Heft 24: Gewalt und Zivilisation

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13. Jahrgang, 1993, 142 Seiten, broschiert

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In Europa sind neue, schon überwunden geglaubte Gewalttätigkeiten an der Tagesordnung: sog. ethnische Konflikte werden schonungslos ausgetragen; gegen „“Fremde““ richtet sich der heimtückisch-nächtliche Terror der Menschenverbrennung; im vorpolitischen Raum breitet sich eine diffuse Gewalt gegen Sachen und Personen aus. Erlebt Europa nach einem halben Jahrhundert der Zivilität einen neuen Barbarisierungsschub? Ersetzt am Ende des Jahrhunderts die Sprache der Gewalt die Gewalt der Sprache?

Noch überwiegen die Erklärungen, die den Ausbruch der neuen Gewalt als Ausdruck von Modernisierungsdefiziten ansehen, die soziale Randgruppen zum Rückgriff auf vormoderne, nationale bzw. völkische Konfliktlösungsmuster veranlassen. Die Antwort darauf wird teils in polizeilichen Eingriffen zum Schutz des Rechtsstaates, teils in sozialpolitischen Maßnahmen zur Integration dieser Randgruppen gesehen. – Gegenüber diesem Erklärungsmuster mehren sich die Stimmen, die die Zunahme der Gewalt nicht als ein vormodernes Defizit, sondern als Folge und Resultat der modernen Zivilgesellschaft selbst beschreiben. Die modernitätsbedingte Auflösung traditionaler Strukturen und die Freisetzung der Individuen habe zum Verlust kollektiver Werte und zur Unsicherheit des individuellen Verhaltens geführt. Während traditionalistische Kritiker der Zivilgesellschaft in den Ruf nach einer Erneuerung von „“Familie und Autorität““ als vermeintlich gewalthemmenden Institutionen einstimmen, fordern fortschrittliche Wissenschaftler und Politiker den Aufbau neuer Sozial- und Kommunikationsstrukturen: Toleranz, soziale Gerechtigkeit und politische Partizipation gelten als Grundmuster gewaltüberwindenden Verhaltens.

Neben diesem sozialwissenschaftlich geprägten Diskurs steht die Debatte über die psychischen Ursachen der neuen Gewaltbereitschaft. Die Ausübung von Gewalt wird als eine Reaktion auf Bedrohungsängste verstanden, die durch die Zuwanderung von „“Fremden““ ausgelöst werden. Völkische Vertreter ziehen daraus den Schluß, daß der Ausübung von physischer Gewalt nur begegnet werden könne, wenn das Territorium „“ethnisch gesäubert““ oder wenigstens die Zuwanderung von „“Fremden““ durch staatliche Gewalt gestoppt würde. Demgegenüber setzen Sozialpsychologen auf die „“Macht der Vernunft““ und fordern die Einübung ziviler Verhaltensmuster, die der Tatsache einer multikulturellen Gesellschaft Rechnung tragen und einen produktiven Umgang mit den Bedrohungsängsten erlauben.

Besteht derzeit (noch) ein gesellschaftlicher Konsens, die Gewalt im Inneren zu diskriminieren, ist dieser Konsens über die Gewaltanwendung nach Außen zerbrochen und einer Diskussion über die Legitimität von Militäraktionen gewichen. Für die Vertreter militärischer Einsätze scheinen sich „“Zivilität““ und „“Gewalt““ nicht mehr zu widersprechen, sondern zu ergänzen. Der Einsatz des Militärs sei erlaubt, ja unter Umständen gefordert, wenn es um die Erhaltung oder die Durchsetzung „“ziviler Strukturen““ gehe. Ihnen gegenüber halten die Kriegsgegner an der These fest, daß der Einsatz von Gewalt keine zivilen Strukturen erhalten bzw. errichten kann.

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Das Heft will einen Beitrag zur prüfenden Klärung der gegenwärtigen Diskussion um die Ursachen der neuen Gewalt leisten. In seinem einleitenden Beitrag gibt Konrad Lotter einen Überblick über die Definitionen und die philosophisch wie wissenschaftlich relevanten Theorien der Gewalt und diskutiert sie auf dem Hintergrund der gegenwärtigen Problemstellung.

Wolfgang Bialas widmet seinen kultursoziologischen Artikel dem alten Thema „“Geist und Gewalt““ und vollzieht die aktuellen Schwierigkeiten nach, die Intellektuelle im reflektierenden Umgang mit der physischen Gewalt, dem „„Trauma Intellektueller schlechthin““, haben.

Margaret Kohn unternimmt es, die politischen Theorie Hannah Arendts zu aktualisieren. Sie verweist darauf, daß das Phänomen der Gewalt keine lokalisierbare Ursache hat, sondern einem Mangel an politischer Vorstellungskraft und Gestaltungsmöglichkeit entspricht.

Thea Bauriedl skizziert ein psychoanalytisches Konzept, das aufgrund von Erkenntnissen der Systemtheorie und der politischen Semiotik gewaltfreie Perspektiven des politischen und sozialen Handelns entwirft.

Godehard Link befaßt sich kritisch mit den öffentlich-relevanten „“Argumentationen““, die den Einsatz von militärischer Gewalt heute neu legitimieren wollen.

Im Gespräch gibt Martin Jay einen Einblick in die aktuelle US-amerikanische Diskussion der Gewalt, wie sie vor allem in den Medien der bildenden Kunst und Literatur geführt wird.

Das Sonderthema stellt den US-Philosophen Donald Davidson vor. Wolfgang Melchior führt in die Themen der Vorlesungsreihe ein, die Davidson zur Zeit in München vorträgt.

Ein ausführlicher Rezensionsteil von Büchern zum Thema und anderen Neuerscheinungen sowie ein Bericht vom Kongreß „“Was tun?““ (11.-13.6.1993) von Wolfgang Habermeyer ergänzen und erweitern die Thematik des Heftes.

Die Redaktion