Heft 56: Philosophie in China

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32. Jahrgang, 2012, 204 Seiten, broschiert

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Der wirtschaftliche Aufstieg Chinas in den beiden letzten Jahrzehnten hat die Welt in ein Staunen versetzt, das bekanntlich der Anfang aller Philosophie ist. So sucht seither ein Heer von Wissenschaftlern, Politikberatern und Journalisten das Geheimnis zu lüften und forscht nach den Ursachen und Gründen für das Erwachen des „chinesischen Drachens“. Die einen machen das treibende Motiv am konfuzianisch geprägten Arbeitsethos fest, andere sehen es in der politischen Entscheidung der Führung Chinas fürs kapitalistische „Enrichissez vous“ oder aber in der Öffnung des Landes für die Wohlstand spendenden Segnungen des westlichen Kapitals. Eher skeptisch gesonnene Beobachter hingegen misstrauen dem schönen Schein und kontrastieren den Prunk der neuen Mega-Cities mit dem erbärmlichen Los des Millionenheers von Wanderarbeitern, korrelieren die eindrucksvollen Wirtschaftswachstumszahlen mit den bedrückenden Zerstörungen von Natur und Umwelt oder konfrontieren die Vermehrung materieller Güter mit der vielfältigen Beschränkung ideeller Freiheitsgüter.

Die meisten jedoch traktieren Chinas Aufstieg mit Begriffen aus ihren Wissenschaften und mit ihren Vorstellungen vom Guten und Rechten. Selten wird gefragt: „Wie denkt China selbst?“ Zwar sind die Esoterikabteilungen unserer Buchläden gefüllt mit Abhandlungen über chinesische Medizin und Lebenskunst, und es herrscht auch kein Mangel an exzellenten Werken über 2500 Jahre chinesischer Philosophie. Aber was die geistigen Fundamente der heutigen chinesischen Gesellschaft sind, darüber findet sich, über Anekdotisches hinaus, wenig.

Zwei Charakteristika stehen am Anfang des Verständnisses chinesischen Denkens: China denkt säkular, und China hatte kein „Zeitalter der Aufklärung“. Die chinesische Tradition konnte sich erfolgreich eines Denkens erwehren, das die Welt aufreißt in „Transzendenz“ und „Immanenz“, ins „Apriori“ und „Aposteriori“ und damit in ein „Reich der reinen und ewigen Ideen“ und ein „Reich unreiner, sinnlich-empirischer Begriffe“. Hier waren und sind Denken und Handeln weltimmanent. Zudem hatte China keine Epoche der Kritik, wie sie seit der „Renaissance“ europäisches Denken prägte. Stattdessen wurden nach dem Zusammenbruch des alten Kaiserreichs westliche Gedanken, seit 1949 in Gestalt des Marxismus-Leninismus, importiert, um sie sogleich den spezifischen Bedingungen  der chinesischen Denk- und Sprachtraditionen anzupassen. Ohne Einsicht in diesen Charakter bleiben Urteile über China in der Gegenwart ihrem Gegenstand äußerlich und verfehlen ihn.

Die Beiträge des Hefts über die „Philosophie in China“ bewegen sich in diesem Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne, zwischen sozialem Wandel und kultureller Stabilität.

Zunächst gibt der Beitrag von Hou Cai einen Überblick über die Entwicklung, die Arbeits- und Problemfelder der gegenwärtigen chinesischen Philosophie. Er zeigt den engen Zusammenhang der philosophischen Theoriebildung mit der gesellschaftlichen Praxis und deren Problemen auf.

Der Artikel von Gregor Paul geht den Begriffen der Menschenwürde und des Menschenrechts in der chinesischen Tradition nach und arbeitet Parallelen zwischen ihrem europäischen und chinesischen Verständnis heraus.

Ralph Weber gibt in seinem Beitrag einen Einblick in die gegenwärtige Debatte um eine „Konfuzianisierung“ der chinesischen Gesellschaft, die, wie er zeigt, von unterschiedlichen Interessen und Perspektiven geprägt ist.

Fabian Heubel legt in seinem Artikel „Zhuāngzǐ im Kapitalismus: Überlegungen zu Effektivität und Effizienz“ dar, wie strategische Gedanken aus der chinesischen Tradition in aktuellen Diskussionen fruchtbar gemacht werden und zu neuen Einsichten führen können.

Über die wert- und rechtsphilosophischen Themen, die in den Vorträgen des Kongresses „Chinesisch-Deutscher Zukunftsdialog 2022“ im September 2012 an der Kölner Universität verhandelt wurden, berichtet Ignaz Knips in seinem Beitrag.

Das Gespräch mit Hans van Ess gibt schließlich einen lebendigen Einblick in Grundmuster des heutigen chinesischen Denkens.

Der Schwerpunkt des Hefts wird durch Rezensionen von Büchern zum Thema abgeschlossen.

Das Sonderthema knüpft an die Diskussion des vergangenen Hefts an: Helmut Dunkhase entwirft und diskutiert in seinem Beitrag „Wo bitte geht’s zum Kommunismus?“ Modelle einer kommunistischen Produktionsweise.

In der Rubrik „Münchner Philosophie“ stellt Konrad Lotter den Nietzsche-Schüler und ehemaligen Bestseller-Autor Julius Langbehn vor, der an der Münchner Universität promovierte, in Münchner Künstlerkreisen zu Hause war und, nach einem abenteuerlichen Wanderleben, anonym in Puch bei Fürstenfeldbruck beerdigt wurde.

Wie immer schließen Besprechungen von interessanten Neuerscheinungen das Heft ab.

Die Redaktion