Bruno Chauoat
Ist Theorie gut für die Juden?
br., 439 Seiten, 30,00 €, Edition Tiamat, Berlin 2024
von Olaf Sanders
Bruno Chauoat legt ein wichtiges Buch vor, das von der Beobachtung ausgeht, dass gerade die Behauptung der Einzigartigkeit des Holocausts, die „die Besonderheit jüdischen Leids hervorheben sollte, … die Entjudaisierung des Holocausts in einem Maß befördert“ habe, so dass „nun jede Opfergruppe ihr Leid als einzigartig anerkannt wissen will. Der Anspruch auf Singularität des Holocausts birgt zugleich die Gefahr, diesen zu universalisieren und seiner historischen und moralischen Bedeutung zu berauben“ (40 f.). Der Holocaust relativiert sich in dieser Bewegung zu einem Holocaust unter anderen.
Das „französische Holocaust-Trauerspiel“, dem Chaouat vor allem seine Aufmerksamkeit widmet, sei in philosophischer Hinsicht durch ein Verständnis des Juden befördert worden, zu dem Denker wie Maurice Blanchot, Jacques Derrida und Jean-François Lyotard wesentlich beigetragen hätten, ohne dies freilich zu wollen. Es sei zudem „keine postmoderne Erfindung“ (42). Dennoch habe die spezifisch postmoderne Dialektik dieser Denker, so lässt sich mit Chaouat weiter folgern, den neuen Antisemitismus mit hervorgebracht, den er auch in den Arbeiten von Giorgio Agamben, Alain Badiou oder Judith Butler am Werke sieht. Der „neue Antisemitismus“, so Chauoat, „bediene sich selbst der Rhetorik des Antirassismus“ (44), wodurch dann die „mit Israel verbundenen Juden“ als „neue Rassisten und Neokolonialisten“ erscheinen. Als ‚gute Juden‘ gelten nur Juden in der Diaspora.
Für Chaouat – die englischsprachige Originalausgabe erschien bereits 2016 – markieren die Morde in Toulouse und Montauban an vier Fallschirmjägern, einem Rabbiner, zwei seiner Kinder sowie einem weiteren Kind im März 2012 einen Wendepunkt. Der 7. Oktober 2023 markiert fraglos einen weiteren. In Anspielung an ein Gedicht der avantgardistischen (jüdischen) Autorin Gertrude Stein schreibt er: „Ein Antisemit ist ein Antisemit ist ein Antisemit“ (63).
Ist Theorie gut für die Juden? gliedert sich in vier umfangreiche Kapitel, die von einem Vorwort zur deutschen Ausgabe, einem Prolog und einer Einleitung sowie einem Postskriptum mit Epilog eingerahmt werden. Sein Vorwort aus dem Jahr 2024 beendet Chaouat mit der Feststellung, dass das Ende der Theorie schlecht für Juden sei. Den Prolog überschreibt er mit Abschied von der Theorie, worin er sich als einstiger Doktorand Lyotards zu erkennen gibt, der mit seinem philosemitischen Buch Heidegger und die Juden „in die Falle einer abstrakten, universalistischen Interpretation des Judentums“ (17) geraten sei. Sie habe Maurice Blanchot mitkonstruiert, weil er jüdisch zu sein als „einen Zustand des Exils, des Nomadentums und des Leids“ (16) charakterisiert habe. Letztlich, so schließt Chaouat, der diese Beschreibung als Karikatur einer glücklichen Epoche kennzeichnet, sei die „jüdische Differenz irgendwie mit der Derrida’schen différance“ (25) zusammengefallen. Die glückliche Epoche der Theorie endet für Chaouat spätestens mit Enzo Traversos Buch Das Ende der jüdischen Moderne (2017, frz. 2013), das „Judenspalterei“ (26) betreibe wie Bulter in Am Scheideweg (2013), Badiou in Paulus (2002) oder Said in Orientalismus (1981/2009). Hier werde der Jude gespalten „in den universalistischen Gegner von Staatlichkeit einerseits und den partikularistischen Zionisten andererseits“ (26 f.). Genau diese oben bereits angedeutete Spaltung befördere Chaouat zufolge den neuen Antisemitismus, sie fungiert als die Leitdifferenz seines Buches.
Im ersten Kapitel widmet er sich „dem postheideggerianischen Denken und dem unerträglichen Vermächtnis Heideggers in Frankreich und anderswo“ (73). Darunter fasst er neben der „Dezentrierung des Subjekts“ auch „die Feier von Nomadismus und Deterritorialisierung“ (74). Chaouat erinnert daran, dass Gilles Deleuze die Palästinenser parteiergreifend in der Tageszeitung Libération „Indianer Palästinas“ genannt habe. Ausgehend von Frankreich blickt Chaouat auch nach Italien. In Agambens Dekonstrution des Begriffs ‚Volk‘ „verwandeln sich die einstigen Opfer des [deutschen] Reichs geradezu schematisch in die Henker der Palästinenser“ (122). Am Beispiel des von Gianni Vattimo und Michael Marder herausgegebenen Sammelbandes Deconstructing Zionism (2014) zeichnet Chaouat nach, wie der Band die Intentionen Derridas verkehrt, und beklagt die Unaufrichtigkeit, die für ihn darin liegt, „die Dekonstruktion in eine Kriegsmaschine gegen Israel zu verwandeln“ (139).
Im zweiten Kapitel untersucht Chaouat die von Georges Bataille, Jean Genet oder Marguerite Duras durch die Verwischung der Grenze von Tätern und Opfern eingeleitete moralische Wende, die in einen Moralismus geführt habe, der das Ergebnis der „Reduktion von Ethik auf Ideologie“ (174) gewesen sei. „Für den Menschen“, so Chaouat, „gibt es kein Jenseits der Menschheit“ (158). SS-Männer wie Klaus Barbie seien keine Über- und die KZ-Häftlinge keine Untermenschen gewesen. Wenn daher Agamben das Konzentrationslager zum Nomos der Moderne erklärt, dann mache er die Ausnahme zur Norm, und das Böse werde als Grenzüberschreitung gefeiert.
Das dritte Kapitel fragt nach den Effekten des colonial turn. Chaouat erinnert daran, dass Emmanuel Levinas schon 1968 davor gewarnt habe, die Situation von Fabrikarbeitern mit dem Holocaust zu vergleichen. Er zeichnet in diesem Kapitel nach, wie sich die Kämpfe gegen den Antisemitismus und gegen den Antirassismus immer weiter auseinanderentwickelt haben, beschleunigt durch den Algerienkrieg, aber auch die Anschläge vom 11. September 2001.
Im vierten Kapitel setzt Chaouat, ausgehend von einer Passage aus Philip Roths Buch Operation Shylock. Ein Bekenntnis, zur Kritik an den Arbeiten von Enzo Traverso, Judith Butler und anderen an. Dabei will er zeigen, dass das Ideal des marginalen, kritischen, subversiven und revolutionären Juden nichts anderes sei als eine narzistische Projektion. Schließlich verteidigt Chaouat Levinas gegen Butlers Fehllektüre.
Auch wenn das Buch sich vor allem auf die uns weniger geläufige Debatte in Frankreich bezieht, so gibt das Buch in vielerlei Hinsichten zu denken. Es wirft ein neues und sehr differenziertes Licht auf die so genannte french theory, die es, ihre Nebenwirkungen ausleuchtend, neu rahmt.