie Regierungen weltweit die brutale Behandlung von Flüchtlingen und Arbeitern ohne Papiere zur gängigen Praxis erklären. … Mit der Normalisierung“ werde „das moralisch Außergewöhnliche in das Gewöhnliche verwandelt“. Diese kognitive Verzerrung wirkt höchst politisch. Was gestern noch verstörend war, wird durch immer wieder kehrende Wiederholung als normal empfunden. So würden Migranten „als Quelle von Terrorismus und Gefahr gezeichnet, statt Empathie zu erzeugen.“ Dass selbst die Hilfsbedürftigsten noch als „fundamentale Bedrohung“ dargestellt werden können, zeuge von der „irreführenden Macht des faschistischen Mythos.“ Stanley betont, dass wir trotz unserer Fehler und unterschiedlichen Perspektiven die Fähigkeit zur Empathie und zur Zusammenarbeit besitzen. Sein Buch ist ein Plädoyer für Menschlichkeit und Solidarität, das uns daran erinnert, dass wir nicht in den Extremismus und die Intoleranz verfallen, sondern uns bemühen sollten, Brücken zueinander zu bauen – „aber wir sind keine Teufel.“

Fazit

„Das, was die Trump-Regierung gerade macht, ist Faschismus“, erklärt Stanley. Die politische Entwicklung, insbesondere in den USA, hat Stanleys Befürchtungen bestätigt. Die von ihm untersuchten gemeinsamen Merkmale faschistischer Bewegungen und Strategien faschistischer Politik treffen auf das heutige Amerika weitgehend zu. Laut einer Umfrage von ABC News und Ipos vom Oktober 2024 betrachteten 49% der amerikanischen registrierten Wähler Trump als „Faschisten“, definiert in der Umfrage als „einen politischen Extremisten, der versucht, als Diktator zu agieren, individuelle Rechte missachtet und Gewalt gegen ihre Gegner bedroht oder Gewalt anwendet“. Die Trump-Regierung, die beschuldigt wird, Einwanderer entgegen gerichtlicher Anordnungen abzuschieben, könne nicht mehr, so Stanley, nur als „populistisch“ betrachtet werden. Zudem werde die freie Meinungsäußerung eingeschränkt, indem Universitäten und Bundesbehörden, die die ‚DIE’-Politik (Diversität, Gleichheit und Inklusion) unterstützen, die Finanzierung entzogen wird. Trump setze Antisemitismus ein, um die Hochschulen finanziell und politisch unter Druck zu setzen. Die Columbia University hat sich gefügt und ihre Fakultät für Nahoststudien praktisch unter Zwangsverwaltung gestellt, andere Universitäten haben sich weggeduckt.

„Das Unfassbare geschieht, und wenn wir zunächst nicht reagieren, wird das Unfassbare fassbar und dann normal“ (Saunders). Tatsächlich erscheinen die Reaktionen in den USA auf die Trumpschen Verfassungsbrüche bislang seltsam gedämpft. In der Psychologie gibt es dafür einen Begriff: ‚normalcy bias’, ‚Normalitätsverzerrung’, genauer ‚Drang zur Normalität’. Er beschreibt die Tendenz, angesichts einer Katastrophe deren Ausmaß zu unterschätzen und davon auszugehen, dass die Dinge wie gehabt weiterlaufen.

Auch in Deutschland findet seit Jahren eine Normalisierung rechtsextremen Gedankengutes statt. Dies zeigen die Leipziger Autoritarismus-Studien und die Mitte-Studie. Das gesellschaftliche Tabu, rechtsextreme Parteien zu wählen, ihre Narrative und Begriffe zu übernehmen oder in Talkshows einzuladen, wie es noch bei der NPD galt, ist längst weggefallen. Inzwischen ist es gängige Praxis, dass die Springer-Presse sowie konservative und rechte Medien gegen ‚Cancel culture’, ‚Wokisten’ und ‚Sozialtourismus’ wettern. Seit den Wahlen 2021übernehmen auch CSU und CDU im Rahmen ihres Kulturkampfes die aus Amerika importieren rechtextremistischen Narrative, die sie vor allem gegen die Grünen wenden. Einen Tag, nachdem die AfD eine Landratswahl in Sonneberg gewonnen hatte, erklärte Friedrich Merz die Grünen zum „Hauptgegner“. Am 29.01.24 bediente sich Merz einer faktenfreien Notstandsrhetorik: „Er wollte mit seinem Vorstoß in der Migrationspolitik ‚all in’ gehen“, wie er sagt. Was folgte, war ein gefährliches Pokerspiel mit der parlamentarischen Demokratie. Die AfD feierte das Ergebnis als historisch: jetzt und hier beginne eine neue Epoche. Ihr Parlamentsgeschäftsführer Bernd Baumann sagte, die Abstimmung sei „wahrlich ein historischer Moment“. Wie andere westliche Länder erlebe nun auch Deutschland „das Ende der rot-grünen Dominanz“ – und zwar „für immer“. Wer Rhetorik und Politik der AfD kopiert, zerstört die Demokratie. Zerbricht die CDU wie zuvor schon andere konservative Parteien in Europa, ist die AfD an der Macht. Unreflektierte Verbreitung rechtsextremistischer Begriffe und Narrative führt zur Normalisierung des Rechtsextremismus. Die AfD wird immer größer und immer radikaler. Im neuen Bundestag sitzt sie als zweitstärkste Fraktion mit 152 Abgeordneten, darunter bekennende Neonazis. Wo die AfD große Wahlerfolge feiert, bekennen sich Menschen öffentlich dazu, die Partei zu unterstützen. Zum anderen wirkt die globale Normalisierung von faschistischen oder rechtsextremen Ideen, insbesondere die erneute Präsidentschaft Trumps, auf Deutschland zurück. Die extreme Rechte fühlt sich in ihren Positionen bestätigt.

Jason Stanley warnt uns vor dem Prozess der Normalisierung faschistischer Taktiken, Dynamiken und Muster, dem ‚Es-wird-schon-nicht-so-schlimm werden’ oder ‚Es-war-schon-immer-so’-Modus. Statt sich selbst zu beruhigen, sollte man gegen die Normalisierung ankämpfen – sei es nur, um die eigene Resilienz zu stärken und den Wissens- und Erwartungshorizont zu erweitern. Der Verführungskraft des ‚Normalen’ können wir vor allem durch Wissen begegnen, auch durch die Verteidigung von demokratischen Werten und öffentlichen Protest. Durch den Mut zum Widerspruch. Die deutsche Geschichte lehrt uns: der Wähler hat nicht immer recht. Deshalb wird er von unserem Grundgesetz eingehegt. Über der Mehrheitsregel stehen die Menschenrechte und Art. 1 des Grundgesetzes.

Politik und Journalisten behandeln Bürger oft wie Kinder und nehmen ihnen die Verantwortung; auch aus der Angst, nicht gewählt zu werden. Wie nachsichtige Eltern behandeln wir AfD-Wähler mit unserem ‚Verständnis’, statt ihnen die Stirn zu bieten. Die Wahrheit ist zumutbar. Jeder hat für die Folgen seines Tuns Verantwortung zu tragen. Wir sollten mehr Verantwortung vom Wähler erwarten und den Aufstieg der Autoritären nicht allein auf das Versagen der Politik der demokratischen Parteien zurückführen.

Jason Stanley’s Wie Faschismus funktioniert bietet uns die Möglichkeit, moderne faschistische Tendenzen frühzeitig zu erkennen und ihrer Versuchung zu widerstehen. Dabei gehe es nicht darum, „ob der Begriff perfekt passt. Vielmehr hilft er uns, die Strategien dieser Bewegung zu verstehen.“ Wie Faschismus funktioniert ist das Buch der Stunde.

Govrin – Universalismus von unten

Jule Govrin

Universalismus von unten. Eine Theorie radikaler Gleichheit

br., 498 Seiten, 28,- €, Berlin 2025 (Suhrkamp-Verlag)

von Fritz Reheis

Der Begriff „Gleichheit“ wird üblicherweise entweder mehr „formal“ oder mehr „material“ verstanden. Formal verweist dabei auf den Bezug zu einer formalen Ordnung wie etwa einem System von Verträgen, einem formal gedachten Markt oder Staat. Material hingegen bezieht sich auf Substanzielles, also faktische Eigenheiten von Objekten oder Subjekten, wobei in der Kritischen Theorie in aller Regel soziale Aspekte wie die Verfügung über Ressourcen, vor allem Eigentum und Macht, im Zentrum stehen.

In „Universalismus von unten“ wird materiale Gleichheit nun auf eine andere Weise konkretisiert: Sie wird auf den menschlichen Körper bezogen, also gewissermaßen eine Stufe tiefer als in den üblichen Diskussionen zur materialen Gleichheit. Am Körper ist es seine Verwundbarkeit, aus der heraus Jule Govrin ihre Überlegungen zu Gleichheit und Ungleichheit entwickelt. Govrin ist Philosophin, hat derzeit eine Gastprofessur an der Universität Hildesheim und bekennt sich zu einem feministischen Ansatz in Philosophie und politischer Theorie. In „Universalismus von unten“ will sie hauptsächlich an Judith Butlers Körper-, Rancières Ungleichheits- und Bourdieus Habitusbegriff anknüpfen, um durch ein „lose verflochtenes Gewebe der Denkstränge“ zu einer „Theorie radikalrelationaler Gleichheit“ zu gelangen (378). Präsentiert wird allerdings streckenweise ein fast unübersehbares Geflecht, aus dem heraus Govrin immer wieder eigene theoretische Gedanken und empirische Belege aufblitzen lässt.

Die These des Buches lautet: Körper sind dadurch definiert, dass sie von Anfang an existenziell wechselseitig voneinander abhängig und insofern verwundbar sind. Ausgehend von Körpern muss Ungleichheit deshalb als ungleiche Verwundbarkeit verstanden werden, und zwar als eine Verwundbarkeit, die sozial gezielt hergestellt wird. Zum Beispiel sind es Schulden- und Austeritätspolitiken, die als Formen differentieller Ausbeutung begriffen werden müssen und Menschen ungleich machen. Auf der Suche nach einem Weg zur Gleichheit setzt Govrin nicht auf den Staat, klammert ihn aber auch nicht aus. Sie plädiert für körperliche Gleichheitspraktiken, die sie in Formen gelebter Sorgearbeit und gelebter Solidarität findet. Die „Herausforderung für solidarische Praktiken“ liege darin, „Bewusstsein über asymmetrische Beziehungen zu schaffen und den Blick für Ungleichheit zu schärfen“ (388). Gelebte Sorge und Solidarität, traditionellerweise Grundanliegen der christlichen und kommunistischen Moral, finde sich heute etwa in Streik-, Schuldnerbewegungen, in Initiativen gegen Zwangsräumungen oder für eine „Sorgende Stadt“ – die alle ganz wesentlich von Frauen getragen würden. Dort werde körperlich erfahren, wie es sich anfühlt, aufeinander zu achten, die unterschiedlichen individuellen Lebenssituationen zu berücksichtigen und sich dennoch die gleiche soziale Betroffenheit bewusst zu machen, für deren Überwindung man sich zusammengefunden hat. Versammlungen seien die konkreten Orte, „wo Worte nicht vom Körper getrennt werden können“, „wo die eigene Stimme zu erheben bedeutet, zu gestikulieren, zu atmen, zu schwitzen und zu spüren, dass die Worte gleiten und in den Körpern anderer aufgefangen werden“ (Verónica Gago; 400). Körperlich gelebte Gleichheit ermögliche die „Gegendressur“ (Bourdieu), aus der heraus ein „Universalismus von unten“ begründet werden könne.

Das Buch fasziniert durch seinen Ansatz beim Körper und seiner Verwundbarkeit. Es ist klar gegliedert in I. Körper, II. Ökonomie und III. Gleichheit. Aber die Lektüre der nahezu 500 Seiten lässt den Rezensenten angesichts der Quantität der Anknüpfungspunkte an andere Autoren bisweilen nicht nur den Überblick verlieren. Nicht immer wird klar, was nun eigentlich von der Autorin selbst stammt, und was in diesem Buch nur neu kombiniert wird. Eine etwas systematischere Herangehensweise, etwa an der Unterscheidung zwischen deskriptiven, analytischen und präskriptiven Aussagen zu Gleichheit/Ungleichheit orientiert, hätte die Überzeugungskraft der sozialphilosophischen Argumentation erhöht. Dennoch ist das Buch, wie in der „Süddeutschen Zeitung“ treffend formuliert, ein wirksames „Gegengift“ zum „libertären Autoritarismus“, der derzeit weltweit Konjunktur hat und mit dem Bild der „Kettensäge“ den Bezug zur körperlichen Dimension von Ausbeutung bestens veranschaulicht.

Saar – Was ist Sozialphilosophie?

Martin Saar

Was ist Sozialphilosophie?

br., 175 Seiten, 22,- €, Berlin 2025 (Suhrkamp-Verlag)

von Alexander von Pechmann

Was ist Sozialphilosophie? Eine berechtigte Frage. Denn zu ihr sind derzeit viele Antworten in Umlauf. Sie reichen von einer „Ethik der sozialen Normen“, die ihren Anfang schon in der griechischen Philosophie hatte, über eine „Metaphysik der Sitten“, wie sie exemplarisch von Kant ausgearbeitet wurde, bis hin zu dem, was man mit Ferdinand Tönnies und Max Weber als „Allgemeine Soziologie“ bezeichnen kann. Für Kritiker wie den gefürchteten Positivisten Ernst Topitsch hingegen bewegt Sozialphilosophie sich zwischen Ideologie und Wissenschaft, deren Grundsätze daher nur „Leerformeln“ enthalten.

Unabhängig vom Streit darüber, was Sozialphilosophie ist und was sie kann, erscheint es jedoch sinnvoll, wenn Martin Saar sie in historischer Sicht da beginnen lässt, als die dann so genannte „Gesellschaft“ sich in der frühen Neuzeit von dem vormals religiös-politischen Ordnungsrahmen zu emanzipieren begann und die Frage nach der Verfasstheit der Gesellschaft zu einem theoretischen wie praktischen Problem wurde. Sie provozierte seit Thomas Hobbes unterschiedliche Modelle eines „Gesellschaftsvertrags“.

Interessant aber wird Sozialphilosophie dann, wenn sie nicht nur über die Gesellschaft nachdenkt und ihre Modelle entwickelt, sondern wenn sie ihr Nachdenken selbst als Teil oder Moment der gesellschaftlichen Praxis begreift. Dieser Vorgang der Selbstreflexion setzte mit Hegel und dann explizit mit Marx ein, der der Philosophie nicht nur eine theoretische und interpretierende, sondern eine verändernde und praktische Rolle zuwies.

In dieser Tradition versteht Martin Saar „Sozialphilosophie“ nicht als eine Sparte innerhalb der akademischen Philosophie, die sich dem „Gedöns“ der sozialen Fragen annimmt, sondern als Reflexion darauf, dass die Fragen und Antworten der Philosophie nicht abseits im vermeintlichen „Elfenbeinturm“ gestellt und gegeben werden, sondern dass sie je schon, wie es so schön heißt, „gesellschaftlich vermittelt“ sind.

Saars Buch ist kein Lehrbuch, das schulmäßig abhandelt, was Sozialphilosophie ist und wozu sie gut und nützlich wäre. Es zeichnet vielmehr das weitgefächerte und facettenreiche Panorama dessen, was und wie gegenwärtig von Philosophen und glücklicherweise zunehmend auch von Philosophinnen und nicht-westlichen Philosoph:innen über die Gesellschaft in systematischer Absicht gedacht wird, und wie sich darin zugleich die gesellschaftlichen Konflikte widerspiegeln. Zusammengehalten wird dieses Panorama durch „zentrale Stichworte und Bausteine einer Sozialphilosophie“ (20), die in insgesamt sieben Kapiteln als Einzelbeiträgen verhandelt werden, die sich öfters überschneiden, aber sinnvoll ergänzen.

Das Buch beginnt naheliegenderweise mit der „Kunst, Abstand zu nehmen“. Denn wenn das Nachdenken über Gesellschaft, wie gesagt, je schon „gesellschaftlich vermittelt“ ist, dann besteht der Verdacht, dass dadurch das Bestehende eh nur bestätigt und affirmiert wird. Wie also lässt sich auf dieser Grundlage dennoch eine kritische Distanz zur Gesellschaft gewinnen?

Die entscheidende Technik der Abstandnahme sieht Saar in der Historisierung. Als klassischen Fall solcher Historisierung nennt er Rousseaus Discours über die Ungleichheit der Menschen, der erzählt, wie es zur Herrschaft von Menschen über Menschen gekommen ist. Solche Erzählungen relativieren und kontextualisieren die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse; sie schaffen dadurch einen „Abstand zu geltenden Werten und Einstellungen“ (25) und machen so Alternativen denkbar. Sie verweisen zugleich aber auch auf das Kritik-, Konflikt- und Veränderungspotential in der Gesellschaft und sind oft Symptome und Artikulationen ihrer Krise.

Die Instanz der Abstandnahme ist für Saar nicht die Gesellschaft, sondern „das Selbst“. Er nennt dieses „Selbst“ den Adressaten einer Sozialkritik, der aufgefordert wird, sich aus seinen Verstrickungen in die geltenden Werte und Normen zu lösen. Mir scheint jedoch, dass Saar über diese Adressierung hinaus grundsätzlich annehmen muss, dass ein solches „Selbst“ nicht allein durch die gesellschaftlichen Verhältnisse geprägt ist, sondern dass es in sich auch das Element des „Eigensinns“ und einer Autonomie enthält als Bedingung der Möglichkeit, sich überhaupt aus diesen sozialen Zwängen zu lösen. Auf diesen Doppelcharakter von sozialer Hetero- und individueller Autonomie wird Saar im Weiteren noch ausführlich eingehen.

Der daran anschließende Beitrag wendet sich der Macht und der Machtkritik als zentralen Bausteinen einer kritischen Sozialphilosophie zu. Denn das skizzierte Spannungsverhältnis von „Individuum und sozialer Ordnung (hat) einen eindeutigen Namen: „Macht“ (37). Allerdings habe der Begriff der Macht ein „Doppelgesicht“, das eine lange philosophische Tradition habe, und dem Saar im Folgenden nachgeht. Einmal wird Macht mit „Herrschaft“ identifiziert. Hier korrespondiert der Verfügung über Macht auf der einen Seite die Ohnmacht auf der anderen Seite. Träger der Macht können im sozialphilosophischen Rahmen Individuen oder Personen sein, wie etwa in Max Webers bekannter Definition; sie wird heute jedoch vor allem anonymen gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen zugeschrieben, die Macht über die dadurch Unterworfenen ausüben. Dieses Machtverständnis ordnet Saar der von Hegel, Marx und der Kritischen Theorie geprägten Tradition zu, die bis zu Habermas und Honneth reicht. Hier geht die Kritik der Macht darauf aus, die in den sozialen Beziehungen und Praktiken wirksamen Herrschaftsverhältnisse aufzudecken, um sie letztlich zugunsten dessen aufzulösen, was man als „Assoziation von Freien und Gleichen“ bezeichnet hat. In dieser Tradition wird also „die Macht als Abwesenheit von Freiheit gedacht“ (48) – und, umgekehrt, die Freiheit als Abwesenheit von Macht.

Das andere Verständnis lässt Saar mit Aristoteles und Spinoza beginnen. Die Macht wird hier nicht negativ als Verhinderungsgrund, sondern positiv als Ermöglichungsbedingung und Konstitutionsprinzip sozialen Handelns gedacht. In dieser Perspektive formiert die Macht, als dynamis oder potentia, den „Konstitutionsraum von interpersonalen Verhältnissen, sie ist das Medium des Sozialen“ (44). „Macht“, schreibt etwa Hannah Arendt, „besitzt eigentlich niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammenhandeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen“ (43).

Dieses „Doppelgesicht“ der Macht stellt freilich eine sich kritisch verstehende Sozialphilosophie „vor ein folgenreiches Problem“ (45). Denn wenn man der Linie von Spinoza bis Arendt folgt, so lässt sich die Macht nicht kritisieren, da sie ja als konstitutiv für einen zwanglosen Zusammenschluss von Menschen gilt. Hier gilt letztlich die Demokratie oder Republik als diejenige politische Ordnung, die den menschlichen Handlungsfähigkeiten am angemessensten ist. Saar wird darauf später zurückkommen. Zum anderen ist nach diesem Verständnis die Macht ubiquitär; es kennt keinen machtfreien sozialen Raum, kein „absolutes Außen der Macht“ (51). Was daher der Machtkritik bleibt, ist eine sorgfältige und detaillierte Beschreibung und Analyse der komplexen Machtstrukturen, wie sie vor allem Foucault vorgenommen hat. Hier ist es die Macht, die einerseits die gesellschaftlichen Diskurse prägt, formt und normiert, die andererseits jedoch damit zugleich die Subjekte zur Handlungsfähigkeit ermächtigt. Damit aber werde das, so formuliert Saar das Problem, was die Kritik der Macht evoziert, zu dem, was diese Kritik erst ermöglicht. „Was die Kritik nötig gemacht hat, hat sie zugleich erst möglich gemacht“ (53).

Eine solche Sozialphilosophie, so verstehe ich Saar, vermag zwar all die Machtverhältnisse in den sozialen Beziehungen und deren Verschiebungen gut beschreiben und erhellen, sie kann jedoch keine Alternative jenseits der Macht formulieren. Für sie ist Kritik letztlich die Kunst des erforderlichen Unterscheidens und Differenzierens, aber nicht des notwendigen Hinterfragens und Problematisierens.

Nach dem methodischen Problem der Abstandnahme und dem inhaltlichen Problem der Macht als Medium des Sozialen formuliert Saar im dritten Beitrag eine Systematik des Gesellschaftlichen. Er unterscheidet drei Ebenen: Ordnung – Praxis – Subjekt. Fragt man, was Gesellschaft ist, so wäre das erste, dass sie – im Unterschied zur bloßen Menge – eine „Form von Ordnung, ein Geordnetsein (ist), das sich aus der Vergesellschaftung ergibt.“ (57).

Auf der zweiten Ebene, der Praxis, wird diese Vergesellschaftung thematisch. Die Ordnung fußt auf sozialen Prozessen, auf Praktiken der Kommunikation und Kooperation, der Konfliktaustragung etc., die ihrerseits sozial sind. In diesem Sinne von Gesellschaft zu reden, heißt, über all die Formen und Widersprüchlichkeiten des „doing society“ (59) zu reden.

Auf der dritten (und kleinsten) Ebene schließlich fragt man nach den Agenten. Diese sind zwar die kleinsten Einheiten des Sozialen, aber sie sind – im sozialphilosophischen Rahmen – „nicht dessen Fundament; sie sind Selbst, aber vergesellschaftete Selbst“ (60). Ohne dieses „Selbst“ wäre Sozialphilosophie bloß Systemtheorie. Wie dieses „vergesellschaftete Selbst“ näher zu verstehen ist, thematisiert Saar im Weiteren da, wo es um Kritik und Widerstand gehen wird.

Diese drei Ebenen des Sozialen sind, in Übernahme des Vorigen, zugleich Felder der Macht. Hier nimmt die Ordnung die Form der Herrschaft an, in dem sie die Handlungsmöglichkeiten und -fähigkeiten der Subjekte systematisch strukturiert und eindeutig verteilt. Sie bildet den institutionellen Rahmen, innerhalb dessen sich die Gesellschaft bewegt. Auf der Ebene der Praxis drückt die Macht sich in Form der „Normalisierung“ aus, wie Saar dies mit Bezug auf Foucaults Diskursanalysen nennt. Und auf der untersten Ebene tritt sie im Vorgang der „Subjektivierung“ auf; hier ist, wie schon oben verhandelt, das Subjektwerden und die Entwicklung der Handlungsfähigkeiten auf Engste verzahnt mit der Unterordnung und Anpassung an die geltenden Normen.

Die sozialphilosophische Analyse dieser vorhandenen Machtstrukturen des Sozialen fragt nun nicht nur nach den Kosten und Opfern, die diese Formen der Vergesellschaftung erzeugen, sondern richtet den Blick zugleich auch auf die Potentiale einer Gegen-Macht, „man könnte auch sagen: von Momenten der Selbstbestimmung“ (66). Auf der Ebene der Ordnung formiert sich diese Gegen-Macht im Kampf um eine (radikale) Demokratie, die von der Fähigkeit „zur kollektiven Selbstverfassung“ lebt. Vielleicht, so Saar, sei dies „die fundamentale Prämisse noch der düstersten Zeitdiagnosen (von Marcuse bis Agamben): dass gesellschaftliche Selbstbestimmung trotz allem möglich sei“ (67). Auf der sozialen Ebene der Praxis richtet sie sich auf den Widerstand, der sich in den vielfältigsten Formen der Subversion und des Protestes, den kreativen Umdeutungen und Transformationen des Sozialen zeigt, sowie schließlich auf der kleinsten Ebene in Akten der Selbsttransformation, die sich aus denjenigen Abweichungen von sozialen Normen ergeben, die für das Selbst „existentielle Relevanz und soziale Sprengkraft“ (69) haben.

Dieser Verortung von Macht und Gegenmacht im sozialen Ganzen schließt sich nun eine nähere Untersuchung der Kritik und des Widerstands an. Eine Form der Kritik und des Widerstands lässt sich in der Formel Adornos zusammenfassen, wonach ein „richtiges Leben im falschen“ nicht möglich sei, die in jüngerer Zeit von Geoffrey de Lagasnerie in „Denken in einer schlechten Welt“ (2018) erneuert wurde. Nach ihr ist Kritik Totalkritik, und der Widerstand richtet sich letztlich auf den ‚Sturz des Systems’. Einem solchen fundamentalen theoretischen wie praktischen Nonkonformismus hält Saar, wenn ich recht sehe, entgegen, dass in diesem Fall der Ort der Kritik und der Widerständigkeit allein das existentielle Selbst ist, das sich jedoch nicht mehr im Sozialen verorten kann. „Der Verweis auf die Einzelnen und ihre gewissenhafte Selbstbefragung klingt dann nach genau dem politischen Existenzialismus, der ja gerade keine Gegenposition anbieten will“ (79).

So gesehen bewegt sich eine kritische Sozialphilosophie also in dem Dilemma, dass eine fundamentale Herrschaft- und Machtkritik diese Kritik nicht mehr im Sozialen verorten kann, dass aber umgekehrt eine Verortung der Kritik im sozialen Raum sich dem Verdikt der ‚Pseudokritik’ aussetzt, weil sie darin der Anpassung, Teilhabe und Affirmation der bestehenden Machtstrukturen unterliegt.

Dem setzt Saar das Konzept einer „demokratischen Widerständigkeit“ (80) als Ausweg entgegen, das er vor allem in Bezug auf Etienne Balibars Idee der „Gleichfreiheit“ entwickelt. Diese verankert die Kritik und den Widerstand im sozialen Raum selbst. Demnach ist die Demokratie weder das bloße Etikett einer herrschaftsdurchsetzten Ordnung noch ist sie ein herrschaftsfreier politischer Raum. Vielmehr existiere die Demokratie „von Beginn an“ in der Spannung zwischen „Aufstand“, der revolutionären Erkämpfung von Freiheit und Teilhabe, und der „Verfassung“ im Sinne einer nationalstaatlichen Rechtsordnung. Durch diese Kombination von „Konflikt und Institution“ sei der Demokratie ihre radikale Selbstkritik und Selbstdynamisierung eingeschrieben. Deshalb gehören sowohl die (wenigen) revolutionären Momente als auch die vielen Akte der Gehorsamverweigerung oder des zivilen Widerstands zum ‚Wesen’ der Demokratie. Sie ist daher als in sich widersprüchlich zu verstehen, da in diesem sozialen Raum die institutionellen Ungleichheiten und Diskriminierungen mit den entgegengesetzten emanzipatorischen Akten der Selbstbestimmung einher gehen.

Allerdings ist dieser aufgespannte Rahmen einer „demokratischen Widerständigkeit“ für Saar doch recht unterbestimmt. Es sei daher auf der einen Seite das „diagnostische Kerngeschäft einer Kritischen Theorie“, die prägenden Herrschaftsmuster genauer zu analysieren, nach denen die Gesellschaft in Gruppen und Klassen gespalten ist, ohne sich dabei freilich schon vorab festzulegen, ob diese Spaltungen „entlang von Besitz, Klasse, Identität, Geschlecht oder anderen Markierungen“ (90) verlaufen. Auf der anderen Seite aber ist festzustellen, dass es den so diskriminierten und marginalisierten Gruppen schwerfällt, sich im öffentlichen Raum zu artikulieren. Daher kommt der Kritischen Theorie neben der Diagnose die Aufgabe zu, den Platz „im Dickicht der oft unübersichtlichen, manchmal unsichtbaren Widersetzungen gegen das Unsichtbar- und Stummgemachtwerden“ (94) einzunehmen.

Diesen Überlegungen zur Verortung des Widerstands und einer kritischen Sozialphilosophie im sozialen Raum schließt sich ein Beitrag zu ihrer Verortung in der Zeit an. Die – zumindest akademische – Philosophie erscheine einerseits als „aus der Zeit gefallen“ (95), da sie vorwiegend mit ihrer eigenen Vergangenheit beschäftigt ist, und sich, oft selbstgefällig, als Erbin und Wahrerin einer langen und großen Tradition der Wahrheitssuche versteht. Andererseits aber bewegt sie sich faktisch durchaus in all den Abhängigkeiten, die sie mit den sozialen, politischen und wissenschaftlichen Mächten ihrer Gegenwart verbindet: das Gerangel um die Besetzung der Lehrstühle, die Erfordernisse des Arbeitsmarkts, die Mitwirkung in Kommissionen etc. In dieser Hinsicht ist sie völlig „Kind ihrer Zeit“, deren Besonderheit, so der ideologiekritische Verdacht böser Zungen, in ihrer „Harmlosigkeit“ (101) besteht, weil sie nichts bringt, was über ihre Zeit hinausgeht. Philosophie, so Saars Schlussfolgerung, muss sich in ihrer Zeit gegen ihre Zeit positionieren.

Ein solches „unzeitgemäße“ Denken lässt Saar mit Nietzsche am Ende des 19. Jahrhunderts beginnen. Er verkörperte gleichsam den Ennui gegenüber einer steril und kraftlos gewordenen Philosophie, deren Traditionspflege sich häuslich und kritiklos im Machtgefüge ihrer Zeit eingerichtet hatte. Dem setzte Nietzsche ein wahrhaft freies Denken entgegen, das die ausgetretenen Pfade verlässt, sich aufs „offne Meer“ wagt und Neues denkt. Seine radikale Umwertung der Werte, seine Einsprüche gegen die starre und lebensfeindliche Moral seiner Zeit oder die erstarrten Gegensätze von Körper und Geist, von Natur und Kultur etc. deutet Saar als das „Herauswinden aus der eigenen Zeit“ (103), das Nietzsche freilich in einer allzu heroischen und selbstbezüglichen Sprache vorbrachte, und das nicht recht anschlussfähig war.

Diesem „Traum des Herausspringens aus der eigenen Geschichte“ (114) setzt Saar eine andere Option der philosophischen Kritik entgegen. Diese negiert nicht abstrakt und pauschal das gesamte Heute, sondern richtet sich, in Form der „bestimmten Negation“ (109), gegen die bestehenden Herrschaftsverhältnisse und verbündet sich „mit den bisher unterlegenen Elementen gegen diese Herrschaft“ (105). Ein solches Denken ist ideologiekritisch in dem Sinne, dass sie die herrschenden Gedanken, in Anknüpfung an Marx, zugleich als ideellen Ausdruck der materiellen Verhältnisse begreift. „An der Frage der Herrschaft entscheidet sich, was zu verwerfen ist, und was nicht“ (106).

Ein solches Denken, so mag man einwendet, ist nicht ‚frei’, sondern in der Gegenwart verankert; aber es zielt in den Kämpfen der Gegenwart „in Richtung Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts“ (107). Damit aber denken, so Saar, beide Optionen, sowohl jenes „unzeitgemäße“ als auch das herrschaftskritische Denken, die Probleme der Gegenwart von einer Zukunft her, die nicht nur die Verlängerung des Gegenwärtigen ist.

Im nächsten Schritt hält Saar nun freilich fest, dass „die Gegenwart“ eine falsche Abstraktion sei, dass es vielmehr „viele Gegenwarten“ gebe. Auch die Philosophie habe, „ganz in Übereinstimmung mit neueren Zeit- und Geschichtstheorien“ (112), die Gegenwart im Plural zu denken, als eine „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, wie sie schon Ernst Bloch gefasst hatte. Dem entsprechend ist aber auch das gesellschaftliche Machtgefüge vielfältig. Das heißt, dass die These vom Denken im „totalen Verblendungszusammenhang“ bestenfalls eine gezielte Übertreibung ist. Denn das tatsächliche Denken vollziehe sich nicht schlicht in eingefahrenen Gleisen, sondern in mehr oder weniger kleinen Abweichungen, in denen Unbefragtes hinterfragt wird oder subversive Gegenargumente formuliert werden. Zwar bestehe der Konformismusverdacht zu Recht; aber ebenso sehr auch das Vertrauen in die Kraft eines Denkens, das in den Abweichungen „Erweiterungen und Auswege sichtbar macht“ (113).

Ein solches Denken entspricht einem „Denken ohne Geländer“ (114), das aber nicht haltlos ist, sondern das das Bewusstsein von der Nichtabschließbarkeit und der Nichtnotwendigkeit hat, für das also die Idee der Kontingenz bestimmend ist. Die Gegenwart philosophisch zu denken, bedeute daher auch immer, die Offenheit der Zukunft zuzulassen.

Dem entsprechend könne aber auch die Herrschaft nicht als ein monolithischer Block aufgefasst, sondern müsse in ihrer Vielfalt gedacht und bestimmt werden. Welche Mächte dominieren und die Handlungsfähigkeiten ungleich und ungerecht verteilen, ergebe sich daher nur aus der Analyse der gegenwärtigen Machtverhältnisse. Denn eine Philosophie, die sich weder der Vergangenheit ausliefert noch die Gegenwart nur als „Durchgangsstation zu einer vorbestimmten Zukunft“ (116) versteht, habe die Aufgabe zu bestimmen, welche Mächte sich jeweils ballen und Zukünftiges verhindern.

Philosophie in ihrer Zeit, so Saars Fazit, ist der Raum, in dem die eigene Tradition durchaus ihren Platz hat, die im Denken aber der Komplizenschaft mit den herrschenden Mächten widersteht. „Sie träumt von Befreiungen und Loslösungen, aber ohne Illusion“ (117). Ihr Widerstand ist eine Unruhe im Denken, das, wie die Zeit auch, nicht stillsteht.

Woher aber nimmt eine solche kritische Philosophie die Normen ihrer Gesellschaftskritik? Von innen oder von außen? Der Ausgangspunkt von Saars Überlegungen zu solchen Normen im folgenden Kapitel ist zunächst die Differenz zwischen ihrer Genesis und ihrer Geltung. Gewönne man sie deskriptiv durch Beschreibung der gesellschaftlich geltenden Normen und ihrer Herkunft, so wäre ein solches Verfahren zwar immanent; aber man verfehlte so den normativen Gehalt, der ihnen zukommt. Versteht man das Normative hingegen als etwas, das ganz unabhängig von ihrer faktischen Geltung gilt, so wendet man auf die Gesellschaft gleichsam von außen wie ein unparteiischer Schiedsrichter normative Maßstäbe an. Da nun aber die Sozialphilosophie, wie gesehen, ausdrücklich kein soziales „Außen“ kennt, sie die soziale Ordnung aber dennoch der normativen Kritik unterzieht, stellt sich für sie notgedrungen die Frage nach Formen einer „immanenten Kritik“ (124).

Der Ausgangspunkt von Saars Überlegungen zu einer „immanenten Normativität“ ist zunächst die Feststellung, dass in modernen Gesellschaften der Rekurs auf außermenschliche Instanzen wie Gott oder die Natur keine allgemeine Verbindlichkeit mehr herstellen. „Eine Moral (oder Geltungsstruktur im Allgemeinen), die für Menschen gelten soll, sollte auch auf menschengemäße Autorisierungsquellen verweisen … der Grund der Autorität muss den Charakter eines intern Verbindlichen annehmen, sonst droht normative Heteronomie“ (122).

Die erste und wohl auch klassisch zu nennende Konzeption immanenter Normativität besteht in der Annahme, dass in der Gesellschaft je schon verbindliche Werte und Normen verankert sind als notwendige Bedingungen ihrer Reproduktion. Hier setzt eine immanente Kritik da an, „wo eine Lücke bleibt zwischen Norm und Realität“ (124). Die Kritik hält den gesellschaftlichen Realitäten gewissermaßen den eigenen Spiegel vor Augen.

Problematisch allerdings wird es, wenn man, wie etwa Foucault, annimmt, dass diese die Gesellschaft tragenden und verbindenden Werte und Normen ihrerseits machtvermittelt sind, so dass sie „zum Kriterium für die Unterteilung der Individuen“ (127) werden. Ein solches Normensystem konstituiert das Bild vom „guten Subjekt“, das auf vielfältige Weise den Ansprüchen auf Rationalität, Gesundheit, Leistungsbereitschaft etc. unterliegt. Erst die Einhaltung solcher sozialer Normen erlaubt es den Subjekten zwar zu leben; sie zwingt zugleich jedoch, so zu leben. Die Normen schaffen, paradox, subjektive Handlungsfähigkeit durch Unterwerfung. Hier erweist sich die zunächst moralisch konnotierte Normativität als soziologisch beschreib- und analysierbare „Normalität“.

Saar führt schließlich ein drittes und, wie mir scheint, das interessanteste Konzept einer „immanenten Normativität“ an, das die Immanenz der Normativität konsequent zu Ende denkt. Denn während man in der ersten Konzeption zur Normenbegründung gezwungen ist, kontrafaktisch an eine Apriori-Instanz der Vernunft zu appellieren, und in der zweiten Konzeption die Normengeltung letztlich auf Zwang und Heteronomie gründet, wird die Normengeltung in diesem Modell strikt immanent aus der Handlungsmacht der Subjekte selbst hergeleitet. Eine Norm ist in diesem Sinne die sowohl situationsabhängige als auch lebensdienliche Ausrichtung von Verhaltensweisen, die „sich allerdings immer wieder bewähren und als korrekturfähig erweisen muss“ (133). Normen haben hier nicht den Charakter von Verpflichtungen, sondern sind Regeln zur Realisierung der eigenen Natur, zur ‚Entfaltung der Persönlichkeit’. Hier konvergieren das Gute und Angemessene mit dem Nützlichen, weil „der Grund der Normgebung im Vollzug der menschlichen Existenz selbst liegt“ (137).

Diese auf den ersten Blick „biologistisch“ anmutende Normenbegründung erweist sich jedoch sozialphilosophisch dann als äußerst attraktiv, wenn man von der, schon von Spinoza formulierten, These ausgeht, dass „nichts dem Menschen nützlicher (ist) als ein (anderer) Mensch“ (138). Denn so wird erstens das sozial Normative weder als moralisch Allgemeines noch als eine fremde bestimmende Macht den einzelnen Handlungssubjekten entgegengesetzt, sondern wird aus der Existenzweise des Menschen selbst hergeleitet. Und zum zweiten wird hier die Existenzweise des Menschen nicht individualistisch gedacht, sodass er der Normen als Ge- oder Verbote bedarf, sondern sie wird von Haus aus als sozial, als „strikt relational oder transindividuell“ (158) gedacht. Das philosophische Unterfangen, solche Normen aufzufinden und zu konstruieren, in denen das individuell Nützliche mit dem allgemein Guten zusammenfällt, wäre, so schließt Saar, die „Erforschung der Bedingungen dessen, heute menschlich zu sein“ (139).

Nach Saars Ausblick auf ein solches sozialphilosophisches Unterfangen habe ich allerdings mit dem letzten Kapitel seines Buches große Schwierigkeiten. In ihm wird nicht der sozialphilosophische Diskurs expliziert, sondern auf die Kritik eingegangen, die am „Anthropo-“ oder „Soziozentrismus“ einer solchen Philosophie des Sozialen geübt wird. Denn angesichts der ökologischen Gegenwarts- wie Zukunftsprobleme sei, wie Saar einräumt, ein „Neuansatz, der den Blick vom Menschen weg in die ihn umgebende Welt richtet, wo es noch vieles andere Seiende gibt, unmittelbar einleuchtend“ (141). Die Aufmerksamkeit darauf könne eine „sinnvolle Ergänzung, vielleicht sogar Ersetzung (!?) des fast exklusiven Fokus auf die menschliche Gesellschaft sein“ (141). Doch wenn es ein, vielleicht der Kerngedanke der bislang dargelegten Sozialphilosophie ist, dass alles Denken und Reden „gesellschaftlich vermittelt“ ist, und sie daher kein „Außen“ kennt, wie soll dann über das geredet werden, das außerhalb des Gesellschaftlichen, als Nicht-Gesellschaftliches existiert? Saar beschreibt diese Problemlage als: „Kritische Theorie nach der ontologischen Wende“.

Zunächst stellt Saar fest, dass sich die Kritische Theorie mit der ontologischen Rede vom „Sein“ und von der „Existenz“ der Dinge nicht nur recht schwer getan hat, sondern dass sie sich in großem Maße auch in der Gegnerschaft zu ihr konstituiert hat. Er geht ausführlich auf Adornos Kritik an Heideggers Ontologie und dessen vermeintlich unmittelbarem Zugang zum Sein der Dinge ein. Er erwähnt jedoch nicht die vorausgegangene Frontstellung der Kritischen Theorie zum so genannten „dialektischen Materialismus“, die sich an der Frage nach einer „Dialektik der Natur“ festgemacht, und der Georg Lukacs in „Geschichte und Klassenbewusstsein“ widersprochen hatte. Die Ablehnung eines solch ontologischen Redens über Natur und Materie sollte ja verbindlich für den „westlichen Marxismus“ in Absetzung zum „östlichen“ werden.

Was Saar nun unter den Stichworten „Ontologie“ und „Materialismus“ versammelt, scheint mir höchst disparat zu sein, was wohl auch aus dem vielfältigen Gebrauch dieser Wörter in der gegenwärtigen Diskussion herrührt. Jedenfalls ist es sein Anliegen, die Kritische Theorie bzw. die dargelegte kritische Sozialphilosophie in diesen Kontroversen stark zu machen.

Er unternimmt es zu zeigen, dass die Kritische Theorie schon immer auch eine Ontologie des Sozialen war, die die gesellschaftlichen Phänomene nicht nur wahrgenommen, analysiert und kritisiert hat, sondern die Aufmerksamkeit gerade auf die dahinterliegenden und bleibenden, festen und harten Machtstrukturen gelenkt hat, die eben nicht dadurch verschwinden, dass sie der Kritik und dem Widerstand ausgesetzt werden. Was Saar hier unter dem Stichwort einer „Ontologie des Sozialen“ versammelt, erinnert mich an das, was Hegel unter dem Begriff des „objektiven Geistes“ zusammengefasst hatte und in der „Neuen Marx-Lektüre“ dann als „Realabstraktion“ diskutiert wurde. In diesem Sinne kann ich Saar problemlos folgen, wenn er der Kritischen Theorie auch eine Ontologie des Sozialen zuschreibt.

Die eigentliche Herausforderung an die kritische Sozialphilosophie richtet sich allerdings nicht auf die „Seinsstruktur“ des Sozialen, sondern auf das Verhältnis der Gesellschaft zur äußeren Natur oder, in allgemeinerer Weise, des Geistigen zum Materiellen. Angesichts dieser klassischen philosophischen Frage regiert bei Saar, soweit ich sehe, das bloße „Auch“: Dass Gesellschaften funktionieren, hängt auch davon ab, „welche materiellen Eigenschaften ihre Elemente haben“ (152); „Reflexionen des Sozialen sind darin ontologisch, dass sie die Realität oder Wirklichkeit des Sozialen betreffen als eine Sphäre, die sich immer auch auf Materialität und Verkörperung beziehen lassen muss“ (153). Adornos bekannte Formel vom „Vorrang des Objekts“ deutet Saar dahingehend aus, „bei allem Interesse an Subjekten nicht davon abzusehen, dass es sie nur in einer Welt gibt, die auch von (sehr viel) Objekthaftigkeit und Materialität konstituiert und geprägt ist“ (154 f.). Während für Hegel allerdings das bloße „Auch“ der Tod der Philosophie war, erhebt Saar dieses plurale Auch umgekehrt zu einer „postfundamentalistischen“ Tugend, weil man über das Verhältnis von Geistigem und Materiellen gar nichts genaueres wissen kann oder will. Er beruhigt sich schließlich bei der neo-spinozistischen (und letztlich pantheistischen) Theorie, wonach Geist und Materie eben „zwei irreduzible und heterogene Seiten oder Ansichten desselben, derselben Wirklichkeit oder Immanenzebene“ (155 f.) sind. Ob freilich dieses beziehungslose Auch hinreicht, um der Herausforderung der ökologischen Probleme philosophisch gerecht zu werden, erscheint mir mehr als fraglich.

Saar erwähnt denn auch nirgends, dass in Marx’ Theorie, die ihm doch als „das Urbild einer Kritischen Theorie“ (160) gilt, der Begriff der Arbeit, den Marx in Auseinandersetzung sowohl mit Hegels ‚Geistphilosophie’ als auch mit Feuerbachs Materialismus gewonnen hatte, von zentraler Bedeutung war. In ihm stehen das zweckhaft Geistige und das materiell Natürliche nicht unverbunden nebeneinander, sondern bilden eine innere Einheit und Verbindung. Seel belässt es denn auch beim bloßen Hinweis auf eine „solche dialektische Perspektive auf die Beziehung zwischen Natur und Geist oder Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte“ (162). Bei dieser Dialektik der Beziehung sei freilich zu bedenken, fügt er hinzu, „dass das Naturverhältnis immer auch Herrschaftsverhältnis bleibt“, dass allerdings das Bedenken der vom Menschen geschlagenen Wunden in der Natur zu keinem verklärenden Traum von natürlicher Ganzheit führen sollte“ (164).

In einer so gefassten, letztlich doch anthropozentrisch als Täter-Opfer-Verhältnis gedachten Beziehung von Mensch und Natur hat freilich der sich aufdrängende ketzerische Gedanke keinen Platz, dass die Natur oder, näher, der Planet Erde keineswegs unter „den vom Menschen geschlagenen Wunden“ leidet, sondern dass es ihm völlig egal ist, ob die Menschen die Vielfalt der Arten vernichten oder sie die Erdtemperatur erhöhen. Die Erde wird, ganz stoisch, weiterhin ihre Bahn um die Sonne zieht. Ließe man diesen Gedanken zu, müsste man jedoch in der Tat ontologisch, wie Adorno, vom „Vorrang des Objekts“ sprechen, was Saar jedoch, wie gesehen, abweist.

Fasse ich abschließend die Besprechung von Martins Saars Buch „Was ist Sozialphilosophie?“ zusammen, so gibt es meines Erachtens einen ausgezeichneten Über- und Einblick in die gegenwärtigen und weit vernetzten Diskurse der Macht- und der Herrschaftskritik; was freilich fehlt, ist, wie denn der von der Kritischen Theorie so angestrebte Freiheitsraum unter den Bedingungen der planetaren Grenzen – über das bloße Auch hinaus – zu denken wäre.

Chaouat – Ist Theorie gut für die Juden?

Bruno Chauoat

Ist Theorie gut für die Juden?

br., 439 Seiten, 30,00 €, Edition Tiamat, Berlin 2024

von Olaf Sanders

Bruno Chauoat legt ein wichtiges Buch vor, das von der Beobachtung ausgeht, dass gerade die Behauptung der Einzigartigkeit des Holocausts, die „die Besonderheit jüdischen Leids hervorheben sollte, … die Entjudaisierung des Holocausts in einem Maß befördert“ habe, so dass „nun jede Opfergruppe ihr Leid als einzigartig anerkannt wissen will. Der Anspruch auf Singularität des Holocausts birgt zugleich die Gefahr, diesen zu universalisieren und seiner historischen und moralischen Bedeutung zu berauben“ (40 f.). Der Holocaust relativiert sich in dieser Bewegung zu einem Holocaust unter anderen.

Das „französische Holocaust-Trauerspiel“, dem Chaouat vor allem seine Aufmerksamkeit widmet, sei in philosophischer Hinsicht durch ein Verständnis des Juden befördert worden, zu dem Denker wie Maurice Blanchot, Jacques Derrida und Jean-François Lyotard wesentlich beigetragen hätten, ohne dies freilich zu wollen. Es sei zudem „keine postmoderne Erfindung“ (42). Dennoch habe die spezifisch postmoderne Dialektik dieser Denker, so lässt sich mit Chaouat weiter folgern, den neuen Antisemitismus mit hervorgebracht, den er auch in den Arbeiten von Giorgio Agamben, Alain Badiou oder Judith Butler am Werke sieht. Der „neue Antisemitismus“, so Chauoat, „bediene sich selbst der Rhetorik des Antirassismus“ (44), wodurch dann die „mit Israel verbundenen Juden“ als „neue Rassisten und Neokolonialisten“ erscheinen. Als ‚gute Juden‘ gelten nur Juden in der Diaspora.

Für Chaouat – die englischsprachige Originalausgabe erschien bereits 2016 – markieren die Morde in Toulouse und Montauban an vier Fallschirmjägern, einem Rabbiner, zwei seiner Kinder sowie einem weiteren Kind im März 2012 einen Wendepunkt. Der 7. Oktober 2023 markiert fraglos einen weiteren. In Anspielung an ein Gedicht der avantgardistischen (jüdischen) Autorin Gertrude Stein schreibt er: „Ein Antisemit ist ein Antisemit ist ein Antisemit“ (63).

Ist Theorie gut für die Juden? gliedert sich in vier umfangreiche Kapitel, die von einem Vorwort zur deutschen Ausgabe, einem Prolog und einer Einleitung sowie einem Postskriptum mit Epilog eingerahmt werden. Sein Vorwort aus dem Jahr 2024 beendet Chaouat mit der Feststellung, dass das Ende der Theorie schlecht für Juden sei. Den Prolog überschreibt er mit Abschied von der Theorie, worin er sich als einstiger Doktorand Lyotards zu erkennen gibt, der mit seinem philosemitischen Buch Heidegger und die Juden „in die Falle einer abstrakten, universalistischen Interpretation des Judentums“ (17) geraten sei. Sie habe Maurice Blanchot mitkonstruiert, weil er jüdisch zu sein als „einen Zustand des Exils, des Nomadentums und des Leids“ (16) charakterisiert habe. Letztlich, so schließt Chaouat, der diese Beschreibung als Karikatur einer glücklichen Epoche kennzeichnet, sei die „jüdische Differenz irgendwie mit der Derrida’schen différance“ (25) zusammengefallen. Die glückliche Epoche der Theorie endet für Chaouat spätestens mit Enzo Traversos Buch Das Ende der jüdischen Moderne (2017, frz. 2013), das „Judenspalterei“ (26) betreibe wie Bulter in Am Scheideweg (2013), Badiou in Paulus (2002) oder Said in Orientalismus (1981/2009). Hier werde der Jude gespalten „in den universalistischen Gegner von Staatlichkeit einerseits und den partikularistischen Zionisten andererseits“ (26 f.). Genau diese oben bereits angedeutete Spaltung befördere Chaouat zufolge den neuen Antisemitismus, sie fungiert als die Leitdifferenz seines Buches.

Im ersten Kapitel widmet er sich „dem postheideggerianischen Denken und dem unerträglichen Vermächtnis Heideggers in Frankreich und anderswo“ (73). Darunter fasst er neben der „Dezentrierung des Subjekts“ auch „die Feier von Nomadismus und Deterritorialisierung“ (74). Chaouat erinnert daran, dass Gilles Deleuze die Palästinenser parteiergreifend in der Tageszeitung Libération „Indianer Palästinas“ genannt habe. Ausgehend von Frankreich blickt Chaouat auch nach Italien. In Agambens Dekonstrution des Begriffs ‚Volk‘ „verwandeln sich die einstigen Opfer des [deutschen] Reichs geradezu schematisch in die Henker der Palästinenser“ (122). Am Beispiel des von Gianni Vattimo und Michael Marder herausgegebenen Sammelbandes Deconstructing Zionism (2014) zeichnet Chaouat nach, wie der Band die Intentionen Derridas verkehrt, und beklagt die Unaufrichtigkeit, die für ihn darin liegt, „die Dekonstruktion in eine Kriegsmaschine gegen Israel zu verwandeln“ (139).

Im zweiten Kapitel untersucht Chaouat die von Georges Bataille, Jean Genet oder Marguerite Duras durch die Verwischung der Grenze von Tätern und Opfern eingeleitete moralische Wende, die in einen Moralismus geführt habe, der das Ergebnis der „Reduktion von Ethik auf Ideologie“ (174) gewesen sei. „Für den Menschen“, so Chaouat, „gibt es kein Jenseits der Menschheit“ (158). SS-Männer wie Klaus Barbie seien keine Über- und die KZ-Häftlinge keine Untermenschen gewesen. Wenn daher Agamben das Konzentrationslager zum Nomos der Moderne erklärt, dann mache er die Ausnahme zur Norm, und das Böse werde als Grenzüberschreitung gefeiert.

Das dritte Kapitel fragt nach den Effekten des colonial turn. Chaouat erinnert daran, dass Emmanuel Levinas schon 1968 davor gewarnt habe, die Situation von Fabrikarbeitern mit dem Holocaust zu vergleichen. Er zeichnet in diesem Kapitel nach, wie sich die Kämpfe gegen den Antisemitismus und gegen den Antirassismus immer weiter auseinanderentwickelt haben, beschleunigt durch den Algerienkrieg, aber auch die Anschläge vom 11. September 2001.

Im vierten Kapitel setzt Chaouat, ausgehend von einer Passage aus Philip Roths Buch Operation Shylock. Ein Bekenntnis, zur Kritik an den Arbeiten von Enzo Traverso, Judith Butler und anderen an. Dabei will er zeigen, dass das Ideal des marginalen, kritischen, subversiven und revolutionären Juden nichts anderes sei als eine narzistische Projektion. Schließlich verteidigt Chaouat Levinas gegen Butlers Fehllektüre.

Auch wenn das Buch sich vor allem auf die uns weniger geläufige Debatte in Frankreich bezieht, so gibt das Buch in vielerlei Hinsichten zu denken. Es wirft ein neues und sehr differenziertes Licht auf die so genannte french theory, die es, ihre Nebenwirkungen ausleuchtend, neu rahmt.

Stapelfeldt – Warum Krieg?

Gerhard Stapelfeldt

Warum Krieg? Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine und das Ende der Globalisierung

geb., 792 Seiten, 149,80 €, Verlag Dr. Kovač, Hamburg 2024

von Paul Stegemann

Die Einschätzungen und Beurteilungen des im Februar 2022 begonnenen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine gehen in der politischen Linken weit auseinander. So werden alte Interpretationsmuster aufgewärmt, die in einem antiimperialistischen Reflex USA und NATO als Schuldige ausmachen. Die Linke war schon immer gut darin, die fortgeschrittenste kapitalistische Macht und deren Hegemonie zum Feindbild zu erklären und sich unreflektiert auf die Gegenseite zu beziehen, mag diese noch so reaktionär sein. Aber auch die gegensätzliche Position, die Russland als autoritären Staat brandmarkt und den Westen als Hort der Freiheit und wertebasierte Demokratie darstellt, geht schnellen Schrittes über grundsätzliche Probleme hinweg. Beide Sichtweisen offenbaren eine mangelhafte Gesellschaftskritik, weil sie sich entweder historisch unreflektiert bei veralteten Interpretationsmustern bedienen oder auf einer ideologischen Ebene argumentieren und machtpolitische Positionen reproduzieren.

Der aktuelle Krieg Russlands gegen die Ukraine wäre vielmehr aus einer Selbstzerstörung der Globalisierung zu verstehen, so legt es Gerhard Stapelfeldt in seiner neuen Publikation dar. Die Explikation seiner Theorie der Dialektik der ökonomischen Rationalisierung (2014) ermöglicht es, die Entwicklungen hin zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht auf einer vordergründigen Ebene zu erklären. Ziel ist vielmehr eine genetische Aufklärung, die nicht individualisierend, psychologisierend oder marktpropagandistisch verfährt, sondern die globale Krise des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gesellschaftsgeschichtlich aufklären will. Dabei stehen insbesondere die Übergänge vom Staatsinterventionismus zum Neoliberalismus und innerhalb des letzteren die sich durchsetzende Globalisierung im Zentrum. Die dem zugrundeliegende Theorie Stapelfeldts kann kurz so zusammengefasst werden, dass die kapitalistische Produktionsweise in ihrem historischen Verlauf verschiedene Formen angenommen hat. Auf den Liberalismus, die bürgerliche Ökonomie in der Epoche der Aufklärung und des Insdustriekapitalismus (1765-1870/80) folgte der Imperialismus als Form, die die bürgerliche Ökonomie in der Epoche von Krise und Krieg annahm (1873-1918/29). Diese wiederum wurde durch den systemrationalen Staatsinterventionismus abgelöst (1929/33-1973/81), um schließlich nach 1973/81 in den Neoliberalismus überzugehen. Dieser historische Verlauf resultiert aus der krisenhaften Verfasstheit der kapitalistischen Gesellschaftsform. Die gegenwärtige Form des Kapitalismus ist seit der Weltwirtschaftskrise von 1973/75 die des neoliberalen Kapitalismus. Dieser ist nicht nur durch eine Politik der Liberalisierung und Privatisierung gekennzeichnet, sondern hat vor allem nach 1990 zu Prozessen geführt, die als „Globalisierung“ bezeichnet wurden. In dieser Zeit wurde der Systemgegensatz zwischen den geopolitischen Machtblöcken um die USA und die UdSSR durch den Zusammenbruch des „Ostblocks“ überwunden. Damit hat sich nicht nur der Aufstieg der USA zur weltweiten Führungsmacht fortgesetzt, sondern der Neoliberalismus konnte sich ab 1990 auch zur Weltwirtschaftsordnung verallgemeinern. In die Staaten des ehemaligen „Ostblock“ kam es zu schweren und tiefgreifenden Transformationsprozessen – zu krisenhaften Prozessen der Umstrukturierung dieser Staaten und deren Gesellschaften. Deren Eingliederung in die neoliberale kapitalistische Weltökonomie wird im allgemeinen Bewusstsein verkürzt als Globalisierung aufgefasst – und als Vorgang der ökonomischen und politischen Befreiung gefeiert. Es sollte ein globales Zeitalter des Friedens und der wirtschaftlichen Entwicklung anbrechen. Die Menschheit sollte – dem ideologischen Anspruch folgend – in einer Welt zusammengeführt werden. 1990/91 sprach der US-Präsident George Busch von einer „pax universalis“ und einer „New World Order“. Mit diesen Begriffen wurde in diesen Jahren ein System der globalen und kollektiven Sicherheit beschrieben, während die inneren Widersprüche des Neoliberalismus in solchen ideologischen Vorstellungen ausgeblendet wurden. Sie haben sich aber weiterentwickelt: „Die neoliberale Welt-Integration erwies sich als Einheit durch Desintegration. Kriege und Massenelend wurden in alten wie in neuen Formen reproduziert. Seit 2008 treten diese Krisen in immer schnellerer Folge auf. Die schöne Welt des Neuen Liberalismus offenbart sich seither als weltgeschichtlicher bellum omnium contra omnes“. Die Jahre zwischen 1989/91 und 2021/22 können als Epoche gelten, in der der Neoliberalismus seine Vollendung als Globalisierung erlangt hat – und damit aufgrund seiner inneren Logik auf seine Selbstzerstörung zutrieb. Mit der Vollendung der Globalisierung sind die äußeren Feinde und Gegenspieler, gegen die weltweite Antiterror-Kriege geführt wurden, weggefallen. Dieser Prozess der widerspruchsvollen Vollendung der Globalisierung kann, weil er weiterhin durch die unaufgeklärte neoliberale Logik der „spontanen Ordnung“ bestimmt ist, nur, so legt es Stapelfeldt dar, einen modifizierten neoliberalen Zustand hervorbringen. Dieser findet seinen Ausdruck in einer neoliberal gespaltenen Welt. Damit haben sich die inneren Widersprüche dieser Gesellschaftsordnung auf eine neue Ebene transponiert: Der Neoliberalismus basiert auf dem Dogma, dass der ökonomische Wettbewerb nur Sieger und Verlierer kennt; er fasst ihn als ein Verhältnis von Freund und Feind. Weil der Weltordnung so das neoliberale Freund-Feind-Verhältnis eingeschrieben ist, kann die Konsequenz eines solch universalisierten Neoliberalismus nur im Übergang in einen feindlichen Gegensatz zwischen neoliberalen Staaten bestehen: „Russland, dessen Eintritt in die Weltordnung des Neoliberalismus die Vollendung der Globalisierung erst begründete, vollzieht somit durch den Krieg gegen die Ukraine und die Androhung eines mit Nuklearwaffen geführten Weltkrieges die Zerstörung der Globalisierung. Die Föderation kündigt, durch den Krieg, ihre Integration in diese Welt der Neuen Freiheit auf und bringt dadurch die New World Order zum Einsturz“. Ist, so Stapelfeldts These, die Welt erst neoliberal vermeintlich geeint, muss ein neuer äußerer Gegensatz aufbrechen – und einen globalen Kriegszustand hervorbringen, in dem innergesellschaftlich die autoritären Tendenzen der neoliberalen Ideologie ihren Ausdruck in der Formierung von Volksgemeinschaften finden. Die Abgrenzung vom Fremden und die Homogenisierung des Eigenen gehen dabei ineinander.

Die Konsequenz der neoliberalen Welteinheit und der vollständigen Globalisierung ist daher der Fortgang zu einer entzweiten Welt, der zur Restitution des um 1990 überwunden geglaubten „klassischen Staatenkriegs“ führt. War die Zeit zwischen 1990 und 2022 durch Staatszerfalls- und Antiterror-Kriege bestimmt, findet mit dem militärischen Angriff Russlands auf die Ukraine ein Umbruch statt. Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine dokumentiert das Ende der „New World Order“ und vollzieht die Selbstzerstörung der Globalisierung. Darin liegt nach Stapelfeldt „die weltgeschichtliche Bedeutung dieses Krieges, durch die er sich unterscheidet von den zahllosen Kriegen, die nach 1945 weltweit geführt wurden“.

So kehrt als Resultat der politisch-ökonomischen Selbstdestruktivität nach Jahren der asymmetrischen Kriege der Staatenkrieg zurück. Die Welt teilt sich in neue disparate Lager und der globale Kriegszustand wird zum Normalfall. Während die Friedensillusionen der Globalisierung zerfallen, werden die Ökonomien und Gesellschaften wieder auf die neue Realität eines Kriegszustandes zwischen Staaten ausgerichtet. Damit aber erzwingt der Krieg die Abkehr von einer Weltwirtschaftsordnung, die allein der ökonomischen Logik des Kapitals folgte, hin zu einer Logik, die die Ökonomie sicherheitspolitischen und militärischen Imperativen unterstellt. So werden die Ökonomien und Gesellschaften militarisiert, und die ökonomischen Abhängigkeiten, die sich mit der Globalisierung und ihrer weltweiten Arbeitsteilung ergaben, werden gekappt. Der im Februar 2022 begonnene Krieg Russlands gegen die Ukraine markiert damit, so Stapelfeldt, einen epochalen Umbruch: Die Vollendung der Globalisierung, die Verallgemeinerung des Neoliberalismus zur Weltordnung, zerstört sich selbst und geht in einem globalen Kriegszustand über.

Der russische Angriffskrieg löst so die Weltwirtschaftsordnung des globalisierten Neoliberalismus auf. Der freie Verkehr von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräften wird nun unter sicherheitspolitische Imperative gestellt. Diese sind teilweise schon durch die Corona-Krise eingeleitet worden, aber nun wird der politisch-ökonomische Autoritarismus des Neoliberalismus, der sich schon seit 1973/75 in unzähligen Umstrukturierungen und Kriseninterventionen deutlich gezeigt hatte, in immer offenere autoritäre Versionen transformiert: Der Konformismus des Neoliberalismus formierte die Gesellschaften zu neoliberalen Volksgemeinschaften: Diese befinden sich nicht länger nur in ökonomischer Konkurrenz; vielmehr geht dieser Konkurrenzkampf zunehmend in einen offenen Krieg aller gegen alle über, in einen Zustand, in dem sich nationale Kollektive wieder im Kriegszustand gegenüberstehen. Dies zeigt sich auch an den autoritären und mitunter wieder faschistischen Tendenzen, die weltweit an politischem Einfluss gewinnen.

Gegen diese Entwicklung ist die Kritik und Reflexion, so hilflos sie auch angesichts der überwältigenden Realität ist, gerichtet. Daher müsse sich die Aufklärung über die gesellschaftsgeschichtlichen Hintergründe dieses neuen Kriegszustands, so Stapelfeldt, mit der Frage „Warum Krieg?“ beschäftigen: „Eine dialektische Theorie der Gesellschaft hat die notwendig utopisch auf die bewußtlosen Verhältnisse der Weltgesellschaft, der kriegsführenden und in den Krieg involvierten nationalen Gesellschaften gerichtete Frage: Warum Krieg? als Frage nach den inneren Verhältnissen der kriegsführenden sowie der in den Krieg involvierten Staaten, die sich in den Kriegen als deren Außenverhältnis spiegeln, aufzuklären. In Kriegen manifestiert sich ein innen- und außengerichtetes Freund-Feind-Verhältnis von Gemeinschaften“. Ziel bleibt die Aufklärung, das „Bewußtwerden der Ursachen von Kriegen als Begründung einer vernünftigen Hoffnung auf ewigen Frieden“. Kritik und Reflexion richten sich gegen die Hoffnungslosigkeit und Zumutungen des neoliberalen Zeitalters. Diese gesellschafts- und ökonomiegeschichtliche Aufklärung stellt eine bedeutende Leistung dar.

Stapelfeldt klärt Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine durch seine Analyse der gesellschaftsgeschichtlichen Epoche auf, die diesen Krieg hervorbringt. Das umfangreiche Buch formuliert eine Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse, die zugleich von der Hoffnung lebt, durch sie die Aussicht auf eine Utopie des Friedens zu ermöglichen. Das Ende der Globalisierung hingegen sieht er als den Beginn einer Epoche, in der autoritäre Staaten sich in einem globalen Kriegszustand gegenüberstehen und wieder offen zwischenstaatliche Kriege geführt werden. Das Buch Warum Krieg? ist so eine umfassende Kritik dieses Epochenwechsels.

Lotter – Realer Humanismus

Konrad Lotter

Realer Humanismus. Eine geschichtliche Betrachtung

Pb., 270 Seiten, 25,- €, Mangroven-Verlag, Kassel 2024

von Reinhard Jellen

Humanistische Gedanken und Überzeugungen stehen gegenwärtig nicht gerade hoch im Kurs. Die Utopie einer Gesellschaft, in der jeder Einzelne „in Gemeinschaft mit Anderen“ die eigenen Anlagen „nach allen Seiten hin ausbilden kann“, so wird eingewandt, habe der Realität nicht standgehalten. Sie sei von der geschichtlichen Entwicklung überholt. Zur Begründung werden dabei vor allem drei Argumente ins Feld geführt. Erstens erfordere die Arbeitsteilung eine zunehmende Spezialisierung und damit eine einseitige Ausbildung der eigenen Fähigkeiten. Wer weiterkommen wolle, brauche keine Bildung, sondern eine solide Ausbildung, die sich an den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts orientiert. Zweitens hätte durch die Konformität des Konsums, der medialen Information oder der Kommunikation eine Nivellierung auch der Menschen stattgefunden. Die Massengesellschaft hätte Massenmenschen hervorgebracht, deren Persönlichkeitsentwicklung außen- und fremdbestimmt sei. Mitunter wird sogar vom „Verschwinden“ des Menschen gesprochen, dessen individuelle Konturen sich auflösten „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“. Drittens habe sich die Technik dem Menschen gegenüber verselbständigt und Macht über ihn gewonnen. Durch die Verschmelzung von Info- und Biotechnologie sowie die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz sei der Mensch zu einem weithin fremdbestimmten und manipulierten Wesen erniedrigt worden. Post- und Transhumanismus haben sich zuletzt die „Überwindung“ des Menschen und die Erzeugung eines „Übermenschen“ zum Ziel gesetzt.

Eine Stärke von Konrad Lotters Buch liegt darin, dass es diese Argumente nicht nur aufgreift und ernstnimmt, sondern auch in ihrer eigenen Dialektik darstellt. Aus den vermeintlichen Grenzen des Humanismus werden auf diese Weise Übergänge zu neuen, erweiterten Formen des Humanismus. Erst die Teilung der Arbeit nämlich offenbart die vielfältigen Potenzen des Menschen und erzeugt die Möglichkeit, sich in verschiedensten Bereichen zu versuchen und ein reiches Leben zu leben. Erst die technischen Fortschritte haben die Entlastung der Menschen ermöglicht, die von der Arbeit freigestellt die Verwirklichung ihrer Anlagen auch „als Selbstzweck“ betreiben können. Und auch die „Masse“ muss nicht nur als Verlust, sondern auch als Vorstufe einer (neuen) Humanität begriffen werden, in der die Menschen solidarisch ihre gemeinsamen Interessen durchsetzen können.

Eine andere Stärke des Buches liegt in seinen klaren Begriffen und Aussagen. Im Fortschritt des klassischen Humanismus zur Zeit der Renaissance und der Goethezeit zum realen Humanismus, den Marx in Auseinandersetzung mit Hegel, den Junghegelianern und Feuerbach entwickelt, so wird gezeigt, vollzieht sich ein mehrfacher Wechsel der Perspektive. Aus der Kritik an der Religion wird die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Nicht mehr an der idealisierten Antike orientiert sich der reale Humanismus, sondern an den geschichtlichen Möglichkeiten, die sich durch den Grad der Naturbeherrschung und den gesellschaftlichen Reichtum eröffnen. Aus der Bildung einzelner Individuen, einer Elite von Humanisten jenseits der „Masse“, entsteht die Forderung nach menschlichen Institutionen, die nicht nur allen Menschen die gleichen Chancen einräumen, sondern auch Frieden mit der Natur geschlossen haben. Was den realen Humanismus zuletzt von den früheren Formen des Humanismus unterscheidet, ist seine praktische Ausrichtung: dem „kategorischen Imperativ“, alle Verhältnisse zu beseitigen, die die Menschen fremdbestimmen und ihre menschliche Würde verletzen.

Etwas abschreckend an Lotters Buch könnten die vielen Bezüge auf philosophische, soziologische, ökonomische und psychologische Werke sein, auf die sich seine Argumentationen stützen. Wer sich von diesem par force-Ritt durch die Geistesgeschichte nicht einschüchtern lässt und sich darauf einlässt, wird das Buch mit Gewinn studieren.