Osrečki – Laien. Eine Soziologie des Nichtwissens

Fran Osrečki

Laien. Eine Soziologie des Nichtwissens

br., 336 Seiten, 24,- €

Berlin 2025 (Suhrkamp-Verlag)

von Alexander von Pechmann

Die Moderne, beginnt Osrečki seine Untersuchung, gründe auf dem Versprechen der Gleichheit aller Menschen und lebe seither in den Kämpfen um diese Gleichheit. In ihr sind das ideelle Element der Inklusion aller ins gesellschaftliche System, zugleich aber auch das permanent reale Element der Ungleichheit und Exklusion miteinander verbunden. Dieses Gegensätzliche, teils Widersprüchliche ist schon oft anhand der „bürgerlichen Gesellschaft“ verhandelt worden: als citoyen gelten die Bürger als Gleiche unter Gleichen und haben gleiche Rechte; als bourgeois hingegen sind sie ungleich und grenzen einander ab: der Bürger vom Proletarier, der Besitzlose vom Besitzlosen etc. Osrečki verhandelt dieses Gegensätzliche in der Moderne jedoch nicht anhand der sozialen Gruppen oder Klassen, sondern anhand der Kategorien des Laien und des Experten, des Nichtwissenden und Unkundigen bzw. des Wissenden und Kundigen.

Entscheidend bei dieser Unterteilung sei, dass – im Unterschied zu sozialen Gruppen – in der modernen, auf Arbeitsteilung beruhenden Gesellschaft jede/r sowohl als Laie als auch als Experte gilt. So erweist sich etwa der qualifizierte Jurist als unkundiger Laie auf dem Gebiet der Sanitärinstallation oder der kenntnisreiche Postzusteller bei der Autoreparatur als kenntnisarmer Laie. In modernen Gesellschaften, so Osrečki, sind Menschen „sehr oft Laien und sehr selten Spezialisten“ (16). Laien bilden also keine bestimmte und abgrenzbare Gruppe, sondern entziehen sich gerade dieser Begrenz- und Bestimmbarkeit. Sie seien daher „überall und nirgends“ (16).

Spannend wird dieses Verhältnis von Laien und Experten dann, wenn die Laien – nach dem modernen Grundsatz der Gleichheit – meinen, in Expertensachen mitreden zu dürfen und zu können, oder umgekehrt – nach demselben Grundsatz – Experten meinen, dem unkundigen Laien ihr Expertenwissen mitteilen zu müssen und zu können. Denn dann verwischen sich die Grenzen; und die Grenzüberschreitungen liefen in der Konsequenz auf die Aufhebung eines Verhältnisses hinaus, das doch ein Element moderner arbeitsteiliger und funktional ausdifferenzierter Gesellschaften ist. Man sieht, dass ‚der Laie’ offenbar ein spannender soziologischer Gegenstand ist, um die Dynamik der modernen „bürgerlichen Gesellschaft“ verstehen und begrifflich fassen zu können.

Wo also findet man den Laien? Osrečki sagt mit Niklas Luhmann: in sozialen Systemen. Im politischen System fungiert der Laie als Wähler, der – zumindest im Parlamentarismus – dem Abgeordneten ausdrücklich seine Stimme überträgt; im ökonomischen fungiert er als Konsument, der die Produkte der Experten erwirbt und ohne Detailwissen gebraucht; im pädagogischen System ist er Schüler, der vom Lehrer Wissen erwirbt, im Gesundheitswesen nimmt er die Rolle des unkundigen Patienten ein, der sich dem kundigen Arzt anvertraut; im Kultur- und Sportbetrieb fungiert er als Zuschauer oder -hörer, der die Handlungen professioneller Akteure verfolgt. Allein im familiären System sowie unter Freunden, so Osrečki, funktioniert diese Begrifflichkeit nicht; denn weder die Liebe noch die Freundschaft lassen sich nach dem „Laie-Experte“-Schema verstehen.

Im Weiteren unterscheidet Osrečki zwischen dem „schwachen“ und dem „starken“ Laien. Laien sind oder gelten als schwach, wenn sie sich nicht artikulieren und als „wenig durchsetzungsstark“ (54) erscheinen. Als „schwach“ seien die Laien von den Sozialwissenschaften daher lange Zeit als marginal, unspezifisch und uninteressant beurteilt worden, oder sie wurden, vor allem in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, ihrer Artikulationslosigkeit wegen als dumpfe, unter Umständen auch als zivilisationsbedrohende Masse etikettiert.

In der Mitte des letzten Jahrhunderts seien dann von Talcott Parsons die Grundlagen für das gelegt worden, was Osrečki die „starken Laien“ nennt. Parsons ging davon aus, dass es ohne Laien gar keine Experten geben könne, und dass zwischen ihnen eine spezifische Art der Kooperation bestehe, die er allerdings nicht näher analysiert hatte. An diesen Gedanken der Kooperation knüpften im Weiteren dann die Soziologen Thomas H. Marshall, Theodor Geiger und Norbert Elias an. Sie nahmen an, dass es zwar weiterhin Machtunterschiede zwischen Laien und Experten gebe, dass sich jedoch – im Zuge der „Demokratisierung“ – diese Ungleichheiten zunehmend einebnen würden. Schließlich habe Luhmann mit seiner Systemtheorie die Vorlage gegeben, um die spezifische und auch notwendige Rolle der Laien oder des „Publikums“ innerhalb sozialer Systeme studieren zu können. Darauf aufbauend habe dann Rudolf Stichweh den starken oder aktiven Laien ins Zentrum gerückt und auf die wichtige Rolle hingewiesen, die Laien in modernen Gesellschaften für die sozialen Inklusionsprozesse spielen.

Verstehe ich Osrečkis Überblick über die „schwachen“ und „starken“ Laien recht, so ist er offenbar der Auffassung, dass die Sozialwissenschaften lange Zeit, von Karl Marx über Émile Durkheim bis Max Weber, mit dem abstrakten und vagen Begriff des „Laien“ nichts anzufangen wussten. Gegenstände waren für sie bestimmbare soziale Gruppen wie die Arbeiter, die Frauen, der Mittelstand etc. Fassbar und sichtbar sind Laien erst mit den „sozialen Bewegungen“ seit Ende der 60er Jahre geworden, als die Experten als „Technokraten“ auf den verschiedensten gesellschaftlichen Feldern durch Laien mit ganz unterschiedlichen Motiven herausgefordert wurden. Seither konzentrierte sich die Sozialwissenschaft nicht nur auf die Untersuchung dieser „starken Laien“, sondern sympathisierte und unterstützte oft auch deren „bürgerschaftliches Engagement“ (171) gegen das Expertenwissen, von dem sie sich eine Demokratisierung und einen Abbau von Herrschaft erwartete. Bei dieser idealisierenden Konzentration auf die engagierten und meinungsstarken Laien ließ sie jedoch, so Osrečkis Kritik, die ‚schweigende Mehrheit’ der indifferenten Laien weitgehend außer Acht.

Den entscheidenden und neuen Gesichtspunkt seiner Untersuchung sehe ich nun darin, dass er nicht mehr jenen „starken Laien“, den engagierten Bürger:innen, eine gestaltende und verändernde Handlungsmacht zuspricht und zutraut, die sich weitgehend verflüchtigt habe, sondern dass er umgekehrt gerade der „Unwissenheit“, die den Laien gegenüber dem Experten auszeichnet, eine eigentümliche Macht im Rahmen der Reproduktion der gegenwärtigen sozialen Systeme zuweist. Um diese neue „Macht der Unwissenheit“ zu erläutern, geht er davon aus, dass vormals das soziale System „versäult“ gewesen sei. Es gab unterschiedliche „Milieus“ oder „Säulen“, welche die Beziehungen zwischen Laien und Experten überwölbten und prägten. So gab man etwa als Arbeiter mehr oder weniger selbstverständlich Experten die Stimme, die die Anliegen der Arbeiter politisch vertraten; man kaufte in den Konsumgenossenschaften ein oder nahm an Arbeiterbildungsvereinen und deren Kulturangeboten teil. Ähnliches galt für die „Säulen“ des Katholizismus, des liberalen bzw. rot-grünen Bürgertums.

Doch diese „Versäulung“ der Gesellschaft sieht Osrečki schwinden; und damit ändern sich auch die Beziehungen zwischen Laien und Experten. Denn mit dem Schwinden der Milieus werde das Verhalten der Laien „überdeterminiert“, es wird diffuser, zufälliger und unberechenbarer. Diese Unbestimmtheit des Laienverhaltens bedeute für die Profis jedoch ihrerseits eine zunehmende Unwissenheit vom Laien. So wissen die Parteien nicht nur immer weniger über ihre ‚Wechselwähler’, sie müssen ihnen in ihrer Programmatik auch hinterherlaufen; gleichfalls können Wirtschaft und Handel das Konsumverhalten ihrer Käufer immer weniger vorhersehen, so dass ihre Investitionen riskanter werden; Lehrer sehen sich durch das unberechenbare Verhalten ihrer Schüler zunehmend überfordert, usw. Diese „Macht der Unwissenheit“ erkennt Osrečki auf Seiten der Laien darin, dass ihre jeweilige soziale Rolle für sie selbst ungewisser und unvorhersehbarer wird – er spricht vom „Nichtwissen um die genaue Präferenzordnung“ (242) –, und dass sie gerade durch dieses Nichtwissen ihre Macht auf die ratloser werdenden Experten ausüben.

Nun ist diese Auflösung der ‚alten Ordnung’ oder der ‚Entsäulung’ seit Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ und dann erneut durch Andreas Reckwitz’ „Gesellschaft der Singularitäten“ von den Sozialwissenschaften oft beschrieben worden. Verstehe ich Osrečki richtig, dann bedeutet für ihn diese Auflösung jedoch zugleich einen Zuwachs an Freiheit. Auf der Seite der Experten finde eine Autonomisierung der Systeme statt, die programmatisch nicht mehr an die diffuser gewordenen Bedürfnisse und Interessen ihrer ‚Kunden’ gebunden sind und daher in ihrer Programmgestaltung unabhängiger, aber auch unbestimmter geworden sind. Auf der Seite der Laien hingegen ist mit der Entsäulung der Gesellschaft die Freiheit zur eigenen Meinung im Rahmen der Öffentlichkeit, zur Wahl verschiedener Parteien oder zur Entscheidung der Konsumenten beim Einkauf gewachsen, die doch alle tief im Versprechen moderner Gesellschaften verankert seien.

Offen bei Osrečkis „Lob der Inkonsequenz … und des Nichtwissens“ (293) in seiner Beschreibung einer solch ‚offenen Gesellschaft’ scheint mir allerdings zu sein, ob sich dieses „Nichtwissen“, das er konstatiert, sowohl auf Seiten der Laien als auch der Experten tatsächlich optimistisch als ein Zugewinn an Freiheit interpretieren lässt, oder ob es sich, eher pessimistisch, nicht doch in einer zunehmenden Unberechenbarkeit und Irrationalität des gesellschaftlichen Gesamtsystems ausdrückt, die – wovor andere Soziologen warnen und die Zeichen sich mehren – durchaus in ein äußerst dumpfes, diffuses wie homogenes, Wollen umschlagen kann. Das wäre jedoch der Gegensatz zu einer ausdifferenzierten und rationalen modernen Gesellschaft.