Heft 30: Afrikanische Philosophie

5,00 

17. Jahrgang, 1997, 148 Seiten, broschiert

Nicht vorrätig

Artikelnummer: 30 Kategorie:

Zum Thema

Philosophie in Afrika: Geographisch ist damit vor allem der subsaharische Raum gemeint, also nicht die nordafrikanischen Länder des Mittelmeerraumes, die schon seit der Antike im wirtschaftlichen und kulturellen Austausch mit Europa stehen. Geschichtlich zielt das Thema auf die Gegenwart, d.h. auf die letzten 20 bis 30 Jahre, in denen eine intensive, in Deutschland kaum zur Kenntnis genommene, innerafrikanische Debatte über die Existenz und die Eigenart der afrikanischen Philosophie stattgefunden hat.

Geführt wurde diese Debatte überwiegend auf Englisch, teilweise auch auf Französisch, also in den Sprachen der Kolonialherren. Zunehmend ist dabei das Ungenügen ins Bewußtsein getreten, das den darin bereitstehenden Begriffen beim Versuch anhaftet, den ideellen Gehalt der Yoruba-, Bantu-, Akan- oder anderer Kulturen darzustellen. Auf diese Weise hat sich die Debatte um die afrikanische Philosophie oftmals zu einer Debatte um die Interkulturalität philosophischer Verständigung erweitert.

Sollten die „Weisen“ Afrikas eines Tages neben Konfuzius in China, den Veden und Upanischaden in Indien und den Vorsokratikern als ein vierter Ursprung der Philosophie gelten? Wer sich von der afrikanischen Philosophie nur den Reiz exotischer Weisheiten, individuelle Lebenshilfe oder die Befriedigung esoterischer Bedürfnisse erwartet, wird nicht auf seine Rechnung kommen. Enttäuscht wird aber wohl auch, wer darauf hofft, aus einem abgelegenen, „unberührten“ Teil der Welt überraschende Aufschlüsse über den philosophischen Diskurs des Westens zu gewinnen.

Was die Vielzahl ihrer Stimmen und Richtungen durchzieht und das Gemeinsame und Lebendige der afrikanischen Philosophie ausmacht, das ist ihre unmittelbare Verflechtung in die politische Praxis. Sie ist das geistige Aroma des Aufbruchs Afrikas in die Moderne. Zum einen setzt sie den Kampf um die Entkolonialisierung fort, indem sie ihn auf das Gebiet des Bewußtseins ausweitet. Zum anderen stellt sie das Ringen um eine neue kulturelle Identität und ein neues Selbstbewußtsein dar. Schließlich diskutiert die afrikanische Philosophie mit der Frage ihrer Eigenart auch den (politischen und sozialen) Weg, der eingeschlagen werden soll, um die Rückbesinnung auf das Eigene mit den Anforderungen eines modernen Weltbürgertums zu verbinden.

Fast scheint es, als hätte die Aufklärung den Kontinent gewechselt. Während die Philosophie in Europa zunehmend orchideenhafte Züge annimmt und für das öffentliche Leben belanglos wird, ist sie in Afrika zu einer Not geworden: zu einem Forum der Emanzipation, auf dem sich die Afrikaner ihrer Identität vergewissern, auf dem sie Orientierungen gewinnen und Strategien des Handeln entwickeln.

In seinem „Einstiegs“-Artikel zeichnet Kai Kresse die Entwicklungsstufen der Philosophiedebatte in Afrika nach, vom Vorurteil der Philosophielosigkeit des afrikanischen Kontinents über ihre nationalideologischen Formen und die Ethnophilosophie zum freien „Gespräch zwischen Afrikanern“. Gleichzeitig skizziert er mit der Dokumentation und Aufbewahrung bisher nur mündlich tradierter Weisheiten, dem Projekt einer afrikanischen Hermeneutik und dem Aufbau eines gesicherten philosophischen Wissens drei ihrer wesentlichen Forschungsbereiche.

Als repräsentativ für die Überzeugungen vieler Intellektueller können wohl Kwasi Wiredus Aussagen über „das afrikanische Selbstverständnis in der gegenwärtigen Welt“ angesehen werden. Zum einen analysiert Wiredu das erdrückende, noch die Mentalität der Menschen prägende Erbe der Kolonialzeit, das das Entstehen eines freien Selbstbewußtseins bis heute behindert, zum anderen thematisiert er die Schwierigkeiten, bei mangelnder oder nur schwach ausgebildeter Identität die Chancen der hereinbrechenden Moderne wahrzunehmen und produktiv zu machen.

Im anschließenden Gespräch entwickelt Wiredu seinen Begriff von afrikanischer Philosophie als einer Philosophie, die „noch im Entstehen begriffen“ sei.

Anke Grane gibt einen Überblick über die „Philosophie in Nigeria“, d.h. über das Land in Afrika, das mit mehr als 30 Universitäten und 10 Philosophiedepartments das ausgeprägteste und vielseitigste philosophische Leben aufweist. Insbesondere verfolgt sie die Auseinandersetzungen um den Begriff der afrikanischen Philosophie, die in „Second Order. An African Journal of Philosophy“ seit Beginn der 70er Jahre geführt wurden.

Ein Gespräch mit Peter O. Bodunrin, dem Rektor der Ondo State University in Ado Ekiti, schließt diesen Überblick ab. Bodunrin gilt als Universalist oder Modernist unter den afrikanischen Philosophen, als Vertreter einer Richtung, die mit der Kritik an der Ethnophilosophie eine starke Orientierung an der westlichen Philosophie verbinden.

Mehr mit der Tradition der afrikanischen Philosophie, d.h. mit der mündlichen Überlieferung und der Praxis der „Weisen“ beschäftigt sich Gail M.Presbey. Die Autorin, die selbst an der philosophischen Feldforschung Odera H. Orukas (vgl. das Gespräch „Zur Lage der afrikanischen Philosophie“ in „WIDERSPRUCH“ Heft 29) teilgenommen hat, berichtet über die vielfältigen Praxisbezüge dieser „Weisen“, die sie als Herausforderung an die Selbstbeschränkung akademischer Philosophie interpretiert.

Mit seinem Beitrag „Afrikanische Philosophie und westliche Haltung“ legt Wolfgang Habermeyer dar, inwieweit der Prozeß des gegenseitigen philosophischen Verstehens davon abhängig ist, daß wir uns als Vertreter der dominierenden Kultur eine Haltung erarbeiten, die uns verstehen läßt und unter der wir verstanden werden können. Unserem Verhältnis zu unserer gesellschaftlichen Praxis kommt dabei eine entscheidende Bedeutung zu.

Unter dem zweideutig-hintersinnigen Titel „Europa erweitern…“ reflektiert Jürgen Hengelbrock von den Erfahrungen, die er als aufgeklärter Europäer im Umgang mit afrikanischer Philosophie und afrikanischen Philosophen gemacht hat.

Im Besprechungsteil werden, diesmal mehr unter darstellendem als unter kritischem Aspekt, eine Reihe bedeutender neuer Veröffentlichungen afrikanischer Philosophen (Hountondji, Appiah, Gbadegesin, Mudimbe u.a.) vorgestellt, ebenso die deutschsprachigen Autoren (G.-R. Hoffmann, Chr. Neugebauer, H. Nagl-Docekal, H. Kimmerle, F.M. Wimmer),  die durch ihre Behandlung der afrikanischen Philosophie hervorgetreten sind. Ein Kongreßbericht über das zweite „Pan African Symposium on Problematics of an African Philosophy“, das im Dezember 1996 in Addis Abeba stattgefunden hat (Niels Weidtmann) schließt das Heft ab.

Die Redaktion