Gerhard Stapelfeldt

Warum Krieg? Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine und das Ende der Globalisierung

geb., 792 Seiten, 149,80 €, Verlag Dr. Kovač, Hamburg 2024

von Paul Stegemann

Die Einschätzungen und Beurteilungen des im Februar 2022 begonnenen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine gehen in der politischen Linken weit auseinander. So werden alte Interpretationsmuster aufgewärmt, die in einem antiimperialistischen Reflex USA und NATO als Schuldige ausmachen. Die Linke war schon immer gut darin, die fortgeschrittenste kapitalistische Macht und deren Hegemonie zum Feindbild zu erklären und sich unreflektiert auf die Gegenseite zu beziehen, mag diese noch so reaktionär sein. Aber auch die gegensätzliche Position, die Russland als autoritären Staat brandmarkt und den Westen als Hort der Freiheit und wertebasierte Demokratie darstellt, geht schnellen Schrittes über grundsätzliche Probleme hinweg. Beide Sichtweisen offenbaren eine mangelhafte Gesellschaftskritik, weil sie sich entweder historisch unreflektiert bei veralteten Interpretationsmustern bedienen oder auf einer ideologischen Ebene argumentieren und machtpolitische Positionen reproduzieren.

Der aktuelle Krieg Russlands gegen die Ukraine wäre vielmehr aus einer Selbstzerstörung der Globalisierung zu verstehen, so legt es Gerhard Stapelfeldt in seiner neuen Publikation dar. Die Explikation seiner Theorie der Dialektik der ökonomischen Rationalisierung (2014) ermöglicht es, die Entwicklungen hin zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht auf einer vordergründigen Ebene zu erklären. Ziel ist vielmehr eine genetische Aufklärung, die nicht individualisierend, psychologisierend oder marktpropagandistisch verfährt, sondern die globale Krise des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gesellschaftsgeschichtlich aufklären will. Dabei stehen insbesondere die Übergänge vom Staatsinterventionismus zum Neoliberalismus und innerhalb des letzteren die sich durchsetzende Globalisierung im Zentrum. Die dem zugrundeliegende Theorie Stapelfeldts kann kurz so zusammengefasst werden, dass die kapitalistische Produktionsweise in ihrem historischen Verlauf verschiedene Formen angenommen hat. Auf den Liberalismus, die bürgerliche Ökonomie in der Epoche der Aufklärung und des Insdustriekapitalismus (1765-1870/80) folgte der Imperialismus als Form, die die bürgerliche Ökonomie in der Epoche von Krise und Krieg annahm (1873-1918/29). Diese wiederum wurde durch den systemrationalen Staatsinterventionismus abgelöst (1929/33-1973/81), um schließlich nach 1973/81 in den Neoliberalismus überzugehen. Dieser historische Verlauf resultiert aus der krisenhaften Verfasstheit der kapitalistischen Gesellschaftsform. Die gegenwärtige Form des Kapitalismus ist seit der Weltwirtschaftskrise von 1973/75 die des neoliberalen Kapitalismus. Dieser ist nicht nur durch eine Politik der Liberalisierung und Privatisierung gekennzeichnet, sondern hat vor allem nach 1990 zu Prozessen geführt, die als „Globalisierung“ bezeichnet wurden. In dieser Zeit wurde der Systemgegensatz zwischen den geopolitischen Machtblöcken um die USA und die UdSSR durch den Zusammenbruch des „Ostblocks“ überwunden. Damit hat sich nicht nur der Aufstieg der USA zur weltweiten Führungsmacht fortgesetzt, sondern der Neoliberalismus konnte sich ab 1990 auch zur Weltwirtschaftsordnung verallgemeinern. In die Staaten des ehemaligen „Ostblock“ kam es zu schweren und tiefgreifenden Transformationsprozessen – zu krisenhaften Prozessen der Umstrukturierung dieser Staaten und deren Gesellschaften. Deren Eingliederung in die neoliberale kapitalistische Weltökonomie wird im allgemeinen Bewusstsein verkürzt als Globalisierung aufgefasst – und als Vorgang der ökonomischen und politischen Befreiung gefeiert. Es sollte ein globales Zeitalter des Friedens und der wirtschaftlichen Entwicklung anbrechen. Die Menschheit sollte – dem ideologischen Anspruch folgend – in einer Welt zusammengeführt werden. 1990/91 sprach der US-Präsident George Busch von einer „pax universalis“ und einer „New World Order“. Mit diesen Begriffen wurde in diesen Jahren ein System der globalen und kollektiven Sicherheit beschrieben, während die inneren Widersprüche des Neoliberalismus in solchen ideologischen Vorstellungen ausgeblendet wurden. Sie haben sich aber weiterentwickelt: „Die neoliberale Welt-Integration erwies sich als Einheit durch Desintegration. Kriege und Massenelend wurden in alten wie in neuen Formen reproduziert. Seit 2008 treten diese Krisen in immer schnellerer Folge auf. Die schöne Welt des Neuen Liberalismus offenbart sich seither als weltgeschichtlicher bellum omnium contra omnes“. Die Jahre zwischen 1989/91 und 2021/22 können als Epoche gelten, in der der Neoliberalismus seine Vollendung als Globalisierung erlangt hat – und damit aufgrund seiner inneren Logik auf seine Selbstzerstörung zutrieb. Mit der Vollendung der Globalisierung sind die äußeren Feinde und Gegenspieler, gegen die weltweite Antiterror-Kriege geführt wurden, weggefallen. Dieser Prozess der widerspruchsvollen Vollendung der Globalisierung kann, weil er weiterhin durch die unaufgeklärte neoliberale Logik der „spontanen Ordnung“ bestimmt ist, nur, so legt es Stapelfeldt dar, einen modifizierten neoliberalen Zustand hervorbringen. Dieser findet seinen Ausdruck in einer neoliberal gespaltenen Welt. Damit haben sich die inneren Widersprüche dieser Gesellschaftsordnung auf eine neue Ebene transponiert: Der Neoliberalismus basiert auf dem Dogma, dass der ökonomische Wettbewerb nur Sieger und Verlierer kennt; er fasst ihn als ein Verhältnis von Freund und Feind. Weil der Weltordnung so das neoliberale Freund-Feind-Verhältnis eingeschrieben ist, kann die Konsequenz eines solch universalisierten Neoliberalismus nur im Übergang in einen feindlichen Gegensatz zwischen neoliberalen Staaten bestehen: „Russland, dessen Eintritt in die Weltordnung des Neoliberalismus die Vollendung der Globalisierung erst begründete, vollzieht somit durch den Krieg gegen die Ukraine und die Androhung eines mit Nuklearwaffen geführten Weltkrieges die Zerstörung der Globalisierung. Die Föderation kündigt, durch den Krieg, ihre Integration in diese Welt der Neuen Freiheit auf und bringt dadurch die New World Order zum Einsturz“. Ist, so Stapelfeldts These, die Welt erst neoliberal vermeintlich geeint, muss ein neuer äußerer Gegensatz aufbrechen – und einen globalen Kriegszustand hervorbringen, in dem innergesellschaftlich die autoritären Tendenzen der neoliberalen Ideologie ihren Ausdruck in der Formierung von Volksgemeinschaften finden. Die Abgrenzung vom Fremden und die Homogenisierung des Eigenen gehen dabei ineinander.

Die Konsequenz der neoliberalen Welteinheit und der vollständigen Globalisierung ist daher der Fortgang zu einer entzweiten Welt, der zur Restitution des um 1990 überwunden geglaubten „klassischen Staatenkriegs“ führt. War die Zeit zwischen 1990 und 2022 durch Staatszerfalls- und Antiterror-Kriege bestimmt, findet mit dem militärischen Angriff Russlands auf die Ukraine ein Umbruch statt. Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine dokumentiert das Ende der „New World Order“ und vollzieht die Selbstzerstörung der Globalisierung. Darin liegt nach Stapelfeldt „die weltgeschichtliche Bedeutung dieses Krieges, durch die er sich unterscheidet von den zahllosen Kriegen, die nach 1945 weltweit geführt wurden“.

So kehrt als Resultat der politisch-ökonomischen Selbstdestruktivität nach Jahren der asymmetrischen Kriege der Staatenkrieg zurück. Die Welt teilt sich in neue disparate Lager und der globale Kriegszustand wird zum Normalfall. Während die Friedensillusionen der Globalisierung zerfallen, werden die Ökonomien und Gesellschaften wieder auf die neue Realität eines Kriegszustandes zwischen Staaten ausgerichtet. Damit aber erzwingt der Krieg die Abkehr von einer Weltwirtschaftsordnung, die allein der ökonomischen Logik des Kapitals folgte, hin zu einer Logik, die die Ökonomie sicherheitspolitischen und militärischen Imperativen unterstellt. So werden die Ökonomien und Gesellschaften militarisiert, und die ökonomischen Abhängigkeiten, die sich mit der Globalisierung und ihrer weltweiten Arbeitsteilung ergaben, werden gekappt. Der im Februar 2022 begonnene Krieg Russlands gegen die Ukraine markiert damit, so Stapelfeldt, einen epochalen Umbruch: Die Vollendung der Globalisierung, die Verallgemeinerung des Neoliberalismus zur Weltordnung, zerstört sich selbst und geht in einem globalen Kriegszustand über.

Der russische Angriffskrieg löst so die Weltwirtschaftsordnung des globalisierten Neoliberalismus auf. Der freie Verkehr von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräften wird nun unter sicherheitspolitische Imperative gestellt. Diese sind teilweise schon durch die Corona-Krise eingeleitet worden, aber nun wird der politisch-ökonomische Autoritarismus des Neoliberalismus, der sich schon seit 1973/75 in unzähligen Umstrukturierungen und Kriseninterventionen deutlich gezeigt hatte, in immer offenere autoritäre Versionen transformiert: Der Konformismus des Neoliberalismus formierte die Gesellschaften zu neoliberalen Volksgemeinschaften: Diese befinden sich nicht länger nur in ökonomischer Konkurrenz; vielmehr geht dieser Konkurrenzkampf zunehmend in einen offenen Krieg aller gegen alle über, in einen Zustand, in dem sich nationale Kollektive wieder im Kriegszustand gegenüberstehen. Dies zeigt sich auch an den autoritären und mitunter wieder faschistischen Tendenzen, die weltweit an politischem Einfluss gewinnen.

Gegen diese Entwicklung ist die Kritik und Reflexion, so hilflos sie auch angesichts der überwältigenden Realität ist, gerichtet. Daher müsse sich die Aufklärung über die gesellschaftsgeschichtlichen Hintergründe dieses neuen Kriegszustands, so Stapelfeldt, mit der Frage „Warum Krieg?“ beschäftigen: „Eine dialektische Theorie der Gesellschaft hat die notwendig utopisch auf die bewußtlosen Verhältnisse der Weltgesellschaft, der kriegsführenden und in den Krieg involvierten nationalen Gesellschaften gerichtete Frage: Warum Krieg? als Frage nach den inneren Verhältnissen der kriegsführenden sowie der in den Krieg involvierten Staaten, die sich in den Kriegen als deren Außenverhältnis spiegeln, aufzuklären. In Kriegen manifestiert sich ein innen- und außengerichtetes Freund-Feind-Verhältnis von Gemeinschaften“. Ziel bleibt die Aufklärung, das „Bewußtwerden der Ursachen von Kriegen als Begründung einer vernünftigen Hoffnung auf ewigen Frieden“. Kritik und Reflexion richten sich gegen die Hoffnungslosigkeit und Zumutungen des neoliberalen Zeitalters. Diese gesellschafts- und ökonomiegeschichtliche Aufklärung stellt eine bedeutende Leistung dar.

Stapelfeldt klärt Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine durch seine Analyse der gesellschaftsgeschichtlichen Epoche auf, die diesen Krieg hervorbringt. Das umfangreiche Buch formuliert eine Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse, die zugleich von der Hoffnung lebt, durch sie die Aussicht auf eine Utopie des Friedens zu ermöglichen. Das Ende der Globalisierung hingegen sieht er als den Beginn einer Epoche, in der autoritäre Staaten sich in einem globalen Kriegszustand gegenüberstehen und wieder offen zwischenstaatliche Kriege geführt werden. Das Buch Warum Krieg? ist so eine umfassende Kritik dieses Epochenwechsels.

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