Heft 67: Räterepublik in Bayern

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38. Jahrgang, 2019, 178 Seiten, broschiert

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Lange Zeit galt die Räterepublik Baiern[1], die am 7. April 1919 proklamiert und am 1. Mai niedergeschlagen wurde, den Historikern als ein von Schwabinger Literaten und Schöngeistern angeführter Exzess oder als eine Kuriosität der Umbruchzeit nach dem 1. Weltkrieg. Man zog die großen staatspolitischen Linien von der Monarchie im zweiten deutschen Kaiserreich zum parlamentarischen System der Weimarer Republik, auf denen eine Republik der Räte keinen Platz hatte. Unter diesen Linien ist die Erinnerung an die Rätezeit unter dem Schleier des Nichtwissens abhanden gekommen. Allein eine Gruppe um den Historiker Karl Bosl brachte Ende der 60er Jahren gehaltvolle Studien heraus, die allerdings allzu eng in die bayerische Regionalgeschichte eingebunden waren[2].

Seit einigen Jahren hat sich dies geändert. Vor allem die Städte wie München, Nürnberg, Fürth oder Augsburg bieten zum 100. Jahrestag der Revolution und Räterepublik ein überraschend breites Angebot an Lesungen, Inszenierungen, Ausstellungen, Filmen, Führungen und Workshops an, die das damalige Geschehen, seine Teilnehmer wie Beobachter wieder in Erinnerung rufen, und die neben den bekannten Dichtern und Denkern vor allem das Engagement der Frauen in dieser Zeit würdigen.

Dieses erwachte Interesse an der Räterepublik kommt nicht von Ungefähr. Spiegelt sich in ihm doch das wachsende Unbehagen am parlamentarischen System wider, das sich in der verbreiteten Verdrossenheit an den Parteien und in den vielen Wutattacken auf die abgehobenen ökonomischen wie politischen Eliten artikuliert, und das zwangsläufig die Suche nach einer „anderen Republik“, nach einer alternativen politischen Ordnung initiiert, als die sich die Räterepublik ausdrücklich verstand.

Es fällt schwer, den geschichtlichen Entstehungsort des Rätegedankens ausfindig zu machen. Wir finden ihn immer dort, wo das Volk gegen die Obrigkeit aufbegehrt, und wo es der nächstliegende, spontane Gedanke war, Männer, selten Frauen, zu bestimmen, die den Willen des Volkes vertreten und artikulieren. Im alten Rom waren es die Tribunen, während der Bauernkriege im 16. Jahrhundert die Bauernführer wie Jos Fritz oder Michael Gaismair, zu Beginn der französischen Revolution die Delegierten aus den Regionen zur Nationalversammlung in Paris.

Konkretere Gestalt allerdings nahm der Rätegedanke im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss von Jean-Jacques Rousseau und Pierre-Joseph Proudhon an. Zur Zeit der Pariser Kommune 1871 schließlich versah die Bevölkerung die Abgeordneten ihrer Arrondissements mit dem später so genannten „imperativen Mandat“. Diese Form des Mandats trägt zum einen dem Umstand Rechnung, Repräsentanten des eigenen Willens ernennen zu müssen; zum anderen aber verhindert sie zugleich, dass die Vertreter sich zur Elite verselbständigen und ihre eigenen Interessen vertreten, sich also aus Dienern des Volkes in seine Herren wandeln.[3] Das imperative Mandat verbindet also die Idee der Repräsentation mit dem Gedanken der Kontrolle der Repräsentanten durch die Repräsentierten. Die Gewählten können folglich jederzeit abgewählt und durch andere ersetzt werden.

Während im parlamentarischen System jeder Wähler als isolierter Einzelner und im Geheimen dem Gewählten für eine gewisse Frist ein freies Mandat erteilt, das ihn nicht an seine Wähler, sondern nur, wie es heißt, an „sein Gewissen“ bindet, ist all dies im Rätesystem umgekehrt: hier wird die Wahl öffentlich und gemeinschaftlich ausgeübt, die Gewählten sind an den Auftrag ihrer Wähler gebunden, sie können jederzeit gewählt bzw. abgewählt werden. Und während das parlamentarische System zumeist darin besteht, dass die staatlichen Gewalten der Legislative, Exekutive und Judikative sich gegenseitig kontrollieren, ist es im Rätesystem die Öffentlichkeit selbst, die die gewählten Instanzen kontrolliert. Dieses System gewährleistet mithin das Grundprinzip der Demokratie, wonach alle staatliche Gewalt nicht nur vom Volk ausgeht – um ihm dann fern zu sein –, sondern dass sie beim Volk ist und bleibt. Es verhindert im Ansatz den Missbrauch der staatlichen Gewalt.

Als in Bayern 1919 eine solche Republik der Räte nach hartem, auch blutigem Kampf gegen die Parlamentaristen proklamiert wurde, blieb freilich bis zuletzt die Frage umstritten und ungelöst, wen die Räte als Volksbeauftragte eigentlich repräsentieren oder was unter dem „Volk“ zu verstehen sei. Zwar hatten sich in der Revolution spontan die Soldaten-, Arbeiter- und Bauernräte gebildet, aber um ihre Rolle und Funktion in einer künftigen Republik wurde gestritten. Ist das „Volk“ die bürgerliche Gesellschaft, die aus einer Pluralität sich selbst organisierender Berufe besteht, so dass folglich jeder Berufsstand mit seinen Interessen seine eigenen Räte wählt und delegiert, wie dies die Republikaner um Kurt Eisner anstrebten? Oder sind es die autonomen und sich genossenschaftlich verwaltenden Kommunen bzw. Gemeinden, die innerhalb eines föderalen Bundes ihre Beauftragten delegieren, wie es die Anarchisten um Gustav Landauer erstrebten? Oder bilden die sich organisierenden Betriebe die Basis, die gemeinschaftlich ihre Vertreter als Arbeiterräte wählen, wie es die Kommunisten um Max Levien und Eugen Leviné verlangten? Diese Probleme der politischen Organisationsform waren daher eng mit der Eigentumsfrage und der Sozialisierung von Grund und Boden sowie der Großbetriebe verbunden.

Obwohl sich in München damals ein höchst illustrer Kreis von fähigen und originellen Köpfen versammelt hatte, blieb der Räterepublik weder die Kraft noch die Zeit, diese grundlegenden Verfassungsfragen einer demokratischen Gesellschaft zu erörtern, geschweige denn sie zu lösen. Wie die Pariser Kommune knapp 50 Jahre zuvor wurde sie von ihren Feinden, einem Bündnis aus Parlamentaristen und Präfaschisten, in einem fürchterlichen Blutbad niedergeschlagen. Aber sie hinterließ als unabgegoltenes Erbe das Nach- und Weiterdenken über die politischen Ordnungsprinzipien einer demokratischen, freien und solidarischen Gesellschaft – jenseits des Kapitalismus und des Parlamentarismus.

Den Anfang der Beiträge machen die philosophisch-politischen Profile der Protagonisten der Revolution und Räterepublik, die von den Redaktionsmitgliedern Konrad Lotter, Alexander von Pechmann, Marianne Rosenfelder, Bernhard Schindlbeck und Sibylle Weicker verfasst wurden. Sie verdeutlichen den geistig-konzeptionellen Hintergrund der Akteure sowie die Unterschiede und Gemeinsamkeiten ihrer politischen Ideen und Programme.

Es folgen Rezensionen von aktuellen Büchern zum Thema, die einen Überblick über den Verlauf der Revolution und ihre gegenwärtige historische Verortung sowie einen tieferen Einblick in die philosophischen Hintergründe und politischen Ziele ihrer Protagonisten geben.

Der anschließende Artikel von Ingrid Scherf stellt die Entwicklung des Rätegedankens bei Kurt Eisner, dem ersten Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern, vor. Er zeigt, dass in Eisners politischer Konzeption die Existenz der Räte ein unabdingbares Element jeder lebendigen Demokratie war.

Hans Joachim Dahms geht in seinem Beitrag dem spannungsreichen Verhältnis von Max Weber, Mitbegründer der Soziologie und „Nährvater der Räterepublik“, und Otto Neurath, Mitbegründer des „Wiener Kreises“ und Sozialisierungsbeauftragter der bayerischen Regierung, nach. Er arbeitet die Zusammenhänge und Gegensätze zwischen den wissenschaftstheoretischen und politischen Ideen des liberalen Weber mit seiner verstehenden Soziologie und dem sozialistischen Neurath mit seiner Programmatik des Physikalismus und Sozialbehaviorismus heraus.

In ihrem Beitrag „Otto Neuraths ‚Empiritäten‘“ unternimmt es Daniela Stöppel, der gemeinsamen Rationalität in Neuraths ökonomischem Konzept der Vollsozialisierung der bayerischen Wirtschaft und seiner – scheinbar ganz verschiedenen – Methode der Bildstatistik und der Piktogramme nachzugehen, und setzt beide mit dem Logischen Empirismus des „Wiener Kreises“ in Verbindung.

Den Beiträgen zum Thema des Heftes folgt ein ausführlicher Rezensions­teil von Neuerscheinungen.

Den Abschluss bildet der Nachruf auf unser verstorbenes Redaktionsmitglied Jadwiga Adamiak.

Die Redaktion

[1] Baiern wurde wieder mit „i“ geschrieben, nachdem König Ludwig I. als Griechenfreund die Schreibweise mit „y“ eingeführt hatte.

[2] Karl Bosl (Hg), Bayern im Umbruch. Die Revolution von 1918, ihre Voraussetzungen, ihr Verlauf und ihre Folgen, München 1969.

[3] Prägnant fasste Friedrich Engels diesen revolutionären Schritt zusammen: „Gegen diese in allen bisherigen Staaten unumgängliche Verwandlung des Staats und der Staatsorgane aus Dienern der Gesellschaft in Herren der Gesellschaft wandte die Kommune zwei unfehlbare Mittel an. Erstens besetzte sie alle Stellen, verwaltende, richtende, lehrende, durch Wahl nach allgemeinem Stimmrecht der Beteiligten, und zwar auf jederzeitigen Widerruf durch dieselben Beteiligten. Und zweitens zahlte sie für alle Dienste, hohe wie niedrige, nur den Lohn, den andre Arbeiter empfingen … Damit war der Stellenjägerei und dem Strebertum ein sichrer Riegel vorgeschoben“.  (Marx-Engels-Werke, Bd. 22, Berlin 1971, 198).