Konrad Lotter
Realer Humanismus. Eine geschichtliche Betrachtung
Pb., 270 Seiten, 25,- €, Mangroven-Verlag, Kassel 2024
von Reinhard Jellen
Humanistische Gedanken und Überzeugungen stehen gegenwärtig nicht gerade hoch im Kurs. Die Utopie einer Gesellschaft, in der jeder Einzelne „in Gemeinschaft mit Anderen“ die eigenen Anlagen „nach allen Seiten hin ausbilden kann“, so wird eingewandt, habe der Realität nicht standgehalten. Sie sei von der geschichtlichen Entwicklung überholt. Zur Begründung werden dabei vor allem drei Argumente ins Feld geführt. Erstens erfordere die Arbeitsteilung eine zunehmende Spezialisierung und damit eine einseitige Ausbildung der eigenen Fähigkeiten. Wer weiterkommen wolle, brauche keine Bildung, sondern eine solide Ausbildung, die sich an den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts orientiert. Zweitens hätte durch die Konformität des Konsums, der medialen Information oder der Kommunikation eine Nivellierung auch der Menschen stattgefunden. Die Massengesellschaft hätte Massenmenschen hervorgebracht, deren Persönlichkeitsentwicklung außen- und fremdbestimmt sei. Mitunter wird sogar vom „Verschwinden“ des Menschen gesprochen, dessen individuelle Konturen sich auflösten „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“. Drittens habe sich die Technik dem Menschen gegenüber verselbständigt und Macht über ihn gewonnen. Durch die Verschmelzung von Info- und Biotechnologie sowie die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz sei der Mensch zu einem weithin fremdbestimmten und manipulierten Wesen erniedrigt worden. Post- und Transhumanismus haben sich zuletzt die „Überwindung“ des Menschen und die Erzeugung eines „Übermenschen“ zum Ziel gesetzt.
Eine Stärke von Konrad Lotters Buch liegt darin, dass es diese Argumente nicht nur aufgreift und ernstnimmt, sondern auch in ihrer eigenen Dialektik darstellt. Aus den vermeintlichen Grenzen des Humanismus werden auf diese Weise Übergänge zu neuen, erweiterten Formen des Humanismus. Erst die Teilung der Arbeit nämlich offenbart die vielfältigen Potenzen des Menschen und erzeugt die Möglichkeit, sich in verschiedensten Bereichen zu versuchen und ein reiches Leben zu leben. Erst die technischen Fortschritte haben die Entlastung der Menschen ermöglicht, die von der Arbeit freigestellt die Verwirklichung ihrer Anlagen auch „als Selbstzweck“ betreiben können. Und auch die „Masse“ muss nicht nur als Verlust, sondern auch als Vorstufe einer (neuen) Humanität begriffen werden, in der die Menschen solidarisch ihre gemeinsamen Interessen durchsetzen können.
Eine andere Stärke des Buches liegt in seinen klaren Begriffen und Aussagen. Im Fortschritt des klassischen Humanismus zur Zeit der Renaissance und der Goethezeit zum realen Humanismus, den Marx in Auseinandersetzung mit Hegel, den Junghegelianern und Feuerbach entwickelt, so wird gezeigt, vollzieht sich ein mehrfacher Wechsel der Perspektive. Aus der Kritik an der Religion wird die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Nicht mehr an der idealisierten Antike orientiert sich der reale Humanismus, sondern an den geschichtlichen Möglichkeiten, die sich durch den Grad der Naturbeherrschung und den gesellschaftlichen Reichtum eröffnen. Aus der Bildung einzelner Individuen, einer Elite von Humanisten jenseits der „Masse“, entsteht die Forderung nach menschlichen Institutionen, die nicht nur allen Menschen die gleichen Chancen einräumen, sondern auch Frieden mit der Natur geschlossen haben. Was den realen Humanismus zuletzt von den früheren Formen des Humanismus unterscheidet, ist seine praktische Ausrichtung: dem „kategorischen Imperativ“, alle Verhältnisse zu beseitigen, die die Menschen fremdbestimmen und ihre menschliche Würde verletzen.
Etwas abschreckend an Lotters Buch könnten die vielen Bezüge auf philosophische, soziologische, ökonomische und psychologische Werke sein, auf die sich seine Argumentationen stützen. Wer sich von diesem par force-Ritt durch die Geistesgeschichte nicht einschüchtern lässt und sich darauf einlässt, wird das Buch mit Gewinn studieren.