Fleury – Hier liegt Bitterkeit begraben

Cynthia Fleury
Hier liegt Bitterkeit begraben
Über Ressentiments und ihre Heilung
geb, 316 Seiten., 28,– €, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2023

von Ottmar Mareis

Das Problem des RechtspopuIismus grassiert heute in ganz Europa. Die französische Philosophin und Psychoanalytikerin Cynthia Fleury widmet sich in ihrem Buch dem ihm zugrundeliegenden Ressentiment. Im ersten Teil beschreibt sie das Bittere als das, was der Mensch des Ressentiments erlebt. Um sich diesem Thema zu nähern, stellt sie der Reihe nach die bekannten Philosophen und Psychoanalytiker vor, die sich mit dem Ressentiment auseinandergesetzt haben.
Den Auftakt bildet Max Scheler. 1912 veröffentlichte er einen Essay, in dem er bei den Ressentimentgeladenen ein „wiederholtes Durch- und Nachleben einer bestimmten emotionalen Antwortreaktion gegen einen anderen“ beobachtet, „durch die jene Emotion eine gesteigerte Vertiefung und Einsenkung in das Zentrum der Persönlichkeit erhält.“ Für Fleury wird die Verstärkung des permanenten „Durchkauens und Wiederkäuens mit der charakteristischen Bitterkeit einer vom Kauen ausgelutschten Speise“ zentral für ihre Analyse. Die ersten Reaktionen des Ressentiments könnten noch auf konkreten Erfahrungen des “Haters“ beruhen, denen er als Kind oder Jugendliche/r nicht adäquat antworten konnte. Doch mit zunehmender Erfahrung seiner Ohnmacht gegen unüberwindliche gesellschaftliche Autoritäten wandelt sich die Bitterkeit zu jenem gefährlichen universellen Ressentiment, das heute wieder die westlichen Demokratien bedroht.
Das Ressentiment breitet sich im Volk aus, beide werden letztlich von ihm komplett besessen und geleitet. Es ist die andere Seite der Ohnmacht, die den Hater seine Handlungsfähigkeit und Kreativität einbüßen lässt. Er wird immer träger und verliert sein Differenzierungsvermögen, indem er auf ein primitives Reiz-Reaktionsschema regrediert, während sein Groll anwächst. Grollen und Donnern zeichnen die Gesellschaften aus, in denen die Hater reüssieren.
Anschließend stellt Fleury Nietzsches Schriften in seiner Phase der Aufklärung ausführlich vor. Sie erwähnt zwar, dass er auch der Philosoph der europäischen Rechten ist. Aber interessanterweise liest, versteht und verteidigt sie ihn fast vollends als Aufklärer. Der Ressentimentbesessene sei Träger der Sklavenmoral. Nietzsche spricht von den Missratenen, Kranken, Schwachsinnigen, Mittelmäßigen: „Seine Seele schielt, sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hintertüren, alles Versteckte muthet ihn als seine Welt, seine Sicherheit, sein Labsal; er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demüthigen.“ Sie werden zur Herde, die dem Herdentrieb verfällt, indem sie ihre Beschränkungen und ihre Ressentiments zur Norm erheben. Bemerkenswert ist, dass Nietzsche die Missratenen auch als Labile darstellt, die Kränkungen nicht verarbeiten können. Darauf postuliert er, dass sie generell Verdauungsstörungen haben. Sie können nicht richtig oder gar nicht verdauen; sie sind diejenigen, die einen üblen Geruch verbreiten. Gleichzeitig will der Ressentimentbesessene das Fieber seiner Verbitterung ständig nach- oder wiedererleben und die “Magie“ des großen Führers, der seine Rache vollstreckt, indem er ihn in Kriegen verheizt.
Gegen ihn setze Nietzsche den Edlen und dessen Herrenmoral, die von Großzügigkeit bestimmt sei. Jedoch befremdet, dass Fleury die dunkle Triade der Herrenmoral, die Macht zu unterdrücken, auszubeuten und zu versklaven verschweigt. Denn es würde ihr sympathisierendes Leseschema brechen. Den Edlen zeichne ihrer Meinung nach vor allen anderen aus, dass er nicht längst vergangene, oft imaginäre Beleidigungen wiederkäut, die ihn ständig im Zustand des Grolls, der Missgunst und der Rancune gefangen halten. Stattdessen praktiziere er das freiwillige, resiliente, große Vergessen. Es ist ein wesentlicher Zug seiner Mahatma. Deshalb kann seine große Seele stets aufs Neue den Anderen völlig unvoreingenommen offen begegnen. Ihn umgibt die Aura der grandiosen Positivität, die flirrende Offenheit gegenüber der Welt. Um diese Aura zu erläutern, schließt Fleury Rilkes Gedichte über das Offene an. Sie spricht begeistert von Nietzsche, Mallarmé und Rilke, gleichfalls von einer Reihe von Dichtern wie Hölderlin u. a., die das Offene im Bund mit der Großzügigkeit thematisierten. Daran knüpft sie ihre Erfahrungen mit der Heilkunst in Psychoanalysen. Es zeugt vom Gelingen, wenn ein Klient nach langer Therapie reflexiv wahrnehmen respektive verdauen gelernt hat. Ob es ihm gelingt, in der Therapie, in der er sich lange als krasses Opfer präsentierte, die Erfahrung zu machen, sich von seinem selbstquälerischen, destruktiven, narzisstischen Opfertum zu lösen und sich davon zu befreien, nicht mehr dieses Opfer sein zu müssen. Nur wenn er diese Stufe erreicht, könne er wieder handlungsfähig und offen für die Welt werden.
Leider wird zu wenig thematisiert, welche sozialisatorische Bedingungen vonnöten sind, um solch große Seelen, Edelmütige und Offene hervorzubringen. Nur vereinzelt erwähnt sie, dass diese Aufgabe Schulen und Bildungsanstalten zukomme. Fleury liefert zwar eine stupende Analyse des Ressentiments; aber der nächste Schritt wäre definitiv, ein Buch über die Bedingungen und Methoden einer solchen Erziehung zur Offenheit zu schreiben. Hier würden sich wohl die Schwierigkeiten in den heutigen unterfinanzierten, selektiven, darwinistischen deutschen Schulen und im Bildungssystem in extenso offenbaren. Die Mahatma-Pädagogik ist, wenn überhaupt, wenigen teuren Elite-Internaten vorbehalten.
Ein weiteres Kapitel widmet Fleury Adorno und Wilhelm Reich. Hier führt sie hauptsächlich die Minima Moralia und die Negative Dialektik an, von Reich die Schriften zur Massenpsychologie des Faschismus und zu seinen Charakteranalysen der undurchdringlichen, verhärteten Charakterpanzer. Diese Analysen sind nicht nur dadurch, dass sie ihnen Referenz und Anerkennung zollt, aktueller denn je, obwohl sie lange aus dem Spektrum der politischen Kulturkritik verdrängt waren. Wenn man sich von Fleurys poetischem französischen Duktus nicht blenden lässt, der auf der Schwelle zur Trance balanciert, fällt im Gegensatz zu den anderen Kapiteln auf, dass sie hier keine eigene, geschweige denn neuartige Interpretation vornimmt. Vermutlich weil sie gegen diese Schriften kaum bestehen könnte.
In dem letzten, umfangreichsten Teil des Buches wendet sie sich Frantz Fanon zu. Fanon war ein maßgeblicher psychoanalytischer Psychiater und Theoretiker der Postcolonial Studies. Mit „die Verdammten dieser Erde“, und „Schwarze Haut, weiße Masken“ trug er wesentlich zur Analyse des Verhältnisses von Kolonisatoren und Kolonisierten bei. Fleury referiert diese Schriften nicht nur, sondern erklärt und interpretiert wichtige Passagen gründlich. Fanon habe ausführlich dargestellt, dass die Kolonisatoren sowohl die Kultur als auch die Singularität der Kolonisierten ausradierten, indem sie Jahrhunderte auf einen krassen, gewalttätigen Rassismus setzten. Nach dieser langen, brutalen kolonialen Ausbeutung analysierte Fanon minutiös, wie sich diese Gewalt der physischen und kulturellen Auslöschung in der Psyche der überlebenden Indigenen spiegelt. Ihr Schicksal bestehe in einer ebenso großen Verbitterung wie Ressentiment gegenüber sich selbst, ihrer eigenen Kultur und der Welt, solange sie sich nicht in großen Befreiungsbewegungen durch resiliente, nachhaltige (Guerilla-) Kämpfe davon befreien. Der Befreiungskampf, so Fanon, ist dann aber nicht das Ende; denn in postkolonialen Zeiten werde der Rassismus latent und weniger offensichtlich. Es bedarf daher größerer intellektueller Anstrengung zu seiner Entlarvung. Fanon postuliert, dass die emanzipatorische Arbeit des Psychiaters nun erst beginne oder weiterzuführen sei, besonders wenn der Kampf erfolgreich war.
Fleury bespricht weiter Fanons einflussreichste sozial- und ethnopsychiatrische Studien. Sie hebt hervor, dass Fanon vollends bewusst war, mehr noch, herausarbeitete, was es heißt, ein/e Arzt:in respektive Psychiater:in zu sein, der/die in einem kolonialen staatlichen oder konfessionellen Krankenhaus des globalen Südens arbeitet. Die weiße Schulmedizin sei besonders dort ein Medium sowohl der Unterdrückung als auch der Unterwerfung, auch wenn der Arzt jetzt öfter eine PoC ist. Fanon analysierte zudem scharfsinnig, was es bedeutet, als weißer oder PoC-Arzt zu praktizieren. Fleury verstärkt Fanons Fokus auf eine umfangreiche Sozialtherapie, in der es immer auch auf die Institution ankommt, in der er oder sie arbeitet. Es mache keinen Sinn, nur individuell zu therapieren. Man sollte als Arzt:in die Institution und letztlich die postkoloniale Gesellschaft im selben Maße behandeln, mehr noch, erziehen. Das große Wagnis bestehe darin zu versuchen, die Institution von einem Instrument der Unterwerfung in eines der Öffnung zur Bevölkerung und ihren Bedürfnissen hin zu verwandeln. Fleury spricht oft von der Fanonschen Deklosion, der Öffnung der Institutionen. Sie würdigt seinen großen Einfluss, den er auf die 68/70er Jahre, vor allem auf Basaglia, Laing, Foucault und viele PoC-Psychiater:innen hatte. Zudem weist sie darauf hin, dass Fanon nicht der Meinung war, wie heutige postkoloniale Aktivist:innen, auf seinem Schwarzsein bestehen zu müssen.
Es käme zuerst sowohl bei Weißen als auch bei PoC auf den Prozess der Entpersönlichung an, was Fleury an Mallarmé und anderen Dichtern illustriert. Dieser Prozess befördere die Reflexion. Erst nach der reflexiven Entpersönlichung, dh. der Abweisung aller zugeschriebenen Rollen, könne wieder auf die Singularität des Individuums geblickt werden wie auf seine spezifische Individuation. Die persönlichen Gegenstände, auf die Psychiatrisierte teils vehement beharren, wie (Ehe-)Ringe, Schmuck oder Haarspangen seien als ein bedeutendes Element in der Behandlung zu betrachten. Nur singuläre, personale Sichtweisen auf die Klienten könnten der Entmenschlichung respektive Dehumanisierung entgegenwirken, die bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts in den Psychiatrien herrschten. Fleury betont zum Schluss, nicht bei der therapeutischen Singularität der Psychiatrisierten respektive der Hater stehen zu bleiben. Die Demokratie und ihre Institutionen müssten dahingehend wirken, dass sie die ressentimentbessesenen „Ich-verengten“ zur „Ich-Erweiterung“ anregen. Hier zeigt sich ihr therapeutischer Idealismus, der den Ton ihres Buchs bestimmt, am deutlichsten; denn kaum einer von ihnen wird sich einer Psychoanalyse unterziehen. Auch tragen die heutigen starren Institutionen mehr zur Ressentimentproduktion bei als sie aufzuheben. Außerdem war Freud klar, dass der Mensch aus so krummen Holz geschnitzt ist, dass man beim Erziehen, Regieren und Therapieren meist mit mangelndem Erfolg zu rechnen hat.
Dennoch schleudert Fleury ihr Buch als einen intellektuellen Molotow Cocktail aufklärerisch gegen den Trend des Rechtspopulismus in Europa. Das Buch verdient breite Rezeption. Vermutlich kann es jedoch die von ihm Adressierten nur als originaler treffen. Ce la vie.

Beckert – Verkaufte Zukunft

Jens Beckert

Verkaufte Zukunft

Warum der Kampf gegen den Klimawandel zu scheitern droht

geb., 238 Seiten, 28,– €, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024

von Frank Beiler

Das Cover von Jens Beckerts Buch ist eine Adaption des „This is fine“-Memes aus dem Jahr 2016. Es sitzt jedoch kein lächelnder Comic Hund in einem brennenden Haus, der sich selig selbst versichert, dass alles in bester Ordnung sei, sondern man erkennt ein Paar mittleren Alters auf einer Couchgarnitur in einem Wohnzimmer, das sich einem entspannten Alltag widmet, während vor dem Wohnzimmerfenster ein Erdglobus in Flammen steht.

Das Cover steht in einer gewissen Spannung zu dem sachlichen, nachdenklichen Realismus, der das gesamte Buch prägt. Die grundlegende These ist, dass die Macht- und Anreizstrukturen der kapitalistischen Moderne und ihre Steuerungsmechanismen Lösungen zu den globalen Problemen des Klimawandels blockieren. Dies wird in neun Kapiteln in erster Linie empirisch mit dem Verweis auf zahlreiche Beispiele belegt. Gestützt werden die Verweise durch ein einfaches analytisches Modell, das die Wirkmacht des Geflechts aus Macht- und Anreizstrukturen zwischen Wirtschaft, Staat und Bevölkerung veranschaulicht.

Der Staat liefert beispielsweise den regulatorischen Rahmen für die Wirtschaft und kann im Gegenzug mit Steuereinnahmen rechnen. Die Unternehmen verfügen über eine enorme Handlungsmacht, die sich durch den Lobbyismus und die globale Reichweite des Wirtschaftssystems abzeichnet. Politische Entscheidung können dadurch aktiv beeinflusst werden, während Staat und Bevölkerung strukturell auf wirtschaftliches Wachstum angewiesen sind.

Da die Verflochtenheit der unterschiedlichen Handlungslogiken allein nicht ausreicht, um klären zu können, wie ein derartiges Versagen im Kampf gegen die Klimakrise auf allen Ebenen fortbesteht, ergänzt Beckert skizzenhaft drei kulturelle Transformationen: eine neue Definition des Verhältnisses von Mensch und Natur in der kapitalistischen Moderne, die Idee des Fortschritts und der fortwährenden Wohlstandssteigerung und eine Durchsetzung einer Moral des Individualismus.

In den Kapitel drei bis sechs führt Beckert für Wirtschaft, Staat und Konsumenten anschaulich aus, wie die verhängnisvollen Verflechtungen zum Scheitern im Kampf gegen die Klimakrise führen. Wenn es um das zögerliche Handeln des Staates in Sachen Klimaschutz geht, dann greift Beckert auch auf Probleme jenseits der Einflussnahme von Unternehmen zurück und führt aus, wie der langfristige Nutzen der Klimainvestitionen für die Bürger unerfahrbar bleibt und zudem einkommensschwächere Haushalte überproportional belastet. Er spricht im Folgekapitel die Ausbeutung des globalen Südens und die Fortschritts- und Zukunftsversprechen der Wirtschaft an. Auch koloniale Muster und deren Folgen der Naturzerstörung werden hier erkennbar. Eine grundlegende Umgestaltung des globalen Wirtschaftssystems ist zwar unumgänglich – so die Schlussfolgerung – wird allerdings aufgrund der angeführten Verflochtenheit der Handlungslogiken nicht eingeleitet. Die Verflochtenheit zeigt sich auch an dem Anteil des Privatkonsums an der Wirtschaftskraft, der in Deutschland etwas mehr als die Hälfte der Wirtschaftsleistung ausmacht und in den USA über zwei Drittel. Das wiederum führt zu einer Verantwortungsverlagerung auf individuelle Konsumententscheidungen, die – eingebettet in eine politische Ökonomie des Wachstums – kaum zu einer Lösung des Klimaproblems beitragen können.

Die Klimakrise wird sich weiter zuspitzen und massive wirtschaftliche, politische und soziale Verwerfungen mit sich bringen. Der zivilisatorischen Zusammenbruch, für den beispielsweise Rupert Read und Samuel Alexander in Diese Zivilisation ist gescheitert (Meiner, 2020) argumentieren, sieht Beckert dennoch nicht kommen. Viel Leid, extreme Ungleichheit und eine insgesamt ärmere Welt werden die Folge des kapitalistischen Systems sein, für das – aller Widersprüche zum Trotz – kein Ende in Sicht ist, denn die Klimakrise ist für Beckert keine Wirtschaftskrise. Neue Geschäftsmöglichkeiten lassen sich zynischerweise auch unter diesen Bedingungen finden.

Eine Kehrtwende, d.i. eine schnelle Reduzierung der verschiedenen Ressourcenbelastungen unter die planetaren Grenzen, ist unter den gegebenen Bedingungen des Wachstumsimperativs der Wirtschaft kaum möglich. Dem grünen Wachstum gegenüber zeigt sich Beckert nachvollziehbar skeptisch. Geoengineering-Maßnahmen sind mit einem schier unumstößlichen Optimismus verbunden. So ist beispielsweise die CO2-Entnahme in den 2-Grad-Szenarien des UNO-Klimarates bereits fest einberechnet, obwohl es an konkreten Umsetzungsplänen für eine globale Entnahme fehlt und die bisherigen Entwicklungen nicht darauf hindeuten, dass sich daran etwas ändern würde.

Beckerts Arbeit entfaltet ihre Stärken in der sachlichen und schlüssigen Schilderung der gesellschaftlichen Problemlage zur Klimakrise und bietet einen Einblick in die systemischen Barrieren an, die nachhaltiges Handeln so erschweren. Es wird schonungslos herausgearbeitet, warum der Klimawandel ein „tückisches“ Problem ist.

Wer bereits mit den einschlägigen Arbeiten dieses Diskurses, auf die Beckert fundiert zurückgreift, vertraut ist, könnte enttäuscht sein, hier nicht viel Neues vorzufinden. Die theoretische Analyse zentraler Begriffe (Kapitalismus, Macht, Konsum) verbleibt recht oberflächlich, was zu einer Vereinfachung komplexer Zusammenhänge und folglich auch zu wenig konkreten Lösungsansätzen führt. Das Buch ist dennoch als ein Einstieg in die Problemlage zu empfehlen.

Schubert – Lob der Identitätspolitik

Karsten Schubert

Lob der Identitätspolitik

br., 223 Seiten, 20,– €, C. H. Beck Verlag, München 2024

von Paul Stephan

Die Debatte um „Identitätspolitik“ hat derzeit keine so starke Konjunktur wie noch vor einigen Jahren. Die wesentlichen Argumente, so der Eindruck, liegen auf dem Tisch und die gesellschaftliche Debatte widmet sich verstärkt womöglich drängenderen Fragen. Der entscheidende Wendepunkt war wohl die Corona-Krise, gefolgt vom Ukraine-Krieg. Freilich dürfte es sich dabei nur um einen vorübergehenden Waffenstillstand, nicht um ein Ende des Konflikts handeln; denn zu den Themen dieser Debatte wurde mitnichten ein breiter Konsens gefunden – sie werden uns also vermutlich früher oder später erneut einholen.

Insofern kommt Karsten Schuberts Monographie Lob der Identitätspolitik womöglich ein wenig zu spät – vielleicht aber auch zur richtigen Zeit, in der die (relative) Stille zum Anlass genommen werden kann, inne zu halten und zu fragen: Was ist in den letzten Jahren in Sachen „Identitätspolitik“ eigentlich genau passiert? Was hat sie uns gebracht? Sollte sie unverändert fortgesetzt werden – oder lieber nicht?

Der Titel des Buches wie seine Kernthesen haben indes das Potential, sogar Befürworter der „Identitätspolitik“ zu provozieren. Denn oft wird von denen, die als solche von außen bezeichnet werden, geleugnet, dass es „Identitätspolitik“ oder verwandte Phänomene wie political correctness, cancel culture oder wokeness überhaupt gibt. Offene Verteidigungen der Identitätspolitik sind selten. Indem sich Schubert so dezidiert zur Identitätspolitik bekennt, gelingt ihm eine Öffnung der Debatte, die wir dringend benötigen.

Sehr unverstellt gesteht Schubert zudem ein, was von denjenigen, die Identitätspolitik betreiben – wie gesagt: oftmals nicht in der Selbstbeschreibung –, geleugnet oder zumindest relativiert wird: Identitätspolitik ist kein Nullsummenspiel in dem Sinne, dass sie niemandem etwas wegnehmen würde. Sie nimmt vielmehr Menschen, die sich in „privilegierten“ Positionen befinden, etwas weg und verteilt Privilegien um. Der vehemente Widerstand gegen die Identitätspolitik ist aus Schuberts Sicht also keine Überraschung, sondern der erstmal nachvollziehbare Kampf um die Verteidigung bisheriger Privilegien, die man zu Recht als gefährdet ansieht. Auch in dieser Hinsicht ist Schubert seine ehrliche Herangehensweise hoch anzuerkennen, zumal sie seine Argumentation ja nur stärkt.

Das Buch ist zwar als Monographie erschienen, doch eigentlich ist es in weiten Teilen eine Zusammenstellung diverser Fachartikel, die Schubert in den letzten Jahren zu diesem Themenkomplex publiziert hat. Dies merkt man ihm leider beim Lesen an. Nicht nur ist es stellenweise repetitiv, stilistisch bewegt es sich auch sehr in einem akademischen Duktus. Dies bringt natürlich den Vorteil der Versachlichung der oft hitzig geführten Diskussion mit sich, doch abgesehen davon, dass es bisweilen etwas ermüdend ist, Schuberts sehr kleinteiligen Ausführungen zu folgen, könnte man in diesem sehr um Sachlichkeit bemühten Stil auch eine Methode erkennen: Man macht sich unangreifbar dadurch, dass man ein –scheinbar – in sich geschlossenes Gedankensystem konstruiert, in dem jeder mögliche Einwand dem Anspruch nach schon reflektiert und beantwortet wird. Die Zielgruppe des Buches dürfte vor diesem Hintergrund vor allem ein akademisches Publikum sein oder akademisch gebildete Funktionäre von sich für identitätspolitische Themen engagierenden Institutionen, die sich seiner Argumente und Begriffe in der öffentlichen Debatte bedienen können; ein breites Publikum oder gar erklärte Gegner der Identitätspolitik dürfte es jedoch nicht erreichen. Es belehrt eher, als dass es zu überzeugen versucht – und wer möchte schon belehrt werden? Es ist ein Buch für Bürokraten – womit womöglich schon auf ein zentrales Problem der realexistierenden Identitätspolitik verwiesen ist.

Wie möchte Schubert die Identitätspolitik nun angesichts der Tatsache verteidigen, dass sie eben durchaus Freiheitsverluste bedeutet, in manchen Fällen vielleicht sogar für sehr viele Menschen, die große Mehrheit der Bevölkerung? Schuberts entscheidender Zug besteht darin, den Begriff der „Demokratie“ umzudefinieren im Rekurs auf die poststrukturalistische „radikale Demokratietheorie“ – d. h. vor allem auf Foucault und sogar, ausgerechnet, auf Nietzsche. Im Sinne dieses „radikalen“ Begriffs von Demokratie gehe es um eine „Demokratisierung der Demokratie“ (8). Es sei daher zu hinterfragen, wer eigentlich Teil des demokratischen dêmos sei, und wer sich in welcher Position am demokratischen Diskurs beteiligen könne. Eine echte Demokratie sei nur erreicht, wenn letztlich alle Menschen Teil des dêmos sind und gleichberechtigt an diesem Diskurs teilhaben können.

Identitätspolitik definiert Schubert als genau die Bewegung zu einer solchen Demokratisierung. Er unterwirft sie also einem universalistischen Maßstab und versucht dadurch, Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, die ihr Partikularismus vorwerfen. Er unterscheidet allerdings zwischen wirklicher Identitätspolitik, die den Prozess der Demokratisierung auch tatsächlich voranbringt, und bloß partikularer Interessenpolitik, die ihn im Gegenteil blockiert, hemmt oder gar umzukehren versucht. Auch autoritäre und undemokratische Formen der Identitätspolitik kritisiert Schubert vor diesem Hintergrund, auch wenn er diese unterm Strich als „Einzelfälle“ abtut und vor allem immer wieder – und dies ist im Wesentlichen sein „Linksnietzscheanismus“ – betont, dass es bei der Identitätspolitik nun einmal um Macht gehe, und die unterdrückten Minderheiten keine andere Möglichkeit hätten, als die ihnen angetane Gewalt durch eine mitunter gewaltvolle Machtpolitik zu beenden.

Vor diesem Hintergrund beschreibt Schubert Demokratisierung als einen unendlichen Prozess, bei dem es immer wieder darum gehe, dass bisher unterdrückte Minderheiten das ihnen zustehende Maß an Mitsprache erhalten und die Institutionen sich dadurch verändern. Identitätspolitik drohe vor diesem Hintergrund freilich auch – wie Schubert am Beispiel des „transexkludierende(n) radikale(n) Feminismus“ (169) diskutiert – immer wieder in Interessenpolitik umzukippen, wenn sie sich mit einem bestimmten Niveau an Demokratisierung begnügt und nicht die Anliegen immer neuer unterdrückter Gruppen einbezieht.

Dieser Begriff von Identitätspolitik ist nun sehr weit. Schubert begreift sogar den marxistischen Klassenkampf als eine Form derselben (vgl. 25) und wirbt am Ende des Buches für eine identitätspolitische ‚Neuentdeckung‘ des Klassenkampfs: Die Antwort auf die linke Kritik an der Identitätspolitik bestehe also nicht in weniger, sondern in mehr Identitätspolitik (vgl. 183-187).

Diese Bezugnahme auf Marx überzeugt ebenso nur bedingt wie die auf Nietzsche. Was Nietzsche angeht, gesteht er selbst zu, dass es ihm eher um eine lose Anknüpfung aus der Brille der poststrukturalistischen Nietzsche-Interpretation geht (vgl. 69). Was Marx betrifft, liegt der Einwand nahe, ob die Analogisierung ökonomischer und kultureller Unterdrückungsverhältnisse wirklich aufgeht. Marx ging davon aus, dass die ökonomische Unterdrückung des Proletariats die Wurzel aller Unterdrückungsverhältnisse ist und das „Proletariat“ die übergroße Mehrheit der Bevölkerung moderner kapitalistischer Gesellschaften umfasst. Wenn Arbeiter sich um höhere Löhne oder gar um die Aneignung der Produktionsmittel bemühen, scheint das ein völlig anders gearteter Kampf zu sein als derjenige für Gendersprache oder geschlechtsneutrale Toiletten.

Der Haupteinwand gegen Schuberts detailliert ausgearbeitete und an vielen Stellen wirklich erhellende Konstruktionen dürfte jedoch darin liegen, dass sie mitunter wie „bloß theoretische Gedankenblasen“ (167) wirken, die mit der realexistierenden Identitätspolitik und ihren Problemen wenig zu tun haben. Auch wenn Schubert, wie erwähnt, eingesteht, dass es problematische Formen der Identitätspolitik gibt und er dieser keine „carte blanche“ (167) ausstellen möchte, wagt er sich doch selten an die Diskussion konkreter „Einzelfälle“ (166) bzw. fallen seine spärlichen Ausführungen dazu eher apologetisch aus.

So übernimmt er den schon erwähnten Begriff des „transexkludierende(n) radikale(n) Feminismus“, kurz: TERF, der oft jedoch als beleidigend wahrgenommen wird. Immer wieder wird darauf hinwiesen, dass er ähnlich wie ‚turd‘, deutsch: Scheißhaufen, klingt, und er wird im aktivistischen Sprachgebrauch auch immer wieder als Schimpfwort verwendet. Schubert tut so, als handele es sich um einen völlig neutralen wissenschaftlichen Begriff und spricht zwar von einer „regelrecht hasserfüllt[en]“ (170) Debatte, doch meint er damit ausschließlich die feministische Kritik am queeren Feminismus, nicht aber die zahlreichen Fälle von Beschimpfungen, Mobbing bis hin zu physischer Gewalt, die sich mitunter seitens „Trans-Aktivist*innen“ gegen ihre Kritiker richtet.11

Ein wenig komisch ist es auch, wenn Schubert dann die Diskriminierung von Radfahrern gegenüber Autofahrern als Beispiel für den identitätspolitischen Kampf zwischen Privilegierten und Unterdrückten anführt (vgl. 55). Zwar mag es sein, dass Autofahrer aus physischen Gründen im Straßenverkehr strukturell privilegiert sind; doch die Mehrzahl der Autofahrer dürften unterprivilegierte Lohnarbeiter mit Familie sein, die auf ihr Auto angewiesen sind – von Krankenwägen, Polizeiautos, Lieferfahrzeugen etc. abgesehen –; Radfahrer hingegen sind vielfach Studierende oder Angestellte, die das Privileg haben, nah an ihrem Arbeitsort zu wohnen und sich in ihrer Arbeit körperlich nicht allzu sehr verausgaben zu müssen.

Diese Beispiele zeigen, dass es kompliziert wird, wenn es um Identitätspolitik in ihrer empirischen Konkretion geht. Insbesondere ist oft nicht klar, wer denn nun eigentlich privilegiert ist und wer nicht, und wie sich das überhaupt klar bemessen lässt bzw. wer berufen ist, diese Bemessung vorzunehmen. Es ist dies eine Sache spezifischer Konstellationen und Situationen. Schubert wirft dieses Problem an mehreren Stellen seines Buches selbst auf, doch scheint er dessen Tragweite deutlich zu unterschätzen. Denn in Wahrheit gibt es ‚die Privilegierten‘ nicht, gegen die das identitätspolitische Anliegen von der ‚Bremse‘ woker Aktivisten angetrieben werden müsse, die ‚die Unterdrückten‘ repräsentieren, sondern es gibt eine Vielzahl in unterschiedliche Machtgefüge eingebundener Individuen.

In dieser Vielfalt schafft Identitätspolitik künstliche Teilungen, die oftmals zu der grotesken Situation führen, dass (relativ) privilegierte Akademiker mit gut bezahlten Jobs, die sie in vielen Fällen genau ihrem Aktivismus verdanken, Arbeiter und Arbeitslose mit erhobenem Zeigefinger darüber belehren, wie privilegiert und wohlbetucht sie in Wahrheit doch seien, und dass sie unbedingt diesen oder jenen Verzicht leisten sollten. Dass dies bei den Adressaten nicht gut ankommt, ist sonnenklar.

Das Kernproblem des Buches aber ist das Demokratieverständnis Schuberts, auf dem seine gesamte Argumentation fußt. Das wird deutlich, wenn er darüber spricht, wie er sich die Demokratisierung von kulturellen Institutionen wie dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk konkret vorstellt. In diesen soll es nicht darum gehen, die Mehrheit der Bevölkerung zu repräsentieren – was unter Umständen das Gegenteil dessen bewirken würde, was Schubert sich wünscht –, sondern den Anliegen diverser Minderheiten ein größeres Gehör zu verschaffen: „marginalisierte Gruppen [sollen] eine Stimme bei Mittelallokation und Programmgestaltungen haben und besser in Rundfunkräten repräsentiert“ (89) werden. Dass derartige Maßnahmen von denen, die diese Institutionen durch Gebühren, Steuern oder Eintrittsgelder finanzieren, als autoritär wahrgenommen werden und zu einer noch größeren Entfremdung von ihnen führen dürfte – bis hin zur Option für offen rechtsradikale Parteien –, wird von Schubert in Kauf genommen.

Dass sie also – vor dem Hintergrund des gewöhnlichen Demokratiebegriffs – notwendig als undemokratisch und autoritär erscheint, ist das eigentliche Problem nicht nur der von Schubert konzipierten Identitätspolitik, sondern auch das einer Demokratie, die nicht in der Repräsentation und Teilhabe der Mehrheit der Bevölkerung an den sie betreffenden politischen Entscheidungen besteht, sondern als eine Art Diktatur ‚diverser‘ Minderheiten über die Bevölkerungsmehrheit. Auch Marx und Engels sprachen bekanntlich von der „Diktatur des Proletariats“; doch dieses Problem stellte sich ihnen, jedenfalls in der Theorie, nicht, da das zu befreiende Proletariat ja per definitionem die übergroße Bevölkerungsmehrheit war.

Es ist nicht so, dass Schubert nicht einen tatsächlich blinden Fleck im gewöhnlichen Demokratiebegriff aufzeigen würde, der ja stets die Gefahr einer ‚Diktatur der Mehrheit‘ impliziert. Der liberale Kompromissvorschlag bestand daher darin, diese Diktatur durch die Gewährung verfassungsmäßig garantierter und durch Mehrheitsbeschlüsse kaum zu ändernder individueller Freiheitsrechte zu verhindern. Es wurden so, zumindest im Privaten, Schutzräume für die Minderheiten möglich. Doch dieser Kompromiss ist in der Tat faul; denn er gerät regelmäßig ins Wanken, wenn Entscheidungen zu fällen sind, die alle betreffen und daher als gemeinsame gefällt werden müssen: So etwa die Fragen, welche Art von Grammatik in den Schulen gelehrt oder wie das Programm des öffentlichen Rundfunks gestaltet werden soll.

Hierin scheint mir das eigentliche Problem zu liegen. So dürften nur wenige ein Problem damit haben, wenn schwule oder queere Menschen ihren Lebensstil im Privaten pflegen oder Feministinnen unter sich ‚gendern‘. Die Streitfragen tauchen auf, wenn es um Entscheidungen geht, die ihrer Natur nach nicht durch liberale Kompromisse zu schlichten sind, sondern bei denen entweder die ‚privilegierte‘ Mehrheit oder die ‚unterdrückten‘ Minderheiten entscheiden müssen (die freilich auch kein geschlossenes Kollektiv bilden und sich oftmals untereinander widersprechen).

Um zu vermeiden, dass Gesellschaften – und nicht zuletzt die emanzipatorischen Bewegungen – sich angesichts solcher Fragen spalten, führt wohl kein Weg daran vorbei, die Demokratie ‚konventioneller‘ zu denken, als Schubert es vorschlägt: Es müssen Kompromisse gefunden werden, mit denen möglichst viele Menschen leben können. Dabei muss es zugleich darum gehen, diejenigen Fragen nicht aus den Augen zu verlieren, bei denen man sich einig ist und die tatsächlich in der Lage sind, große gruppenübergreifende Allianzen zu schmieden. Dies aber sind die ökonomischen und ökologischen Fragen, nicht die kulturellen. Dann aber würde gälten, die Identitätspolitik, die sich primär auf kulturelle Fragen bezieht, hinter sich zu lassen und den Kampf um ökonomische und ökologische Anliegen nicht durch die Fokussierung auf solch potentiell spalterische Fragen zu demontieren. Dies aber ist nicht nur eine Frage der politischen Theorie, sondern vor allem der Machtpolitik, von der auch Schubert wiederholt spricht.

Umgekehrt kann eine Identitätspolitik, die sich gegenwärtig überwiegend als autoritäre Minderheitspolitik darstellt, auf lange Sicht nur scheitern und, wie Schubert auch anerkennt, nicht weniger autoritäre Gegenreaktionen provozieren. Die Kernfrage einer identitätspolitischen Strategie müsste folglich sein, wie genau man identitätspolitische Forderungen der ‚privilegierten Mehrheit‘ schmackhaft machen kann. Auch wenn Schubert einfordert, dass die Mehrheit doch in das Lob der Identitätspolitik einstimmen müsse, bleibt es bei ihm letztlich doch beim moralischen Appell, der dann zur Not eben auch mit machtpolitischen Mitteln durchgesetzt werden muss. Die Alternative zur aktuellen Identitätspolitik wäre auch hier, sich auf die Forderungen zu konzentrieren, die den ‚Privilegierten‘ wie den ‚Minderheiten‘ gleichermaßen zu Gute kommen: bessere Arbeitsbedingungen, bessere Wohnsituationen, Kampf gegen Naturzerstörung …

Eine andere Weise könnte in der ‚Demoralisierung‘ des identitätspolitischen Kampfes und der Erfindung einer Emotionalisierung bestehen, die in der Lage ist, auch Mitglieder der ‚Privilegierten‘ mitzureißen, sie von identitätspolitischen Forderungen nicht nur abstrakt zu überzeugen, sondern zu begeistern. Hier sind Kunst und eine gekonnte identitätspolitische Essayistik gefragt. In dieser Hinsicht enttäuscht Schuberts Buch leider – es thematisiert diesen Aspekt nicht nur am Rande, ihm gelingt es auch nicht, dafür eine entsprechende Form zu finden. Sein „Lob“ der Identitätspolitik fällt für eine Laudatio sehr nüchtern aus. Es müsste mehr als ein anerkennendes Schulterklopfen sein, sondern eine stürmische Umarmung, die einer vertieften Demokratisierung, wie sie Schubert zu Recht fordert, vorarbeitet. Vielleicht könnte hierbei Nietzsche helfen – nicht als kühler Analytiker der Macht, sondern als Visionär des „Übermenschen“. Identitätspolitik vermag die Massen nur zu ergreifen, wenn sie sich nicht kalt als bürokratisch-autoritäre Umverteilung präsentiert, sondern als ästhetisch-kreative Erfindung einer neuen Gesellschaft.

Diese Gedanken sind freilich nicht neu. Vielmehr müsste Identitätspolitik sich einfach nur auf historische Erfolge rückbesinnen. Wohl kaum eine Rede hat für die Emanzipation der schwarzen Bevölkerung der USA mehr bewirkt als Martin Luther Kings Ansprache I have a dream, in der King in einer mitreißenden religiösen Sprache eine unzweideutig universalistische Vision einer Gesellschaft ohne Rassismus artikulierte. Sein Aktivismus bezog sich stets jedoch nicht nur auf Forderungen des Bürgerrechts, sondern auch auf soziale Rechte. Zudem haben Musik, Literatur, Filme etc. zum Erfolg der antirassistischen Bewegung beigetragen.

In diesem Sinne ginge es also um eine vom Ressentiment befreite Emotionalisierung des Kampfs für identitätspolitische Forderungen, die den „Hass“, mit dem Identitätspolitik oft vorgetragen wird und den sie umgekehrt provoziert, überwindet, um wieder zu einem gemeinsamen linken Projekt zurückzufinden, das nicht als eine autoritäre, phantasielose, hasserfüllte und kleinkarierte Nischenpolitik, sondern als „selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl“ wahrgenommen wird. Einem solchen Lob der Identitätspolitik kann ich mich gern anschließen.

Man denke an Jan Böhmermanns Sendung vom 2.12.22, in der er „TERFs“ nicht nur als „Scheißhaufen“, sondern auch „Nazis“, „dumme Wichser“ und vieles Weitere bezeichnete, und er dafür sogar noch von der Familienministerin Lisa Paus und ihrem Staatssekretär öffentlich gelobt wurde. – Schubert verteidigt seinen Gebrauch des Begriffs „TERF“ auf 221 (Fn. 3). Dass etwa in der Auseinandersetzung mit der britischen Kritikerin des queeren Feminismus, Kathleen Stock, mitunter Grenzen der legitimen Auseinandersetzung überschritten wurden, gesteht er immerhin zu (223; Fn. 8).


  1. Man denke an Jan Böhmermanns Sendung vom 2.12.22, in der er „TERFs“ nicht nur als „Scheißhaufen“, sondern auch „Nazis“, „dumme Wichser“ und vieles Weitere bezeichnete, und er dafür sogar noch von der Familienministerin Lisa Paus und ihrem Staatssekretär öffentlich gelobt wurde. – Schubert verteidigt seinen Gebrauch des Begriffs „TERF“ auf 221 (Fn. 3). Dass etwa in der Auseinandersetzung mit der britischen Kritikerin des queeren Feminismus, Kathleen Stock, mitunter Grenzen der legitimen Auseinandersetzung überschritten wurden, gesteht er immerhin zu (223; Fn. 8). ↩︎