Heft 27: Philosophie und Alltag
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15. Jahrgang, 1995, 152 Seiten, broschiert
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Zum Thema
Nach Wittgenstein hat ein philosophisches Problem die Form: „Ich kenne mich nicht aus.“ Dem gestiegenen Interesse an Philosophie zufolge scheint es neuerdings mehr Menschen zu geben, die sich nicht auskennen. Und dieses Sich-nicht-Auskennen bezieht sich offenbar weniger auf einzelne und isolierbare Lebenssituationen, als auf das Verhltnis dieser einzelnen Situationen zu einem größeren und allgemeineren Zusammenhang. Von den bisher 1,1 Millionen Exemplaren von Sofies Welt dürften mehr als nur ein paar statt im Kinderzimmer auf dem Nachtkästchen der Eltern gelandet sein. Sofies Welt ist keine lancierte Modeerscheinung, kein gemachter Bestseller; J. Gaarder scheint ein tatschliches Bedürfnis nach Philosophie zu befriedigen.
„Die Gesellschaft wandelt sich; tradierte Institutionen wie Klasse und Stand verlieren zusehends an Macht über den einzelnen, der nunmehr selber sehen muß, wo er bleibt … Jedermann muß heute, von überkommenen Konventionen im Stich gelassen, sein Ich ausloten, um seine äußere Lage mit seinem Inneren in Einklang zu bringen: Wir sind notgedrungen alle zu existentiellen Lebenskünstlern geworden.“ Daß diese Sätze in einer Rezension über ein Buch stehen, das von der „Bayerischen Rückversicherung AG“ herausgegeben wird, ist mittlerweile so wenig widersinnig, wie der Umstand auffällig, daß an der zitierten Textstelle ein Problem aufscheint: „jedermann“ ist nicht „jedefrau“, und die Anstrengungen der Identitätsbildung von seiten der Frauen lassen die Identitätsbildung auf seiten der Männer nicht unberührt. Wird dann aus guten Gründen die Geschlechterdifferenz noch dekonstruiert, erfährt Wittgensteins Diktum eine weitere Besttigung: Die Lebenshilfe- und Beratungstaschenbücher helfen nicht mehr weiter – in Zeiten der Traditionsauflösung bekommt Philosophie Konjunktur.
Die reflexiv gewordene Moderne verlangt den Individuen nicht nur Anstrengungen hinsichtlich ihrer Identitätsbildung und Lebensplanung ab, sie erzwingt auch die erneute Beschäftigung mit Fragen der Ethik und der Moral. Das Bewußtsein der Menschen wird heute von Problemen der Umweltethik geplagt. Wächst das Ozonloch, steigt die Lufterwärmung, wächst die Verschmutzung wie bisher weiter, ist das Ende für unsere Art zu leben absehbar. Hilft es da, wenn der einzelne auf die Urlaubsfahrt mit dem Auto verzichtet? Hat das Nichttrennen des Hausmülls den gleichen Stellenwert wie die Endlagerung von radioaktivem Abfall in Salzstöcken? Wo ist welches Engagement sinnvoll? Wofür genau ist der Einzelne verantwortlich und wofür nicht? Der momentane Stand des Wissens und des technisch Machbaren erscheint allmählich als ein Umschlagspunkt: Mit der exponentiellen Zunahme an Wissen und Machbarem wächst auch das Wissen um das Nichtwissen und um das Nichtmachbare. Führen die Maßnahmen, um das Ozonloch zu schließen, nicht ihrerseits zu unbeabsichtigten und unvorhersehbaren, aber katastrophalen Nebenfolgen?
Die minutenschnelle Nachrichtenbermittlung von jedem Ort der Erde dient nicht nur dem konsumistischen Interesse der Fernseher. Sie verweist auf einen Zusammenhang zwischen unserer durch Wissenschaft und Technik geprägten Lebensweise und prognostizierbaren Katastrophen, der uns eine veränderte Alltagspraxis abverlangt. Der Vertrauensverlust in die Wissenschaften und die Politikverdrossenheit einerseits und das verstärkte Interesse an der Philosophie erweisen sich als zwei Seiten der gleichen Medaille: Die globalen und multikausalen Probleme unserer Zeit lassen ein Interesse an Philosophie entstehen, das das spezialisierte Fachwissen der Techniker und die pragmatische Unfähigkeit der Politik kompensieren soll. Der Sinn der wissenschaftlich-technischen Moderne wird reflexiv eingeholt: Im Reflexivwerden wird sie abermals philosophisch. Diesmal allerdings nicht als Beruf und Berufung für akademische Philosophie, sondern als das Bedürfnis ’normaler Menschen’, sich in Fragen der Verantwortung und des Zusammenhangs an die Philosophie zu wenden. Die Philosophie wird damit nicht auf den Königsthron gehievt; sie erscheint vielmehr profanerweise als letzte Rettung.
„Philosophie“ und „Alltag“ aufeinander zu beziehen, heißt, sich auf ein Paradoxon einzulassen. Philosophie ist zwar gerade im Bemühen um Universalisierung philosophisch, – nichtsdestotrotz zeigt die Philosophiegeschichte seit Hegels Tod, daß der Anspruch einer Philosophie, die das Leben im Ganzen umfaßt, unerfüllt bleibt. Die Ära der Postmoderne zerstört noch die letzten Gewißheiten über umfassende „Erzählungen“. Was also kann die Philosophie heute noch leisten? Warum werden die genannten Fragen und Probleme von ihr kanalisiert und nicht von neuen religiösen Erweckungsbewegungen? Warum ist bei uns die Philosophie eher in, die Religion eher out?
Das Interesse der Menschen an der Philosophie ist heutigentags offenbar eher an einer Art des enzyklopdischen und distanzierten Wissens orientiert. Wer sich ’monokausal’ und unmittelbar lebensberatend orientieren will und wer „fertige Antworten“ sucht, wendet sich nicht an die Philosophie, sondern an die Religion und Esoterik. Das der Alltagspraxis entstammende Bedürfnis nach Philosophie liegt daher auch quer zur Ausrichtung auf einzelne philosophische Strömungen. Zuviele verschiedene Problemlagen sind es, denen man sich gleichzeitig ausgesetzt sieht, als daß die Berufung auf eine Philosophie oder einen Philosophen eine befriedigende Antwort ergäbe. Das Wissen um das Nichtwissen am Ende unseres Jahrhunderts stärkt nicht automatisch die Religiosität, sondern auch die Offenheit des Zweifelns und des Fragens. In der Philosophie muß man nicht mit der Unbedingtheit glauben wie in der Religion. So mag es sein, daß die bei uns entstehende „multikulturelle Gesellschaft“ eine produktive Verunsicherung der Menschen auslöst, die uns vor dem Rückfall in barbarische Partikularitten bewahrt. Sicher ist dies nicht.
Dies vermehrte Interesse an der Philosophie schließt Enttäuschungen nicht aus, – weder bei den Rezipienten noch bei den Fachphilosophen. Philosophie wirkt nur in beschränktem Maße lebensberatend. Da sie nicht außerhalb der Welt beheimatet ist, sind die Probleme der Welt auch ihre Probleme; in ihren Fragen und Zweifeln spiegelt sie die Probleme und Ungeklärtheiten der Welt wider. Ihre Auswirkungen auf die Praxis des Alltags sind nur von mittelbarer Natur: Die Philosophie kann dazu anleiten, die Kritikfähigkeit zu schulen, das Problembewußtsein zu schärfen und die Fragen umfassend und methodisch zu behandeln. Letztgültige Antworten sind von ihr ebensowenig zu erwarten wie eine konsumierbare Anleitung zum „richtigen Leben“. Je größer auf seiten der Rezipienten der Bedarf nach unmittelbarer Lebenshilfekost ist, desto stärker können die Frustrationen der Berufsphilosophen werden: modisches Interesse und philosophischer Ernst vertragen sich nicht. Die Philosophie ist nicht Unterhaltung, sondern der Versuch, der Vernunft zu ihrem Recht zu verhelfen. Dies ist allerdings nicht nur ihr Problem, sondern auch ihre Chance: gerade weil sie jenseits von modischen Konjunkturen verortet ist, wird sie attraktiv für Menschen, die sich nicht auskennen, und die dies zugeben und aushalten können.
Die vorliegende Nummer des Widerspruchs eröffnet der Beitrag über die Praxis der Erwachsenenbildung von Hermann Schlüter. Er untersucht am Beispiel der Münchner Volkshochschule die Interessenlage von Nichtphilosophen an der Philosophie und beschreibt die Schwierigkeiten, angesichts knapper werdender Subventionen ein Lehrangebot aufrechtzuerhalten, das sowohl an den Bedürfnissen der Kursteilnehmer als auch an einem Moden überdauernden Interesse an philosophischer Aufklärung orientiert ist.
Die anschließenden Artikel geben Einblick in die Bandbreite des Themas. Andreas Edmüller und Thomas Wilhelm berichten von ihrer Arbeit in der philosophischen Schulung von Managern: Logik und Ethik in der Praxis des Managements als unmittelbares Praktischwerden von Philosophie. – Jadwiga Adamiak stellt in ihrem Artikel die Frage, welche praktischen Auswirkungen die theoretische Dekonstruktion überkommener Theorien über die „Geschlechterdifferenz“ im Alltag von Frauen haben kann. – Reinhard Meiners geht in seinem Artikel dem Problem des Philosophierens – nicht über, sondern – mit Kindern nach. In Anlehnung an Piaget zeigt er die Unterschiede der Bedürfnisse und der Gesprächsführung auf, die sich durch das Alter der Kinder ergeben, und benennt, was Erwachsene dabei zu beachten haben.
Die Artikel von Bernhard Schindlbeck und Roger Behrens problematisieren in unterschiedlicher Weise das Verhältnis von Philosophie und Alltag. Schindlbeck stellt den „Geist des Kommunitarismus“ als eine unzureichende Antwort auf die Zerstückelung und Desintegration des Alltags dar: Die Kosten der kapitalistischen Wirtschaftsweise sollen durch den Rückgriff auf die „wahren Werte“ der Tradition aufgefangen werden: von der Kommune zum Volksgeist. – Behrens kritisiert die Hinwendung ehedem linker Lebenssinnsucher zum „Alltäglichen“ als Verirrung. Da die Verhältnisse so sind wie sie sind, und da sie scheinbar nicht verändert werden können, wird die Sache umgedreht: nicht der Alltag muß verändert werden, sondern die Einstellung ihm gegenüber: das richtige Leben ist ästhetisches Leben – höhere Lebenskunst. Die antike Kunst des Lebens werde zum Modeschmuck für die Jünger des Zeitgeists herabgewürdigt.
Schließlich formuliert Paul Mooser, als Nicht-Fachphilosoph, ein Konzept, wie Fachphilosophen ihren Elfenbeinturm verlassen können, um sich – zu beiderseitigem Nutzen – auf dem Marktplatz den Herausforderungen der Nichtphilosophen zu stellen.
Der Rezensionsteil enthält Besprechungen von Büchern zum Thema sowie von Neuerscheinungen. Der Bericht vom Leipziger Kongreß „Kopfbahnhof – Philosophie und Reisen“ von Christian Vogt schließt das Heft ab.
Die Redaktion