Samuel Moyn

Der Liberalismus gegen sich selbst. Intellektuelle im Kalten Krieg und die Entstehung der Gegenwart

aus dem Englischen von Christine Pries

geb, 304 Seiten, 30,– €

Berlin 2024 (Suhrkamp-Verlag)

von Percy Turtur

Der Historiker Samuel Moyn unternimmt in seinem Buch den Versuch, den Liberalismus zu retten, nicht zuletzt vor sich selbst. Da der Rezensent selber kein Liberaler ist, sondern sich als Linker versteht, gilt sein Interesse weniger der ‚Rettung des Liberalismus‘ als der Frage, was sich aus dessen Scheitern lernen ließe. Gemeinsam ist liberalen und linken intellektuellen Strömungen der offensichtliche Schiffbruch, den beide politischen Denkrichtungen angesichts des unabsehbaren Erstarkens konservativer bis extrem reaktionärer, militanter politischer Positionen derzeit erleiden.

Moyn stellt verschiedene Interpretationen des Liberalismus anhand einiger Autoren wie Judith Shklar, Isaiah Berlin, Karl Popper, Gertrude Himmelfarb und Lionel Trilling vor; sein besonderes Augenmerk gilt dabei einer Richtung, die er den „Kalter-Krieg-Liberalismus“ nennt. Er betrachtet diesen als eine Art radikaler Aufhebung des ‚klassischen‘ Liberalismus, wobei nicht ganz klar wird, ob er diese Aufhebung im hegelschen Sinne dialektisch versteht – in jedem Fall aber denkt er an eine Art von Negation des Liberalismus in sich selbst.

Die Texte aus den fünfziger Jahren von Judith Shklar, in denen sie den Kalten-Krieg-Liberalismus (noch) kritisiert, vor allen im ersten Buch „After Utopia“, stellen für Moyn eine Art Leitbild der Erörterungen in diesem Buch dar. Die Verbindung mit der Aufklärung, die Ende des achtzehnten Jahrhunderts beginnt, wird, so seine These, im Liberalismus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in der Konfrontation der beiden Weltmächte unterbrochen. Obwohl Kalter-Krieg-Liberalismus und Neoliberalismus sich in einigen Punkten deutlich unterscheiden, sind sie sich doch in der Ablehnung aufklärerischer Rationalität weitgehend einig, die im Ursprung doch grundlegender Bestandteil des früheren Liberalismus war. Am Beispiel des intellektuellen Verhältnisses von Isaiah Berlin und Shklar macht Moyn deutlich, wie verschiedene Auffassungen von Liberalismus zusammenfinden und wieder auseinanderdriften, und wie die einzelnen Autoren selbst ihre Positionen im Lauf der Zeit modifizieren oder sogar weitgehend verändern.

Der Vorwurf, den Moyn Karl Popper macht, ist der, dass er durch seinen Anti-Hegelianismus und seine Ablehnung von Marx wichtige Bestandteile des Liberalismus des neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts eliminiert hat, was an der speziellen Ausprägung des Kalter-Krieg-Liberalismus entscheidenden Anteil hat. Mit seiner Kritik an der von ihm „Historizismus“ genannten Geisteshaltung, die im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert auf sozialen Fortschritt setzte, dekonstruierte Popper auch die Hoffnung vieler Liberaler auf eine bessere Zukunft, die, wenn nicht notwendig, so doch immerhin möglich und anzustreben wäre. Da der Liberalismus es nicht zu einem eigenen Geschichtsverständnis, abgekoppelt von jenem Historizismus, gebracht hatte, blieb ihm nur ein eklektizistisches politisches Bewusstsein. Ein solches Verständnis ist für Moyn jedoch unverzichtbar: „Wenn Geschichte keinen Fortschritt macht, ist sie sinnlos“ (113). Dies freilich gilt für jede politische Richtung, auch für alle Spielarten des Konservatismus (Anm. d. Rezensenten).

Dementsprechend gilt es nach Moyn daran festzuhalten, dass zwar der Kalter-Krieg-Liberalismus eine „Aufkündigung der Zukunft“ (121) verlangte, dass aber kein Liberalismus längerfristig gedeihen könne, der „nicht emanzipatorisch und der Zukunft zugewandt“ (124) ist. Mit Francis Fukuyama habe der Kalter-Krieg-Liberalismus sich ab 1989 jedoch folgenreich in den Neoliberalismus transformiert und sich damit endgültig gegen seine bisherigen philosophischen Grundlagen gewandt.

Etwas überraschend bezieht Moyn Hannah Arendt in seine Überlegungen zum Widerspruch des Liberalismus mit ein, obwohl diese sich doch nie als Liberale verstand. In gewisser Weise, so Moyn, habe Arendt, als ausgewiesene Konservative, sich an der Transformierung des freiheitlichen Liberalismus in den Kalter-Krieg-Liberalismus beteiligt, wenn auch mit anderen Motiven. Sie habe geholfen, den ‚Anti-Kanon‘ eines Liberalismus zusammenzustellen, der sich von jeglicher Form der Aufklärung bis hin zu Hegel und Marx verabschiedet hat. Eine weitere, nach Moyn unangenehme Folge des Kalter-Krieg-Liberalismus war die Aufkündigung des Projekts der Globalisierung mit der Folge, die ‚Freiheit‘ des ‚Westens‘ gegen den Rest der Welt verteidigen zu müssen, bis dann die neoliberale Ökonomie den postkolonial entstandenen Staaten ihr „stahlhartes Gehäuse“ (167) aufzwang. Als Vordenkerin der Totalitarismus-Theorie sei Arendt dem Kalter-Krieg-Liberalismus erstaunlich nah gewesen.

Schließlich habe dann auch noch Lionel Trilling die Psychoanalyse mit Sigmunds Freuds „Das Unbehagen an der Kultur“ für den Kalten-Krieg-Liberalismus eingespannt, um den seiner Ansicht nach schädlichen Kollektivismus zugunsten eines (elitären) Individualismus zu verdammen. Selbst die Kulturkritik Theodor W. Adornos in dessen „Negativer Dialektik“ muss dafür herhalten, obwohl Adorno das völlige Gegenteil eines Liberalen war. Der Kalter-Krieg-Liberalismus und nach ihm der Neoliberalismus, so Moyn, haben alles für sich vereinnahmt, was gegen eine soziale Weiterentwicklung der Menschheit sprechen könnte und was für eine unumschränkte Herrschaft der Reichen und Mächtigen spricht, selbst wenn diese Theorien mit dem Liberalismus nicht kompatibel oder sogar gegen ihn gerichtet sind.

Es wäre schön gewesen, hätte Moyn die verschiedenen Strömungen des Liberalismus, die er in Anschlag bringt, inhaltlich und systematisch klarer konturiert. Es hätte das Verständnis der verschiedenen Spielarten des Liberalismus vom 20. Jahrhundert bis heute deutlich erleichtert. Gerade für eine Art von ‚Geschichte des Liberalismus‘ wäre das interessant und hilfreich gewesen.

Formal lässt sich schließlich sagen, dass die Positionierung der Fußnoten ans Ende des Buches im Zeitalter des Computersatzes reichlich anachronistisch wirkt und das ständige Blättern nach hinten zu den Fußnoten und wieder nach vorn zum Text beim intensiven Lesen lästig fällt. Andererseits zerreißen Fußnoten, die des öfteren eine halbe Seite beanspruchen, den fortlaufenden Text. Sie gehören zwar in eine wissenschaftliche Arbeit, stören aber den Lesefluss.

Wie so oft lautet die Antwort auf die Frage, was aus der Geschichte sich lernen ließe, dass sich eben nichts lernen lässt. Auch wenn Samuel Moyn der Überzeugung Ausdruck gibt, den ‚klassischen‘ Liberalismus nicht einfach wiederbeleben zu können, da dessen bisherige Spielarten obsolet geworden seien. So stellt sich für ihn dennoch die Frage, was das „ganz Andere“ des Liberalismus sein könnte, das ihn aufhebt, auch und gerade im Sinne des ‚Bewahrens‘ eines ‚klassischen‘ Liberalismus. Eine Frage, die sich, wie mir scheint, auch die Linke, wenn auch mit anderen (besseren?) Inhalten und Zielen, gleichfalls stellen muss.

Muss man dieses Buch (als Linke:r) gelesen haben? Nein. Kann man es mit Gewinn lesen, wenn man sich für den Liberalismus des 20. und 21. Jahrhundert interessiert, gerade jetzt in einer Zeit, in der Anti-Intellektualismus und Anti-Liberalismus in den USA, aber auch anderswo, fröhliche Urständ‘ feiern? Ja.

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