Heft 43: Wertestreit um Europa
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25. Jahrgang, 2005, 180 Seiten, broschiert
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Zum Thema
Die Ablehnung des Europäischen Verfassungsvertrags durch die Mehrheit der Franzosen und Niederländer im Mai und Juni 2005 scheint dem „europäischen Traum“ (Jeremy Rifkin) ein jähes Ende beschert zu haben. Vielen war die Übertragung nationaler Souveränität nach Brüssel oder die Aussicht auf die Aufnahme der Türkei als eines nichtchristlichen, vom Islam geprägten Landes zu weit gegangen. Viele protestierten mit ihrem Nein gegen einen bürokratischen Apparat, den sie als verselbständigt, undurchschaubar und unkontrollierbar empfanden. Den meisten, die den Verfall des Wohlstands und sozialstaatlicher Standards am eigenen Leib erfahren, sehen in einem geeinten Europa nicht mehr den erhofften Schutz, sondern den Erfüllungsgehilfen der Globalisierung. Nach der Wirtschafts- und Währungsunion und der Erweiterung auf 25 Staaten bleibt der politischen Integration Europas mit einer gemeinsamen Innen-, Außen- und Verteidigungspolitik damit vorerst ein Riegel vorgeschoben.
Zu denken gibt, dass das Nein zur Verfassung aus zwei Staaten kommt, die zu den Gründungsmitgliedern der europäischen Union gehören. Ihre Ablehnung gilt offensichtlich nicht der „Idee Europa“, sondern dem, was unter der Hegemonie wirtschaftlicher Interessen aus dieser Idee geworden ist.
Gleich im Anschluss an die Verfassungskrise schlitterte Europa in eine Finanzkrise. Im Scheitern der Verhandlungen über die Beitragszahlungen der einzelnen Länder stellte sich heraus, dass das Lager der Neoliberalen noch an Einfluss gewonnen hat, dem es vorrangig um die Expansion des Markts und nicht um die Integration der Politik und demokratische Kontrolle geht. Die Gegner der Verfassung in Frankreich und den Niederlanden könnten gerade jene Entwicklung gefördert haben, gegen die sie durch ihr Nein protestieren wollten.
„Welches Europa wollen wir eigentlich?“ Der Wertestreit um Europa hat einen doppelten Dreh- und Angelpunkt: Er dreht sich zum einen um die Alternative Ökonomie oder Politik, freier Markt oder demokratische Kontrolle, um Europa als Freihandelszone oder Europa als politische Union. Dabei wird natürlich unterstellt, dass die Politik keine bloßes Vollzugsorgan ökonomischer „Sachzwänge“ ist, sondern eine relative Autonomie besitzt. Zum anderen dreht er sich um die Art oder Qualität dieser Integration, wenn die politische Integration überhaupt weiter verfolgt wird: um das politische Selbstverständnis Europas, seine kulturelle Identität, seine Leitvorstellungen und Visionen.
Noch tief sitzen die Differenzen, die aus der Zeit der Teilung Europas in Ost und West herrühren. Tief sitzt auch die Spaltung, die durch den Irakkrieg hervorgerufen wurde, die Unterstützung des amerikanischen Angriffskriegs, den Bruch mit UNO und Völkerrecht auf der einen, die Missbilligung des Krieges auf der anderen Seite. Nur soweit besteht Konsens: vor einer europäischen Verfassung und Politik bedarf es einer Denkpause und einer tieferen Verständigung über die Grundlagen und die Ziele einer solchen Politik. Das Scheitern der Volksabstimmungen hat den Streit um die politische Identität Europas nicht abgewürgt, sondern erst richtig eröffnet. Es hat ein Nein nur zum gegenwärtigen Zustand zum Ausdruck gebracht, die utopische Dimension Europas aber erhalten oder zurückgewonnen.
Christian Schwaabes Artikel beginnt mit der berechtigten Zweifel darüber, ob das der Präampel des Verfassungsvertrags vorangestellte E pluribus unum, „In Vielfalt geeint“, schon ausreicht, um aus den verschiedenen Vereinen von Vaterländern einen europäischen demos zu bilden. Er unterscheidet die Dimensionen einer Kommunikations-, Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft, die in eine Wertegemeinschaft münden und – auf der Basis einer gemeinsamen Lebenswelt – eine europäische Identität zur Folge haben könnten, die ebenso politisch, als Verfassungspatriotismus, wie kulturell in einer antifundamentalistischen „europäischen Leitkultur“ (Bassam Tibi) begründet ist.
Das Nein zur Verfassung ist der Ausgangspunkt von Hauke Brunkhorsts Beitrag, der das Manko der Verfassung darin sieht, dass sie allein zwischen den Regierungen ausgehandelt wurde. Insofern war „Europa“ bisher ein elitäres, kein egalitäres Projekt. Soll die politische Integration eine ZukunftsPerspektive bekommen, so müssen die europäischen Wähler direkt und nicht nur über ihre Regierungen in die Kommunikations- und Entscheidungsprozesse eingebunden werden.
Der Essay von Konrad Lotter thematisiert die geschichtlichen Vergangenheiten, durch deren „Bewältigung“ die verschiedenen Länder Europas zu einem Wertekonsens gelangen sollen. Er diskutiert verschiedene (katholische, sozialistische etc.) Versuche, die europäische Identität zu bestimmen und unterzieht die Begründungen, die diesen Versuchen zugrunde liegen, einer Kritik.
Auf das Verhältnis von Genesis und Geltung sind die Überlegungen von Josef Bordat gerichtet. Die Menschenrechte sind zwar in Europa entstanden, besitzen aber eine über Europa hinausgehende, universelle Geltung. Diese Universalität besitzen sie nicht zuletzt durch ihre Affinität zur goldenen Regel der Ethik, die sich auch in außereuropäischen Kulturen nachweisen lässt.
Um das Problem der Toleranz kreisen die beiden folgenden Artikel. Auf polemische Weise plädiert Julia Hölzl dafür, in einer von postmoderner Vielfalt geprägten, europäischen Gesellschaft den Begriff der Toleranz durch den des Respekts zu ersetzen. Wolfgang Langer analysiert den Kopftuch-Streit. Er stellt den Gegensatz zwischen Kants moralischen Urteilen a priori und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das von empirischen Argumenten (a posteriori) begründet wird, in den Mittelpunkt seiner Überlegungen und macht auf die Gefahren aufmerksam, die aus einer solchen „kopernikanische Wende“ entstehen könnten. Die Rezensionen der Bücher zum Thema beschließen den thematischen Teil.
Nicht unmittelbar mit Europa, wohl aber mit Ethik und der Frage nach den richtigen Werten hat das Sonderthema des Hefts zu tun. Unter dem Titel „Welchen Wert hat die menschliche Moral?“ untersucht (und kritisiert) Dagmar Fenner Nietzsches „Genealogie“ der Moral und seine Begriffe der Herren- und Sklavenmoral.
In der Reihe „Münchner Philosophie“ stellt Hans-Martin Schönherr-Mann seinen intellektuellen Werdegang und den kurvenreichen Weg seiner Philosophie dar. Robert Josef Kozljanic erinnert an den verstorbenen Eberhard Simons.
Rezensionen interessanter Neuerscheinungen schließen wie immer das Heft ab.
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Die Redaktion