Cynthia Fleury
Hier liegt Bitterkeit begraben
Über Ressentiments und ihre Heilung
geb, 316 Seiten., 28,– €, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2023
von Ottmar Mareis
Das Problem des RechtspopuIismus grassiert heute in ganz Europa. Die französische Philosophin und Psychoanalytikerin Cynthia Fleury widmet sich in ihrem Buch dem ihm zugrundeliegenden Ressentiment. Im ersten Teil beschreibt sie das Bittere als das, was der Mensch des Ressentiments erlebt. Um sich diesem Thema zu nähern, stellt sie der Reihe nach die bekannten Philosophen und Psychoanalytiker vor, die sich mit dem Ressentiment auseinandergesetzt haben.
Den Auftakt bildet Max Scheler. 1912 veröffentlichte er einen Essay, in dem er bei den Ressentimentgeladenen ein „wiederholtes Durch- und Nachleben einer bestimmten emotionalen Antwortreaktion gegen einen anderen“ beobachtet, „durch die jene Emotion eine gesteigerte Vertiefung und Einsenkung in das Zentrum der Persönlichkeit erhält.“ Für Fleury wird die Verstärkung des permanenten „Durchkauens und Wiederkäuens mit der charakteristischen Bitterkeit einer vom Kauen ausgelutschten Speise“ zentral für ihre Analyse. Die ersten Reaktionen des Ressentiments könnten noch auf konkreten Erfahrungen des “Haters“ beruhen, denen er als Kind oder Jugendliche/r nicht adäquat antworten konnte. Doch mit zunehmender Erfahrung seiner Ohnmacht gegen unüberwindliche gesellschaftliche Autoritäten wandelt sich die Bitterkeit zu jenem gefährlichen universellen Ressentiment, das heute wieder die westlichen Demokratien bedroht.
Das Ressentiment breitet sich im Volk aus, beide werden letztlich von ihm komplett besessen und geleitet. Es ist die andere Seite der Ohnmacht, die den Hater seine Handlungsfähigkeit und Kreativität einbüßen lässt. Er wird immer träger und verliert sein Differenzierungsvermögen, indem er auf ein primitives Reiz-Reaktionsschema regrediert, während sein Groll anwächst. Grollen und Donnern zeichnen die Gesellschaften aus, in denen die Hater reüssieren.
Anschließend stellt Fleury Nietzsches Schriften in seiner Phase der Aufklärung ausführlich vor. Sie erwähnt zwar, dass er auch der Philosoph der europäischen Rechten ist. Aber interessanterweise liest, versteht und verteidigt sie ihn fast vollends als Aufklärer. Der Ressentimentbesessene sei Träger der Sklavenmoral. Nietzsche spricht von den Missratenen, Kranken, Schwachsinnigen, Mittelmäßigen: „Seine Seele schielt, sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hintertüren, alles Versteckte muthet ihn als seine Welt, seine Sicherheit, sein Labsal; er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demüthigen.“ Sie werden zur Herde, die dem Herdentrieb verfällt, indem sie ihre Beschränkungen und ihre Ressentiments zur Norm erheben. Bemerkenswert ist, dass Nietzsche die Missratenen auch als Labile darstellt, die Kränkungen nicht verarbeiten können. Darauf postuliert er, dass sie generell Verdauungsstörungen haben. Sie können nicht richtig oder gar nicht verdauen; sie sind diejenigen, die einen üblen Geruch verbreiten. Gleichzeitig will der Ressentimentbesessene das Fieber seiner Verbitterung ständig nach- oder wiedererleben und die “Magie“ des großen Führers, der seine Rache vollstreckt, indem er ihn in Kriegen verheizt.
Gegen ihn setze Nietzsche den Edlen und dessen Herrenmoral, die von Großzügigkeit bestimmt sei. Jedoch befremdet, dass Fleury die dunkle Triade der Herrenmoral, die Macht zu unterdrücken, auszubeuten und zu versklaven verschweigt. Denn es würde ihr sympathisierendes Leseschema brechen. Den Edlen zeichne ihrer Meinung nach vor allen anderen aus, dass er nicht längst vergangene, oft imaginäre Beleidigungen wiederkäut, die ihn ständig im Zustand des Grolls, der Missgunst und der Rancune gefangen halten. Stattdessen praktiziere er das freiwillige, resiliente, große Vergessen. Es ist ein wesentlicher Zug seiner Mahatma. Deshalb kann seine große Seele stets aufs Neue den Anderen völlig unvoreingenommen offen begegnen. Ihn umgibt die Aura der grandiosen Positivität, die flirrende Offenheit gegenüber der Welt. Um diese Aura zu erläutern, schließt Fleury Rilkes Gedichte über das Offene an. Sie spricht begeistert von Nietzsche, Mallarmé und Rilke, gleichfalls von einer Reihe von Dichtern wie Hölderlin u. a., die das Offene im Bund mit der Großzügigkeit thematisierten. Daran knüpft sie ihre Erfahrungen mit der Heilkunst in Psychoanalysen. Es zeugt vom Gelingen, wenn ein Klient nach langer Therapie reflexiv wahrnehmen respektive verdauen gelernt hat. Ob es ihm gelingt, in der Therapie, in der er sich lange als krasses Opfer präsentierte, die Erfahrung zu machen, sich von seinem selbstquälerischen, destruktiven, narzisstischen Opfertum zu lösen und sich davon zu befreien, nicht mehr dieses Opfer sein zu müssen. Nur wenn er diese Stufe erreicht, könne er wieder handlungsfähig und offen für die Welt werden.
Leider wird zu wenig thematisiert, welche sozialisatorische Bedingungen vonnöten sind, um solch große Seelen, Edelmütige und Offene hervorzubringen. Nur vereinzelt erwähnt sie, dass diese Aufgabe Schulen und Bildungsanstalten zukomme. Fleury liefert zwar eine stupende Analyse des Ressentiments; aber der nächste Schritt wäre definitiv, ein Buch über die Bedingungen und Methoden einer solchen Erziehung zur Offenheit zu schreiben. Hier würden sich wohl die Schwierigkeiten in den heutigen unterfinanzierten, selektiven, darwinistischen deutschen Schulen und im Bildungssystem in extenso offenbaren. Die Mahatma-Pädagogik ist, wenn überhaupt, wenigen teuren Elite-Internaten vorbehalten.
Ein weiteres Kapitel widmet Fleury Adorno und Wilhelm Reich. Hier führt sie hauptsächlich die Minima Moralia und die Negative Dialektik an, von Reich die Schriften zur Massenpsychologie des Faschismus und zu seinen Charakteranalysen der undurchdringlichen, verhärteten Charakterpanzer. Diese Analysen sind nicht nur dadurch, dass sie ihnen Referenz und Anerkennung zollt, aktueller denn je, obwohl sie lange aus dem Spektrum der politischen Kulturkritik verdrängt waren. Wenn man sich von Fleurys poetischem französischen Duktus nicht blenden lässt, der auf der Schwelle zur Trance balanciert, fällt im Gegensatz zu den anderen Kapiteln auf, dass sie hier keine eigene, geschweige denn neuartige Interpretation vornimmt. Vermutlich weil sie gegen diese Schriften kaum bestehen könnte.
In dem letzten, umfangreichsten Teil des Buches wendet sie sich Frantz Fanon zu. Fanon war ein maßgeblicher psychoanalytischer Psychiater und Theoretiker der Postcolonial Studies. Mit „die Verdammten dieser Erde“, und „Schwarze Haut, weiße Masken“ trug er wesentlich zur Analyse des Verhältnisses von Kolonisatoren und Kolonisierten bei. Fleury referiert diese Schriften nicht nur, sondern erklärt und interpretiert wichtige Passagen gründlich. Fanon habe ausführlich dargestellt, dass die Kolonisatoren sowohl die Kultur als auch die Singularität der Kolonisierten ausradierten, indem sie Jahrhunderte auf einen krassen, gewalttätigen Rassismus setzten. Nach dieser langen, brutalen kolonialen Ausbeutung analysierte Fanon minutiös, wie sich diese Gewalt der physischen und kulturellen Auslöschung in der Psyche der überlebenden Indigenen spiegelt. Ihr Schicksal bestehe in einer ebenso großen Verbitterung wie Ressentiment gegenüber sich selbst, ihrer eigenen Kultur und der Welt, solange sie sich nicht in großen Befreiungsbewegungen durch resiliente, nachhaltige (Guerilla-) Kämpfe davon befreien. Der Befreiungskampf, so Fanon, ist dann aber nicht das Ende; denn in postkolonialen Zeiten werde der Rassismus latent und weniger offensichtlich. Es bedarf daher größerer intellektueller Anstrengung zu seiner Entlarvung. Fanon postuliert, dass die emanzipatorische Arbeit des Psychiaters nun erst beginne oder weiterzuführen sei, besonders wenn der Kampf erfolgreich war.
Fleury bespricht weiter Fanons einflussreichste sozial- und ethnopsychiatrische Studien. Sie hebt hervor, dass Fanon vollends bewusst war, mehr noch, herausarbeitete, was es heißt, ein/e Arzt:in respektive Psychiater:in zu sein, der/die in einem kolonialen staatlichen oder konfessionellen Krankenhaus des globalen Südens arbeitet. Die weiße Schulmedizin sei besonders dort ein Medium sowohl der Unterdrückung als auch der Unterwerfung, auch wenn der Arzt jetzt öfter eine PoC ist. Fanon analysierte zudem scharfsinnig, was es bedeutet, als weißer oder PoC-Arzt zu praktizieren. Fleury verstärkt Fanons Fokus auf eine umfangreiche Sozialtherapie, in der es immer auch auf die Institution ankommt, in der er oder sie arbeitet. Es mache keinen Sinn, nur individuell zu therapieren. Man sollte als Arzt:in die Institution und letztlich die postkoloniale Gesellschaft im selben Maße behandeln, mehr noch, erziehen. Das große Wagnis bestehe darin zu versuchen, die Institution von einem Instrument der Unterwerfung in eines der Öffnung zur Bevölkerung und ihren Bedürfnissen hin zu verwandeln. Fleury spricht oft von der Fanonschen Deklosion, der Öffnung der Institutionen. Sie würdigt seinen großen Einfluss, den er auf die 68/70er Jahre, vor allem auf Basaglia, Laing, Foucault und viele PoC-Psychiater:innen hatte. Zudem weist sie darauf hin, dass Fanon nicht der Meinung war, wie heutige postkoloniale Aktivist:innen, auf seinem Schwarzsein bestehen zu müssen.
Es käme zuerst sowohl bei Weißen als auch bei PoC auf den Prozess der Entpersönlichung an, was Fleury an Mallarmé und anderen Dichtern illustriert. Dieser Prozess befördere die Reflexion. Erst nach der reflexiven Entpersönlichung, dh. der Abweisung aller zugeschriebenen Rollen, könne wieder auf die Singularität des Individuums geblickt werden wie auf seine spezifische Individuation. Die persönlichen Gegenstände, auf die Psychiatrisierte teils vehement beharren, wie (Ehe-)Ringe, Schmuck oder Haarspangen seien als ein bedeutendes Element in der Behandlung zu betrachten. Nur singuläre, personale Sichtweisen auf die Klienten könnten der Entmenschlichung respektive Dehumanisierung entgegenwirken, die bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts in den Psychiatrien herrschten. Fleury betont zum Schluss, nicht bei der therapeutischen Singularität der Psychiatrisierten respektive der Hater stehen zu bleiben. Die Demokratie und ihre Institutionen müssten dahingehend wirken, dass sie die ressentimentbessesenen „Ich-verengten“ zur „Ich-Erweiterung“ anregen. Hier zeigt sich ihr therapeutischer Idealismus, der den Ton ihres Buchs bestimmt, am deutlichsten; denn kaum einer von ihnen wird sich einer Psychoanalyse unterziehen. Auch tragen die heutigen starren Institutionen mehr zur Ressentimentproduktion bei als sie aufzuheben. Außerdem war Freud klar, dass der Mensch aus so krummen Holz geschnitzt ist, dass man beim Erziehen, Regieren und Therapieren meist mit mangelndem Erfolg zu rechnen hat.
Dennoch schleudert Fleury ihr Buch als einen intellektuellen Molotow Cocktail aufklärerisch gegen den Trend des Rechtspopulismus in Europa. Das Buch verdient breite Rezeption. Vermutlich kann es jedoch die von ihm Adressierten nur als originaler treffen. Ce la vie.