Chaouat – Ist Theorie gut für die Juden?

Bruno Chauoat

Ist Theorie gut für die Juden?

br., 439 Seiten, 30,00 €, Edition Tiamat, Berlin 2024

von Olaf Sanders

Bruno Chauoat legt ein wichtiges Buch vor, das von der Beobachtung ausgeht, dass gerade die Behauptung der Einzigartigkeit des Holocausts, die „die Besonderheit jüdischen Leids hervorheben sollte, … die Entjudaisierung des Holocausts in einem Maß befördert“ habe, so dass „nun jede Opfergruppe ihr Leid als einzigartig anerkannt wissen will. Der Anspruch auf Singularität des Holocausts birgt zugleich die Gefahr, diesen zu universalisieren und seiner historischen und moralischen Bedeutung zu berauben“ (40 f.). Der Holocaust relativiert sich in dieser Bewegung zu einem Holocaust unter anderen.

Das „französische Holocaust-Trauerspiel“, dem Chaouat vor allem seine Aufmerksamkeit widmet, sei in philosophischer Hinsicht durch ein Verständnis des Juden befördert worden, zu dem Denker wie Maurice Blanchot, Jacques Derrida und Jean-François Lyotard wesentlich beigetragen hätten, ohne dies freilich zu wollen. Es sei zudem „keine postmoderne Erfindung“ (42). Dennoch habe die spezifisch postmoderne Dialektik dieser Denker, so lässt sich mit Chaouat weiter folgern, den neuen Antisemitismus mit hervorgebracht, den er auch in den Arbeiten von Giorgio Agamben, Alain Badiou oder Judith Butler am Werke sieht. Der „neue Antisemitismus“, so Chauoat, „bediene sich selbst der Rhetorik des Antirassismus“ (44), wodurch dann die „mit Israel verbundenen Juden“ als „neue Rassisten und Neokolonialisten“ erscheinen. Als ‚gute Juden‘ gelten nur Juden in der Diaspora.

Für Chaouat – die englischsprachige Originalausgabe erschien bereits 2016 – markieren die Morde in Toulouse und Montauban an vier Fallschirmjägern, einem Rabbiner, zwei seiner Kinder sowie einem weiteren Kind im März 2012 einen Wendepunkt. Der 7. Oktober 2023 markiert fraglos einen weiteren. In Anspielung an ein Gedicht der avantgardistischen (jüdischen) Autorin Gertrude Stein schreibt er: „Ein Antisemit ist ein Antisemit ist ein Antisemit“ (63).

Ist Theorie gut für die Juden? gliedert sich in vier umfangreiche Kapitel, die von einem Vorwort zur deutschen Ausgabe, einem Prolog und einer Einleitung sowie einem Postskriptum mit Epilog eingerahmt werden. Sein Vorwort aus dem Jahr 2024 beendet Chaouat mit der Feststellung, dass das Ende der Theorie schlecht für Juden sei. Den Prolog überschreibt er mit Abschied von der Theorie, worin er sich als einstiger Doktorand Lyotards zu erkennen gibt, der mit seinem philosemitischen Buch Heidegger und die Juden „in die Falle einer abstrakten, universalistischen Interpretation des Judentums“ (17) geraten sei. Sie habe Maurice Blanchot mitkonstruiert, weil er jüdisch zu sein als „einen Zustand des Exils, des Nomadentums und des Leids“ (16) charakterisiert habe. Letztlich, so schließt Chaouat, der diese Beschreibung als Karikatur einer glücklichen Epoche kennzeichnet, sei die „jüdische Differenz irgendwie mit der Derrida’schen différance“ (25) zusammengefallen. Die glückliche Epoche der Theorie endet für Chaouat spätestens mit Enzo Traversos Buch Das Ende der jüdischen Moderne (2017, frz. 2013), das „Judenspalterei“ (26) betreibe wie Bulter in Am Scheideweg (2013), Badiou in Paulus (2002) oder Said in Orientalismus (1981/2009). Hier werde der Jude gespalten „in den universalistischen Gegner von Staatlichkeit einerseits und den partikularistischen Zionisten andererseits“ (26 f.). Genau diese oben bereits angedeutete Spaltung befördere Chaouat zufolge den neuen Antisemitismus, sie fungiert als die Leitdifferenz seines Buches.

Im ersten Kapitel widmet er sich „dem postheideggerianischen Denken und dem unerträglichen Vermächtnis Heideggers in Frankreich und anderswo“ (73). Darunter fasst er neben der „Dezentrierung des Subjekts“ auch „die Feier von Nomadismus und Deterritorialisierung“ (74). Chaouat erinnert daran, dass Gilles Deleuze die Palästinenser parteiergreifend in der Tageszeitung Libération „Indianer Palästinas“ genannt habe. Ausgehend von Frankreich blickt Chaouat auch nach Italien. In Agambens Dekonstrution des Begriffs ‚Volk‘ „verwandeln sich die einstigen Opfer des [deutschen] Reichs geradezu schematisch in die Henker der Palästinenser“ (122). Am Beispiel des von Gianni Vattimo und Michael Marder herausgegebenen Sammelbandes Deconstructing Zionism (2014) zeichnet Chaouat nach, wie der Band die Intentionen Derridas verkehrt, und beklagt die Unaufrichtigkeit, die für ihn darin liegt, „die Dekonstruktion in eine Kriegsmaschine gegen Israel zu verwandeln“ (139).

Im zweiten Kapitel untersucht Chaouat die von Georges Bataille, Jean Genet oder Marguerite Duras durch die Verwischung der Grenze von Tätern und Opfern eingeleitete moralische Wende, die in einen Moralismus geführt habe, der das Ergebnis der „Reduktion von Ethik auf Ideologie“ (174) gewesen sei. „Für den Menschen“, so Chaouat, „gibt es kein Jenseits der Menschheit“ (158). SS-Männer wie Klaus Barbie seien keine Über- und die KZ-Häftlinge keine Untermenschen gewesen. Wenn daher Agamben das Konzentrationslager zum Nomos der Moderne erklärt, dann mache er die Ausnahme zur Norm, und das Böse werde als Grenzüberschreitung gefeiert.

Das dritte Kapitel fragt nach den Effekten des colonial turn. Chaouat erinnert daran, dass Emmanuel Levinas schon 1968 davor gewarnt habe, die Situation von Fabrikarbeitern mit dem Holocaust zu vergleichen. Er zeichnet in diesem Kapitel nach, wie sich die Kämpfe gegen den Antisemitismus und gegen den Antirassismus immer weiter auseinanderentwickelt haben, beschleunigt durch den Algerienkrieg, aber auch die Anschläge vom 11. September 2001.

Im vierten Kapitel setzt Chaouat, ausgehend von einer Passage aus Philip Roths Buch Operation Shylock. Ein Bekenntnis, zur Kritik an den Arbeiten von Enzo Traverso, Judith Butler und anderen an. Dabei will er zeigen, dass das Ideal des marginalen, kritischen, subversiven und revolutionären Juden nichts anderes sei als eine narzistische Projektion. Schließlich verteidigt Chaouat Levinas gegen Butlers Fehllektüre.

Auch wenn das Buch sich vor allem auf die uns weniger geläufige Debatte in Frankreich bezieht, so gibt das Buch in vielerlei Hinsichten zu denken. Es wirft ein neues und sehr differenziertes Licht auf die so genannte french theory, die es, ihre Nebenwirkungen ausleuchtend, neu rahmt.

Stapelfeldt – Warum Krieg?

Gerhard Stapelfeldt

Warum Krieg? Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine und das Ende der Globalisierung

geb., 792 Seiten, 149,80 €, Verlag Dr. Kovač, Hamburg 2024

von Paul Stegemann

Die Einschätzungen und Beurteilungen des im Februar 2022 begonnenen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine gehen in der politischen Linken weit auseinander. So werden alte Interpretationsmuster aufgewärmt, die in einem antiimperialistischen Reflex USA und NATO als Schuldige ausmachen. Die Linke war schon immer gut darin, die fortgeschrittenste kapitalistische Macht und deren Hegemonie zum Feindbild zu erklären und sich unreflektiert auf die Gegenseite zu beziehen, mag diese noch so reaktionär sein. Aber auch die gegensätzliche Position, die Russland als autoritären Staat brandmarkt und den Westen als Hort der Freiheit und wertebasierte Demokratie darstellt, geht schnellen Schrittes über grundsätzliche Probleme hinweg. Beide Sichtweisen offenbaren eine mangelhafte Gesellschaftskritik, weil sie sich entweder historisch unreflektiert bei veralteten Interpretationsmustern bedienen oder auf einer ideologischen Ebene argumentieren und machtpolitische Positionen reproduzieren.

Der aktuelle Krieg Russlands gegen die Ukraine wäre vielmehr aus einer Selbstzerstörung der Globalisierung zu verstehen, so legt es Gerhard Stapelfeldt in seiner neuen Publikation dar. Die Explikation seiner Theorie der Dialektik der ökonomischen Rationalisierung (2014) ermöglicht es, die Entwicklungen hin zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht auf einer vordergründigen Ebene zu erklären. Ziel ist vielmehr eine genetische Aufklärung, die nicht individualisierend, psychologisierend oder marktpropagandistisch verfährt, sondern die globale Krise des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gesellschaftsgeschichtlich aufklären will. Dabei stehen insbesondere die Übergänge vom Staatsinterventionismus zum Neoliberalismus und innerhalb des letzteren die sich durchsetzende Globalisierung im Zentrum. Die dem zugrundeliegende Theorie Stapelfeldts kann kurz so zusammengefasst werden, dass die kapitalistische Produktionsweise in ihrem historischen Verlauf verschiedene Formen angenommen hat. Auf den Liberalismus, die bürgerliche Ökonomie in der Epoche der Aufklärung und des Insdustriekapitalismus (1765-1870/80) folgte der Imperialismus als Form, die die bürgerliche Ökonomie in der Epoche von Krise und Krieg annahm (1873-1918/29). Diese wiederum wurde durch den systemrationalen Staatsinterventionismus abgelöst (1929/33-1973/81), um schließlich nach 1973/81 in den Neoliberalismus überzugehen. Dieser historische Verlauf resultiert aus der krisenhaften Verfasstheit der kapitalistischen Gesellschaftsform. Die gegenwärtige Form des Kapitalismus ist seit der Weltwirtschaftskrise von 1973/75 die des neoliberalen Kapitalismus. Dieser ist nicht nur durch eine Politik der Liberalisierung und Privatisierung gekennzeichnet, sondern hat vor allem nach 1990 zu Prozessen geführt, die als „Globalisierung“ bezeichnet wurden. In dieser Zeit wurde der Systemgegensatz zwischen den geopolitischen Machtblöcken um die USA und die UdSSR durch den Zusammenbruch des „Ostblocks“ überwunden. Damit hat sich nicht nur der Aufstieg der USA zur weltweiten Führungsmacht fortgesetzt, sondern der Neoliberalismus konnte sich ab 1990 auch zur Weltwirtschaftsordnung verallgemeinern. In die Staaten des ehemaligen „Ostblock“ kam es zu schweren und tiefgreifenden Transformationsprozessen – zu krisenhaften Prozessen der Umstrukturierung dieser Staaten und deren Gesellschaften. Deren Eingliederung in die neoliberale kapitalistische Weltökonomie wird im allgemeinen Bewusstsein verkürzt als Globalisierung aufgefasst – und als Vorgang der ökonomischen und politischen Befreiung gefeiert. Es sollte ein globales Zeitalter des Friedens und der wirtschaftlichen Entwicklung anbrechen. Die Menschheit sollte – dem ideologischen Anspruch folgend – in einer Welt zusammengeführt werden. 1990/91 sprach der US-Präsident George Busch von einer „pax universalis“ und einer „New World Order“. Mit diesen Begriffen wurde in diesen Jahren ein System der globalen und kollektiven Sicherheit beschrieben, während die inneren Widersprüche des Neoliberalismus in solchen ideologischen Vorstellungen ausgeblendet wurden. Sie haben sich aber weiterentwickelt: „Die neoliberale Welt-Integration erwies sich als Einheit durch Desintegration. Kriege und Massenelend wurden in alten wie in neuen Formen reproduziert. Seit 2008 treten diese Krisen in immer schnellerer Folge auf. Die schöne Welt des Neuen Liberalismus offenbart sich seither als weltgeschichtlicher bellum omnium contra omnes“. Die Jahre zwischen 1989/91 und 2021/22 können als Epoche gelten, in der der Neoliberalismus seine Vollendung als Globalisierung erlangt hat – und damit aufgrund seiner inneren Logik auf seine Selbstzerstörung zutrieb. Mit der Vollendung der Globalisierung sind die äußeren Feinde und Gegenspieler, gegen die weltweite Antiterror-Kriege geführt wurden, weggefallen. Dieser Prozess der widerspruchsvollen Vollendung der Globalisierung kann, weil er weiterhin durch die unaufgeklärte neoliberale Logik der „spontanen Ordnung“ bestimmt ist, nur, so legt es Stapelfeldt dar, einen modifizierten neoliberalen Zustand hervorbringen. Dieser findet seinen Ausdruck in einer neoliberal gespaltenen Welt. Damit haben sich die inneren Widersprüche dieser Gesellschaftsordnung auf eine neue Ebene transponiert: Der Neoliberalismus basiert auf dem Dogma, dass der ökonomische Wettbewerb nur Sieger und Verlierer kennt; er fasst ihn als ein Verhältnis von Freund und Feind. Weil der Weltordnung so das neoliberale Freund-Feind-Verhältnis eingeschrieben ist, kann die Konsequenz eines solch universalisierten Neoliberalismus nur im Übergang in einen feindlichen Gegensatz zwischen neoliberalen Staaten bestehen: „Russland, dessen Eintritt in die Weltordnung des Neoliberalismus die Vollendung der Globalisierung erst begründete, vollzieht somit durch den Krieg gegen die Ukraine und die Androhung eines mit Nuklearwaffen geführten Weltkrieges die Zerstörung der Globalisierung. Die Föderation kündigt, durch den Krieg, ihre Integration in diese Welt der Neuen Freiheit auf und bringt dadurch die New World Order zum Einsturz“. Ist, so Stapelfeldts These, die Welt erst neoliberal vermeintlich geeint, muss ein neuer äußerer Gegensatz aufbrechen – und einen globalen Kriegszustand hervorbringen, in dem innergesellschaftlich die autoritären Tendenzen der neoliberalen Ideologie ihren Ausdruck in der Formierung von Volksgemeinschaften finden. Die Abgrenzung vom Fremden und die Homogenisierung des Eigenen gehen dabei ineinander.

Die Konsequenz der neoliberalen Welteinheit und der vollständigen Globalisierung ist daher der Fortgang zu einer entzweiten Welt, der zur Restitution des um 1990 überwunden geglaubten „klassischen Staatenkriegs“ führt. War die Zeit zwischen 1990 und 2022 durch Staatszerfalls- und Antiterror-Kriege bestimmt, findet mit dem militärischen Angriff Russlands auf die Ukraine ein Umbruch statt. Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine dokumentiert das Ende der „New World Order“ und vollzieht die Selbstzerstörung der Globalisierung. Darin liegt nach Stapelfeldt „die weltgeschichtliche Bedeutung dieses Krieges, durch die er sich unterscheidet von den zahllosen Kriegen, die nach 1945 weltweit geführt wurden“.

So kehrt als Resultat der politisch-ökonomischen Selbstdestruktivität nach Jahren der asymmetrischen Kriege der Staatenkrieg zurück. Die Welt teilt sich in neue disparate Lager und der globale Kriegszustand wird zum Normalfall. Während die Friedensillusionen der Globalisierung zerfallen, werden die Ökonomien und Gesellschaften wieder auf die neue Realität eines Kriegszustandes zwischen Staaten ausgerichtet. Damit aber erzwingt der Krieg die Abkehr von einer Weltwirtschaftsordnung, die allein der ökonomischen Logik des Kapitals folgte, hin zu einer Logik, die die Ökonomie sicherheitspolitischen und militärischen Imperativen unterstellt. So werden die Ökonomien und Gesellschaften militarisiert, und die ökonomischen Abhängigkeiten, die sich mit der Globalisierung und ihrer weltweiten Arbeitsteilung ergaben, werden gekappt. Der im Februar 2022 begonnene Krieg Russlands gegen die Ukraine markiert damit, so Stapelfeldt, einen epochalen Umbruch: Die Vollendung der Globalisierung, die Verallgemeinerung des Neoliberalismus zur Weltordnung, zerstört sich selbst und geht in einem globalen Kriegszustand über.

Der russische Angriffskrieg löst so die Weltwirtschaftsordnung des globalisierten Neoliberalismus auf. Der freie Verkehr von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräften wird nun unter sicherheitspolitische Imperative gestellt. Diese sind teilweise schon durch die Corona-Krise eingeleitet worden, aber nun wird der politisch-ökonomische Autoritarismus des Neoliberalismus, der sich schon seit 1973/75 in unzähligen Umstrukturierungen und Kriseninterventionen deutlich gezeigt hatte, in immer offenere autoritäre Versionen transformiert: Der Konformismus des Neoliberalismus formierte die Gesellschaften zu neoliberalen Volksgemeinschaften: Diese befinden sich nicht länger nur in ökonomischer Konkurrenz; vielmehr geht dieser Konkurrenzkampf zunehmend in einen offenen Krieg aller gegen alle über, in einen Zustand, in dem sich nationale Kollektive wieder im Kriegszustand gegenüberstehen. Dies zeigt sich auch an den autoritären und mitunter wieder faschistischen Tendenzen, die weltweit an politischem Einfluss gewinnen.

Gegen diese Entwicklung ist die Kritik und Reflexion, so hilflos sie auch angesichts der überwältigenden Realität ist, gerichtet. Daher müsse sich die Aufklärung über die gesellschaftsgeschichtlichen Hintergründe dieses neuen Kriegszustands, so Stapelfeldt, mit der Frage „Warum Krieg?“ beschäftigen: „Eine dialektische Theorie der Gesellschaft hat die notwendig utopisch auf die bewußtlosen Verhältnisse der Weltgesellschaft, der kriegsführenden und in den Krieg involvierten nationalen Gesellschaften gerichtete Frage: Warum Krieg? als Frage nach den inneren Verhältnissen der kriegsführenden sowie der in den Krieg involvierten Staaten, die sich in den Kriegen als deren Außenverhältnis spiegeln, aufzuklären. In Kriegen manifestiert sich ein innen- und außengerichtetes Freund-Feind-Verhältnis von Gemeinschaften“. Ziel bleibt die Aufklärung, das „Bewußtwerden der Ursachen von Kriegen als Begründung einer vernünftigen Hoffnung auf ewigen Frieden“. Kritik und Reflexion richten sich gegen die Hoffnungslosigkeit und Zumutungen des neoliberalen Zeitalters. Diese gesellschafts- und ökonomiegeschichtliche Aufklärung stellt eine bedeutende Leistung dar.

Stapelfeldt klärt Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine durch seine Analyse der gesellschaftsgeschichtlichen Epoche auf, die diesen Krieg hervorbringt. Das umfangreiche Buch formuliert eine Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse, die zugleich von der Hoffnung lebt, durch sie die Aussicht auf eine Utopie des Friedens zu ermöglichen. Das Ende der Globalisierung hingegen sieht er als den Beginn einer Epoche, in der autoritäre Staaten sich in einem globalen Kriegszustand gegenüberstehen und wieder offen zwischenstaatliche Kriege geführt werden. Das Buch Warum Krieg? ist so eine umfassende Kritik dieses Epochenwechsels.

Lotter – Realer Humanismus

Konrad Lotter

Realer Humanismus. Eine geschichtliche Betrachtung

Pb., 270 Seiten, 25,- €, Mangroven-Verlag, Kassel 2024

von Reinhard Jellen

Humanistische Gedanken und Überzeugungen stehen gegenwärtig nicht gerade hoch im Kurs. Die Utopie einer Gesellschaft, in der jeder Einzelne „in Gemeinschaft mit Anderen“ die eigenen Anlagen „nach allen Seiten hin ausbilden kann“, so wird eingewandt, habe der Realität nicht standgehalten. Sie sei von der geschichtlichen Entwicklung überholt. Zur Begründung werden dabei vor allem drei Argumente ins Feld geführt. Erstens erfordere die Arbeitsteilung eine zunehmende Spezialisierung und damit eine einseitige Ausbildung der eigenen Fähigkeiten. Wer weiterkommen wolle, brauche keine Bildung, sondern eine solide Ausbildung, die sich an den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts orientiert. Zweitens hätte durch die Konformität des Konsums, der medialen Information oder der Kommunikation eine Nivellierung auch der Menschen stattgefunden. Die Massengesellschaft hätte Massenmenschen hervorgebracht, deren Persönlichkeitsentwicklung außen- und fremdbestimmt sei. Mitunter wird sogar vom „Verschwinden“ des Menschen gesprochen, dessen individuelle Konturen sich auflösten „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“. Drittens habe sich die Technik dem Menschen gegenüber verselbständigt und Macht über ihn gewonnen. Durch die Verschmelzung von Info- und Biotechnologie sowie die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz sei der Mensch zu einem weithin fremdbestimmten und manipulierten Wesen erniedrigt worden. Post- und Transhumanismus haben sich zuletzt die „Überwindung“ des Menschen und die Erzeugung eines „Übermenschen“ zum Ziel gesetzt.

Eine Stärke von Konrad Lotters Buch liegt darin, dass es diese Argumente nicht nur aufgreift und ernstnimmt, sondern auch in ihrer eigenen Dialektik darstellt. Aus den vermeintlichen Grenzen des Humanismus werden auf diese Weise Übergänge zu neuen, erweiterten Formen des Humanismus. Erst die Teilung der Arbeit nämlich offenbart die vielfältigen Potenzen des Menschen und erzeugt die Möglichkeit, sich in verschiedensten Bereichen zu versuchen und ein reiches Leben zu leben. Erst die technischen Fortschritte haben die Entlastung der Menschen ermöglicht, die von der Arbeit freigestellt die Verwirklichung ihrer Anlagen auch „als Selbstzweck“ betreiben können. Und auch die „Masse“ muss nicht nur als Verlust, sondern auch als Vorstufe einer (neuen) Humanität begriffen werden, in der die Menschen solidarisch ihre gemeinsamen Interessen durchsetzen können.

Eine andere Stärke des Buches liegt in seinen klaren Begriffen und Aussagen. Im Fortschritt des klassischen Humanismus zur Zeit der Renaissance und der Goethezeit zum realen Humanismus, den Marx in Auseinandersetzung mit Hegel, den Junghegelianern und Feuerbach entwickelt, so wird gezeigt, vollzieht sich ein mehrfacher Wechsel der Perspektive. Aus der Kritik an der Religion wird die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Nicht mehr an der idealisierten Antike orientiert sich der reale Humanismus, sondern an den geschichtlichen Möglichkeiten, die sich durch den Grad der Naturbeherrschung und den gesellschaftlichen Reichtum eröffnen. Aus der Bildung einzelner Individuen, einer Elite von Humanisten jenseits der „Masse“, entsteht die Forderung nach menschlichen Institutionen, die nicht nur allen Menschen die gleichen Chancen einräumen, sondern auch Frieden mit der Natur geschlossen haben. Was den realen Humanismus zuletzt von den früheren Formen des Humanismus unterscheidet, ist seine praktische Ausrichtung: dem „kategorischen Imperativ“, alle Verhältnisse zu beseitigen, die die Menschen fremdbestimmen und ihre menschliche Würde verletzen.

Etwas abschreckend an Lotters Buch könnten die vielen Bezüge auf philosophische, soziologische, ökonomische und psychologische Werke sein, auf die sich seine Argumentationen stützen. Wer sich von diesem par force-Ritt durch die Geistesgeschichte nicht einschüchtern lässt und sich darauf einlässt, wird das Buch mit Gewinn studieren.

Eilenberger – Geister der Gegenwart

­Wolfram Eilenberger

Geister der Gegenwart. Die letzten Jahre der Philosophie und der Beginn einer neuen Aufklärung

geb., 492 Seiten, 28.- €, Klett-Cotta, Stuttgart 2024

von Konrad Lotter

Unter dem Titel Geister der Gegenwart präsentiert Wolfram Eilenberger eine weitere Philosophiegeschichte der besonderen Art. Zum einen beginnt seine Erzählung 1948, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und endet bereits im Jahr 1984, umfasst also noch nicht einmal die Epoche der Nachkriegszeit, die erst 1989 endet. Die gewählte Zeitspanne wird (nicht ganz einsichtig) durch die Rückkehr Adornos aus dem kalifornischen Exil nach Frankfurt einerseits und den Tod Foucaults andererseits begrenzt. Zudem gehört die Epoche, die als „Gegenwart“ vorgestellt wird, schon seit über 40 Jahren der Vergangenheit an, auch wenn diese „Geister“ in der Gegenwart immer noch herumspuken und die Sekundärliteratur bevölkern. Zum anderen werden die genannten 36 Jahre nicht linear, als Kontinuum erzählt, sondern in der Abfolge von vier Sprüngen und den Stationen oder „Zuständen“ in den Jahren 1948/50, 1957/58, 1968/69 und 1984. Schließlich konzentriert sich Eilenberger, wie schon in seinen Büchern Zeit der Zauberer (mit Heidegger, Cassirer, Benjamin und Wittgenstein) und Feuer der Freiheit (mit Simone de Beauvoir, Hannah Arendt, Simone Weil und Ayn Rand) auf vier „Leitgestalten“, die zwar in ihrem theoretischen Umfeld, aber doch wesentlich als Individuen gewürdigt werden: Theodor W. Adorno, Michel Foucault, Susan Sontag und Paul Feyerabend. Obwohl sie nicht der gleichen Generation angehören, in keiner persönlichen Beziehung zueinanderstehen und auch in ihren Theorien und in ihrem Leben ganz verschiedene Wege eingeschlagen haben, stellt sie Eilenberger als „beispielhafte Verkörperungen eines Lebens im Sinne der Aufklärung“ vor: als die wahren Nachfolger von Kant und seiner Aufklärungsschrift.

Als Adorno nach Frankfurt zurückkehrt, ist zumindest eines seiner Hauptwerke bereits veröffentlicht. In der mit Horkheimer gemeinsam verfassten Dialektik der Aufklärung hat er sich von Marxʼ politischer Ökonomie, die die Grundlage der Kritischen Theorie der Vorkriegszeit gewesen war, verabschiedet. Ähnliche Abgrenzungen werden von Eilenberger auch bei den anderen „Leitgestalten“ angedeutet, die zur selben Zeit noch Studenten waren. Foucault folgt weder seinem marxistisch orientierten Freund Louis Althusser noch Jean-Paul Sartre, der gerade dabei ist, seinen Existentialismus als „Moment“ in die Marxsche Gesellschaftstheorie aufzuheben. Feyerabend schließt sich während der Alpbacher „Hochschulwochen“ an Karl Popper und Friedrich August von Hayek an, die das Projekt einer „offenen Gesellschaft“ auf der Grundlage einer neoliberalen Wirtschaftspolitik verfolgen und sich von den sozialistischen und austro-marxistischen Mitgliedern des „Wiener Kreises“ (Neurath, Carnap) losgesagt haben. Eilenberger nennt zwar die Fakten, stellt aber keine Verbindung zur Ideologie des Kalten Krieges her, der sich die Philosophen gleichermaßen unterordneten und den Marxismus mehr oder weniger mit der stalinistischen Realität des Ostblocks gleichsetzten. Eine Ausnahme bildet Susan Sontag, die 1933 geboren, in den Nachkriegszeiten noch kaum 20 Jahre alt, mit der Entdeckung ihrer Bi-Sexualität beschäftigt ist und sich mit Freuds Psychoanalyse und mit moderner Literatur (Th. Mann, Rilke, Brecht u.a.) auseinandersetzt.

1957/58 werden als die Jahre behandelt, in denen die vier „Leitgestalten“ zu sich selbst und ihrer Philosophie finden. Nur Adorno hat bereits eine feste Stellung innerhalb der Universität, leitet das Institut für Sozialforschung und arbeitet an seiner Negativen Dialektik und seiner Ästhetik. Foucault steht als Leiter des französischen Kulturinstituts in Upsala noch außerhalb der universitären Institution. Dort entdeckt er den „Wahnsinn“ bzw. die „Vernunft“ (als fortschreitenden Ausschluss des Wahnsinns, der selbst in eine Form des Wahnsinns umschlägt) als sein Thema. Feyerabend arbeitet noch als Lektor für Wissenschaftstheorie, Susan Sontag als Redakteurin beim jüdischen Kulturmagazin Commentary und der Partisan Review. Als Stipendiatin studiert sie an der Universität in Oxford. In zunehmender Weise gerät das Denken derer, die Eilenberger als „neue Aufklärung“ behandelt, in diesen Jahren unter den Einfluss von Wittgenstein und der englischen Sprachphilosophie (Gilbert Ryle, John Austin, Nelson Goodman) einerseits, von Nietzsche und Heidegger andererseits.

Weshalb gerade Susan Sontag zu den vier größten „Geistern der Gegenwart“ gerechnet wird, ist nicht recht einzusehen. Sie schreibt Romane und Kurzgeschichten, dreht späterhin Filme und dokumentiert ihre Reisen nach Nordvietnam oder Kuba. Größeres Aufsehen erregt sie mit ihren Essays wie etwa Against Interpretation oder Notes on Camp, in denen sie sich für eine Aufwertung der sinnlichen (Kunst-)Erfahrung stark macht und mit ihrem Eintreten für „Trash“ die Grenze zwischen Hoch- und Popkultur einreißt. Sie entwickelt sich zu einer umtriebigen und glamourösen „öffentlichen Intellektuellen“, deren Werk aber doch weit hinter dem umfassenden und weitverzweigten Œuvre von Adorno oder Foucault zurücksteht. Auch hinter dem Werk von Ernst Bloch und Georg Lukács, die in der behandelten Zeitspanne von 1948 bis 1984 im philosophischen Diskurs ganz oben stehen, von Eilenberger aber nur an Rande erwähnt bzw. überhaupt nicht genannt werden. Sie zählen für ihn nicht zum Kreis der „neuen Aufklärer“.

Der größte Teil des Buches ist den Jahren 1968/69 gewidmet, in denen die Philosophie vor ihrem „Praxis“-Test steht und sich zum Teil radikalisiert. Detailliert berichtet Eilenberger über die politischen Aktionen der rebellierenden Studenten und die verschiedenartigen Reaktionen ihrer Professoren. Adorno ruft nach der Besetzung des soziologischen Instituts die Polizei. Nach der „Sprengung“ seiner Lehrveranstaltung und dem „Busenattentat“ bricht er seine Vorlesungen ab. Foucault, der zuerst als „Gaullist“ verschrieen und angefeindet wird, solidarisiert sich mit den Studenten und wirft am Ende Fernsehgeräte vom Dach der Universität von Vincennes auf die anrückende Polizei. Feyerabend, der zwischen Berkeley und Berlin pendelt und Vorlesungen abhält, radikalisiert sich, sympathisiert mit Cohn-Bendit und vermittelt dem aus dem Frankfurter Institut geworfenen Hans-Jürgen Krahl an der TU in Berlin eine Stelle. Theoretisch entfernt er sich immer weiter von Popper, entdeckt (horribile dictu für einen analytischen Philosophen) Hegel und entwickelt seine anarchistische Erkenntnistheorie, die er später in seinem Buch Wider den Methodenzwang unter dem Motto „anything goes“ veröffentlicht. Susan Sontag, die dem universitären Leben trotz verschiedener Stipendien fernesteht, prangert die brutalen Kriegseinsätze der USA in Vietnam an und verteidigt die Interessen des vietnamesischen und kubanischen Volks. Bezeichnend für Eilenbergers Buch ist, dass er den Schwerpunkt auf die politischen Ereignisse von 1968/69 legt. Kaum ein Wort verliert er dagegen über die breite Rezeption der Marxschen Theorie, die in diesen Jahren einsetzt, viele Diskussionen dominiert und ihre Kritik nicht zuletzt auch gegen die „Leitfiguren“ richtet.

Zwischen 1970 und 1984 erscheinen die vielleicht wichtigsten Werke von Foucault (Archäologie des Wissens, Sexualität und Wahrheit, Überwachen und Strafen) und Feyerabend (neben Wider den Methodenzwang auch Erkenntnis für freie Menschen), allerdings auch von Jürgen Habermas (Theorie des kommunikativen Handelns), der der gleichen Generation wie Foucault und Feyerabend angehört. Während der Zeit der Studentenrebellion hatte er eine wichtige Rolle gespielt, nach dem Tod von Adorno die Leitung des soziologischen Instituts in Frankfurt und 1971, zusammen mit C.F.von Weizsäcker, das Starnberger Max-Planck-Institut übernommen. Von Seiten Eilenbergers wird ihm aber offenbar nicht der gleiche Rang wie den großen Vier zugestanden.

Über viele Seiten hinweg ist Eilenbergers Buch nicht nur informativ, sondern auch unterhaltsam. Es berichtet über theoretische und politische Positionen, aber auch über eine Menge Persönliches und Intimes: über Freund- und Feindschaften, Ehebrüche und Scheidungen, Selbstmordversuche und sexuelle Präferenzen. Neben theoretischen Werken wird nicht selten aus der Schlüssellochperspektive aus persönlichen Briefen oder Tagebüchern zitiert. Gut zu lesen ist das Buch auch wegen seiner straffen Gliederung, seinen kurzen Abschnitten und bezeichnenden Überschriften. Am Ende fragt man sich allerdings, ob Eilenberger und die von ihm präparierten „Leitgestalten“ Kategorien zur Verfügung stellen und Einsichten vermitteln, die es erlauben, die Welt von heute mit ihren ökonomischen und ökologischen, politischen und sozialen Problemen und Konflikten angemessen zu begreifen.