Jörg Später: Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik
geb., 760 S., 40,– €, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024
von Lothar Butzke
Der Historiker und Journalist Jörg Später möchte eine Geschichte der Bundesrepublik erzählen, von der Rückkehr Adornos und Horkheimers nach Frankfurt am Main bis zum Ende der alten Bundesrepublik. 20 Jahre mit und 20 Jahre ohne Adorno. Adornos Tod bildet darin die Zäsur. Er interessiert sich für die ersten Schüler und Schülerinnen Horkheimers und vor allem Adornos, die später dann von der Theoriegeschichtsschreibung als ‚zweite Generation’ der Kritischen Theorie bezeichnet wurden. Diese ‚zweite Generation’ nennt er „Adornos Erben“.
Später wählt zwölf Schüler und Schülerinnen aus „aufgrund ihrer Funktion im Adorno-Orbit oder einer Rolle, die sie nach 1969 spielten“ (11). Bei ihnen handelt es sich um Jürgen Habermas, Oskar Negt, Hermann Schweppenhäuser, Rolf Tiedemann, Karl Heinz Haag, Alfred Schmidt, Herbert Schnädelbach, Ludwig von Friedeburg, Gerhard Brandt, Helge Pross, Regina Becker-Schmidt und Elisabeth Lenk. Hinzu kommt Alexander Kluge „stellvertretend für viele Zaungäste aus Kunst und Kultur“ (11). Der Autor nutzt dazu neben der Literatur auch die Nachlässe, bei Habermas auch den Vorlass, die in verschiedenen Archiven liegen und hat, soweit noch möglich, auch Gespräche mit ihnen geführt.
Zunächst wird auf rund 140 Seiten die Geschichte des Instituts für Sozialforschung, das Exil und Adornos Wirken als Universitätslehrer mit den ersten Schülern und Schülerinnen bis zu dessen Tod geschildert. In den weiteren Teilen verfolgt er dann die Lebensläufe und akademischen Laufbahnen der genannten Erben und betrachtet sich dabei als „Chronisten, der eine profane Rekonstruktion der Frankfurter Schule und ihrer kritischen Theorien versucht“ (14). Was dabei „die Kritische Theorie der Frankfurter Schule war, beziehungsweise ist, soll nicht mit einer Definition vorab geklärt werden, sondern bildet das hier Darzustellende. So wie in einer Familie über die Erbschaft gestritten wird, haben Adornos Schüler und Schülerinnen miteinander um das angemessene Verständnis von Kritischer Theorie gerungen“ (11) – so, als wäre der Inhalt Kritischer Theorie beliebig, als hätte es den grundlegenden Aufsatz von Horkheimer nie gegeben, und als hätte Habermas nicht explizit davon gesprochen, er wolle keine Tradition fortsetzen, sondern seine eigene Theorie entwickeln. Diese Brüche werden von Später nicht thematisiert.
Dieses recht äußerliche und oberflächliche Verhältnis zur Theorie durchzieht das ganze Buch. Dabei passieren der Autor auch fatale Schnitzer, die sowohl am Verständnis der Philosophie als auch an der Kenntnis der Person Adornos zweifeln lassen. So zitiert er aus einem Aufsatz, den es so nicht gibt: „Wozu noch Philosophie?“ (634, Anm. 43). Adornos Titel enthält jedoch kein Fragezeichen (vgl. Adorno, GS Bd. 10/2), vielmehr ist der Aufsatz die Antwort auf die Frage. Auch lernte Adorno Rudolf Kolisch 1925 in Wien kennen (Adorno/Kolisch, Briefwechsel, Berlin 2023, 805 f.) und nicht in New York und René Leibowitz 1947 in Los Angeles (Adorno, Briefe an die Eltern, Berlin 2003, 437) und nicht in Darmstadt (608, Anm. 11). Das sind Kleinigkeiten, die sich aber hätten klären lassen. Später hätte schweigen können, statt Falsches zu behaupten. Er bemerkt auch nicht, wenn ein zentraler Gedanke Adornos und Horkheimers aus der „Dialektik der Aufklärung“ sinnentstellend zitiert wird: „Eingedenken in die Natur“ (Habermas-Zitat, 452) statt „Eingedenken der Natur im Subjekt“ (Adorno, GS Bd. 3, 58; oder Horkheimer, GS Bd. 5, 64). Er verwendet die Phrase zudem noch, um die Kritik Schnädelbachs an Adorno zu beschreiben: „Über die ‚simple Lösung’, dass man der gigantischen weltgeschichtlichen Fehlstruktur durch ‚Eingedenken in die Natur’ beikommen könne, konnte Schnädelbach nur noch den Kopf schütteln“ (484). Bei Adorno jedoch gibt es diesen Satz nicht.
Des weiteren referiert Jörg Später Thesen von Adorno sowie die Kritik an ihnen, wobei er allerdings der offiziellen Lesart, wie sie von Habermas, Schnädelbach und Honneth propagiert wird, unkritisch folgt bis hin zu der lapidaren Zusammenfassung von Schnädelbachs Kritik: „Adornos Philosophie stimmt eben nicht“ (537), so, als hätte Adorno sich bei einer Rechenaufgabe vertan (Adorno, 6, setzen!). Oder: „Habermas stand im Unterschied zu seinem Lehrer mit beiden Beinen in der Wissenschaft“ (257), als hätte Adorno nie Sozialforschung betrieben. Er wiederholt, was Axel Honneth und andere als Theoriegeschichte konstruiert haben: „eine Erbschaftslinie von Adorno zu Habermas im Sinne des wissenschaftlichen Fortschritts“ (D. Claussen, Kann Kritische Theorie vererbt werden? In: T. Freytag/M. Hawel (Hg.), Arbeit und Utopie. Oskar Negt zum 70. Geburtstag, Frankfurt/Main 2004, 275). Selbstverständlich kommen auch die ‚orthodoxen’ Schüler und Schülerinnen zu Wort; nur bleiben sie dagegen recht blaß. Es ist offenbar Habermas, der die Kritische Theorie beerbt hat, ob er das selbst wollte oder nicht.
Das Buch ist zudem zu großen Teilen in einem unangenehmen, flapsigen und bei Personen oft auch herablassenden und gönnerhaften Ton geschrieben. Da ist von „bürgerliche(r) Software“ (27) die Rede, vom „Spirit des linken Unimilieus“ (423), von „Akteuren, die ihr Ding machten“ (336), von Habermas und Luhmann als „Alphatiere(n) der … Soziologie“ (437). Später teilt aus, wo immer er einen Lacher vermutet: Negts „philosophische Höhenflüge (88)“ und sein „Comte-und-Hegel-TÜV“ (90), der „Zwölftoncineast“ Kluge, dessen Filme spät abends in der „Glotze“ (395) laufen, Regine Lenk die für ihre Professur „vorsingen durfte“ (296). Besonders angetan hat es ihm offenbar Rolf Tiedemann. Zum Tode von dessen Sohn schreibt er im Stile der „Gala“: „Ein grausamer Schock, ein unbeschreiblicher Schmerz, ein kaum zu ertragendes Schuldgefühl – was auch immer in Tiedemann vorging, sein Leben war mit Sicherheit von einem Tag auf den anderen nicht mehr dasselbe“ (294). Und auch beruflich hatte Tiedemann viel Ärger: „Ab und zu schleuderte er eine Tirade in geschliffener Formulierung hinunter, dann vergrub er sich wieder und leckte sein Wunden“ (302). So genau wollten wir das freilich gar nicht wissen.
Nachdem Adornos Theorien nun mal in einem „ausweglosen Negativismus“ (541) endeten, der Erkenntnis nur noch ästhetischen Werken zuerkannte, und sie letztlich einfach nicht stimmten (vgl. 537), während sein ‚Erbe’ Habermas fest „mit beiden Beinen in der Wissenschaft“ stand (257) und sie daher „für nicht mehr zeitgemäß“ (479) befand, war es wohl nichts mit dem Erbe – außer dem Etikett ‚Kritische Theorie’..
Wozu, fragt sich der Leser, sollte man sich dann überhaupt noch mit Adorno abgeben? Weil Adorno die „jüdische Vorstellung“ (403) und die „jüdische Erfahrung“ (586) des Zivilisationsbruchs, mithin das „Auschwitzbewußtsein“ (586) gehabt hatte, während die restliche linke Intelligenz „einfach in einem anderen Film“ (465) war? Nur, man muss nicht Jude sein, um zu begreifen, was der Holocaust bedeutete. Schließlich wurden Auschwitz und der Holocaust Ende der 80er Jahre thematisiert, unter anderen von Dan Diner und Detlev Claussen. Hier hätte Später die unterschiedliche Bedeutung, die diese Erfahrung in den Theorien von Adorno, aber auch Horkheimer, Marcuse und Löwenthal einerseits und bei Habermas, Schnädelbach und Honneth andererseits hatte, herausarbeiten können. Stattdessen bleibt es bei dem blassen Statement: „mir scheint die ‚jüdische Erfahrung’ der Gründergeneration ein konstitutives Element zu sein, das lange übersehen wurde und oft unterschätzt wird“ (586). Dies ist in der Sekundärliteratur jedoch längst behandelt worden. Vielen anderen jedoch war recht schnell klar, dass für Habermas diese Erfahrung, im Gegensatz zur ‚ersten Generation’ kritischer Theorie, nicht konstitutiv für seine eigene Theorie war, sondern sie lediglich das Kolorit oder die Stimmung der Zeit betraf.
Trotzdem habe ich das Buch mit Interesse und Gewinn gelesen. Denn zum ersten mal wird die Geschichte von Adornos Schülern und Schülerinnen detailliert im Zusammenhang mit der deutschen Nachkriegsgeschichte erzählt. Viele Namen erhalten ein Gesicht, und wen man nur als Autor oder Namen kannte, erhält jetzt eine Biographie und nicht zuletzt, der ‚Adorno-Kosmos’ wird vor Augen geführt. Man erfährt, welche Rolle Gretel Adorno am Institut spielte, wie Habermas nach Starnberg ans Max-Planck-Institut wechselte und wieder nach Frankfurt kam. Die Querelen um das hessische Hochschulrahmengesetz werden geschildert, durch die man Kontinuitäten konservativer Politik erfahren kann wie bei Bernhard Vogel, der damals gegen das sozialdemokratische Gesetz hetzte und erst kürzlich in seinen Erinnerungen Bodo Ramelow für gefährlicher für die Demokratie hält als die gesichert rechtsextremistische AfD. Es wird die gesellschaftliche und politische Stimmung mit Studentenrevolte und anschließendem Terror der RAF, für den Adorno und die kritische Theorie verantwortlich gemacht wurden, geschildert. Die darauf folgende Sympathisantenhetze mit Berufsverboten, der deutsche Herbst werden ebenso vor Augen geführt wie Kohls ‚geistig-moralische Wende“ und schließlich der Historikerstreit um Nolte. Interessant sind die Probleme, die Rolf Tiedemann mit dem Adorno- und Benjamin-Archiv und der Herausgabe der Gesammelten Schriften Benjamins hatte, bis hin zum Rechtsstreit mit dem Suhrkamp Verlag um eine angemessene finanzielle Beteiligung der Erben Benjamins. Und es beeindruckt, wie sich vor allem Habermas immer wieder in die politischen und intellektuellen Debatten eingemischt hat. Es entsteht so ein lebendiges Bild der Zeit bis 1989, und man erhält einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der Schüler und Schülerinnen und ihre Beteiligung an den politischen und theoretischen Debatten.
Späters Buch ist sicher nicht geeignet, in die Theorien Adornos oder die Kritische Theorie einzuführen. Dazu wird man die Texte selbst lesen müssen mit geeigneter Sekundärliteratur wie den zitierten Aufsatz von Detlev Claussen oder „Das Eingedenken der Natur im Subjekt“ von Gunzelin Schmid Noerr (Darmstadt 1990). Aber man gewinnt einen lebendigen Einblick ins Wirken seiner Erben in der ‚alten’ Bundesrepublik.