Heft 69: Öffentliche Meinung und Wahrheit
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39. Jahrgang, 2020, 148 Seiten, broschiert
Zum Thema
Seit Platons Kritik an den Sophisten hat die Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit (ἐπιστήμη) und Meinung (δόξα) eine feste Stellung innerhalb der Philosophie. Über lange Jahrhunderte war sie eingebettet in die umfassendere Frage nach der richtigen Erkenntnis. Eine erweiterte Bedeutung erhielt der Begriff der Meinung erst zur Zeit der Französischen Revolution. Der 11. Artikel der déclaration du droit de l’homme et du citoyen erklärte die freie Äußerung von Gedanken und Meinungen zu einem der „kostbarsten Menschenrechte“, insbesondere dann, wenn sie sich gegen die Meinung der herrschenden Autoritäten richtet. Damit wurde die Frage des Verhältnisses von Wahrheit und Meinung und insbesondere der öffentlichen Meinung auf die umfassendere Frage nach der richtigen politischen Praxis bezogen.
Mit dem Wandel der Bedeutung erlebte der Begriff der Meinung zugleich eine Veränderung seiner Wertschätzung. Im Kontext des Erkennens war das Meinen mit dem Stigma des Einseitigen und bloß Subjektiven behaftet, das im Prozess der Suche nach Wahrheit überwunden und ausgemerzt werden sollte. Im Kontext der politischen Praxis behielt das Meinen zwar die Bedeutung des subjektiven Urteils; es erfreute sich aber in der entstehenden Öffentlichkeit großer Wertschätzung. Nach der Zerschlagung des absolutistischen Staats, der die Geschicke des Landes und seiner Bewohner von oben geregelt hatte, erwachte die antike Idee der Demokratie zu neuem Leben, die das allgemeine Interesse des Staats mit den individuellen Interessen der Bürger versöhnen und zur Einheit bringen sollte. Damit wurde die öffentliche Meinung zur Legitimation der Politik, zum Maßstab ihrer Akzeptanz. Von Anfang an hatte sie allerdings das Ambivalente an sich, dass sie das Sprachrohr des „Volkswillens“ und der Kritik an staatlichen Missständen war, zugleich aber auch als Gegenstand der Beeinflussung und der Manipulation betrachtet wurde.
Die Formen und Wandlungen der öffentlichen Meinung hat Jürgen Habermas in seinem Werk über den Strukturwandel der Öffentlichkeit in umfassender Weise dargestellt. Die sozialen Orte, an denen sich die öffentliche Meinung seit dem 18. Jahrhundert bildete, waren das Kaffeehaus, der Salon, das Lesekabinett oder die Versammlung in öffentlichen Räumen. Als Medien ihrer Äußerung dienten das Wort und das Bild, die „moralischen Wochenzeitschriften“, die Literatur, das Flugblatt, die Tagespresse, das Plakat, später der Rundfunk oder das Fernsehen. Die Institutionen, die auf die Formung der öffentlichen Meinung Einfluss nahmen und gleichzeitig von ihr beeinflusst wurden, waren neben der Regierung und den Parteien die Verbände und andere Organisationen.
Unter grundlegend neuen Bedingungen bildet sich die öffentliche Meinung allerdings, seitdem das Internet zum dominanten Medium der Kommunikation geworden sind. Neben dem vertikalen, „bottom-up“ bzw. „top-down“ verlaufenden Fluss der Informationen ist damit der horizontale Fluss getreten, der sich über institutionalisierte Regeln und Festlegungen hinwegsetzt. Jeder User ist zugleich Influencer und Follower. Er kann die von der „offiziellen“ Berichterstattung vernachlässigten Themen einbringen, neue Schwerpunkte setzen, eigene Wertungen propagieren und damit die öffentliche Meinung beeinflussen. Er hat die Möglichkeit, Nachrichten oder Aufrufe an ein großes Publikum zu senden, mit einer Geschwindigkeit, die alle Versuche einer Zensur unterläuft. Welche (basis-) demokratischen Schübe vom Internet und von den sozialen Medien ausgehen können, kam schlagartig seit 2010 mit den Anfängen des Arabischen Frühlings zu Bewusstsein.
Spätestens mit dem US-amerikanischen Wahlkampf, aus dem Donald Trump 2016 als Sieger hervorgegangen ist, trat allerdings auch die Kehrseite der neuen Kommunikation zutage. Die Anonymität der Kommunikation erleichtert es, fake news ins Netz zu stellen, „Fakten“ zu generieren, die geeignet sind, die öffentliche Meinung in eine bestimmte Richtung zu lenken. Schwer zu überprüfen ist, ob in den chatrooms von Facebook, Instagram etc. überhaupt mit menschlichen Gesprächspartnern kommuniziert wird, ob nicht vielmehr Roboter oder social bots durch ihre „Argumente“ ein bestimmtes Meinungsklima erzeugen. Die Sammlung unendlicher Datenmengen, die die User freiwillig und im Austausch gegen viele Erleichterungen des täglichen Verkehrs, durch ihre Klicks, ihre Bestellungen, Likes, Cookies etc. zur Verfügung stellen, lassen sich zu Nutzer-Profile kondensieren, die nicht nur der Werbung, sondern auch der Überwachung dienen. Vor allem lassen sie sich, wie Cambridge Analytica unter Beweis gestellt hat, auch zur Manipulation von Wählerverhalten einsetzen, speziell bei unentschiedenen Wählern, denen auf ihre Befindlichkeit zugeschnittene „Informationen“ zugespielt werden.
Was das Internet mit seinen sozialen Medien an Möglichkeiten der Aufklärung, der demokratischen Meinungsbildung, der politischen Teilhabe eröffnet, wird durch seine kapitalistische, quasi monopolistische Ausrichtung (samt seiner intransparenten Verflechtungen mit politischen Organisationen, Geheimdiensten etc.) konterkariert. So stehen der Möglichkeit der schnellen und umfassenden Information, der Beseitigung von Vorurteilen, der Erziehung der Menschen zu mündigen Bürgern, der wirkungsvollen Vertretung begründeter Meinungen und dem verstärkten Einfluss auf die Politik, eine andere, völlig konträre Möglichkeit gegenüber: die Verfestigung von Vorurteilen, die Verbreitung bornierter Weltbilder, die Schaffung von „Blasen“ und „Echoräumen“, in denen die Menschen in ihren eigenen falschen Meinungen bestärkt und in ihrer geistigen Entwicklung und Kritikfähigkeit gehemmt werden.
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In der „Postfaktizität“, die er als Folge der kapitalistischen Warenproduktion interpretiert, sieht Lars Distelhorst die größte Gefahr für den Fortbestand der freiheitlichen Demokratie. Er will diesen Begriff weder als Lüge noch als kalkulierte Falschaussage verstanden wissen, sondern stellt das Postfaktische, Harry Frankfurts Begriff des Bullshits aufnehmend, als eine neue „Diskursart“ dar, die sich jenseits von Wahrheit und Lüge bewegt und gerade durch ihre Beliebigkeit die Wahrheit unterhöhlt.
In seinem Beitrag geht Hauke Brunkhorst dem engen Zusammenhang von Demokratie und Wahrheit nach, der sich im allgemeinen Willen, der volonté général, manifestiert hat. Er stellt fest, dass das mittlerweile rein funktional gewordene politische System gegenwärtig kollabiert und die Wahrheit ihre politische Relevanz verliert.
Hegels Begriff der öffentlichen Meinung und Meinungsfreiheit thematisiert der Beitrag von Konrad Lotter. Er unterscheidet vor allem Hegels doppelten Begriff der Meinung. Im Kontext des Erkennens bildet er den Gegenbegriff zur Wahrheit; im Kontext des politischen Handelns hingegen betrachtet Hegel die Meinung, in ihrer Subjektivität und Vermischung von „Richtigem“ und „Falschem“, als etwas Berechtigtes und gar als „höheres Prinzip der neuen Zeit“, die mit der Proklamation der Menschenrechte in der Französischen Revolution begonnen habe.
Frieder Vogelmanns Blick auf die digitale Öffentlichkeit der Gegenwart erfolgt aus unzeitgemäßer Perspektive: der Diskussion um das Wesen der Propaganda, wie sie in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts geführt wurde. Im Zentrum seines Interesses steht neben der epistemischen Frage nach der Wahrheit oder Unwahrheit in besonderer Weise die manipulative Dimension der Propaganda durch die Wirkungsmacht der Sprache und die „rhetorischen Tricks“ der Darstellung von Sachverhalten.
In seinem Essay geht Alexander von Pechmann dem Kriterium der Wahrheit von Nachrichten nach, die er darin sieht, dass sie das, was sie berichten, abbilden. Davon ausgehend setzt er sich kritisch mit Positionen auseinander, die den Wahrheitsgehalt von Nachrichten nicht als Abbildungen, sondern als Konstruktionen begreifen.
Johann Jakob Grund spürt in seiner abschließenden Glosse den insgesamt zehn Strategien nach, mit denen das Aufkommen und die Verbreitung der Wahrheit verhindert werden kann.
Den Artikeln folgen Rezensionen von Büchern zum Thema, die einen Einblick in die gegenwärtige Diskussion geben.
Das Sonderthema des Hefts behandelt Hegels Kritik am Überwachungsstaat. Martin Walter zeigt anhand seiner Kritik an der „Passpolizei“ Fichtes, dass Hegel keineswegs der „preußische Staatsphilosoph“ war, als der er lange Zeit gegolten hat.
Dem schließt sich eine Reihe von Rezensionen interessanter Neuerscheinungen an.
Der Bericht von Marie Lippert über die Tagung, die dem Frankfurter Theoretiker der APO, Hans-Joachim Krahl, zum 50. Todestag gewidmet war, beschließt das Heft.
Die Redaktion
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