Christian Fuchs
Radikaler digitaler Humanismus. Eine Philosophie für die digitale Gesellschaft des 21. Jahrhunderts
br., 165 Seiten, 29,90 €
München 2024 (UVK Verlag)
von Konrad Lotter
Im Zentrum des Buches steht der Gegensatz von liberalem und radikalem Humanismus. Der eine beruht auf der Proklamation der Menschenrechte zur Zeit der Französischen Revolution und war gegen den Feudalismus gerichtet. Er forderte die Gleichheit vor dem Gesetz sowie die Freiheit der Meinung, der Versammlung und der Religion. Vor allem aber schützte er das (Privat-) Eigentum und das Recht des bürgerlichen Individuums, „ohne Beziehung auf andere Menschen … sein Vermögen zu genießen und über dasselbe zu disponieren“ (Marx). Damit bildete er die Grundlage für den Aufstieg der kapitalistischen Produktionsweise. Der andere, der radikale Humanismus ist hingegen gegen die bürgerlich-kapitalistische Produktionsweise mit allen ihren Verwerfungen gerichtet und klagt die Freiheits- und Entwicklungsrechte aller Menschen ein. Diese Produktionsweise kam erst im Zuge der sog. ursprünglichen Akkumulation, d.h. vor allem durch die Ausbeutung der Kolonien und der Versklavung ihrer Bevölkerung, in Schwung und hatte die Unterwerfung des „globalen Südens“ unter die Herrschaft des zivilisierten „Westens“ zur Folge. Die erste Forderung des radikalen Humanismus, so Christian Fuchs, Professor für Medientheorie an der Universität in Paderborn, ist infolgedessen nicht nur die Aufhebung des (Privat-) Eigentums und der Ausbeutungsverhältnisse auf nationaler Ebene, sondern auch die Ent-Kolonialisierung im globalen Maßstab, d.h. die Angleichung der individuellen Entwicklungsmöglichkeiten der Menschen, nicht nur auf den Gebieten der Bildung und der Wissenschaften, sondern auf allen Gebieten des Lebens.
Martin Heidegger, Günter Anders, Peter Sloterdijk oder Yuval Harari haben den Humanismus für geschichtlich überholt erklärt. Mit der Ausweitung der modernen Massengesellschaft und dem technischen Fortschritt mit seinen Möglichkeiten der genetischen und informationellen Manipulation, so ihr Argument, sei das Maß der individuellen Selbstbestimmung und Autonomie geschrumpft, jede Form des Humanismus an ihr Ende gekommen. Damit, so das Gegenargument von Christian Fuchs, könne freilich nur der alte, liberale Humanismus gemeint sein, dessen Kritik der Ausgangspunkt eines neuen Humanismus sein müsse. Dieser sei nicht mehr auf das Recht und die Freiheit des egoistischen Individuums, sondern auf das Recht und das Gemeinwohl aller Menschen gerichtet. Unter Berufung auf Marx, Rosa Luxemburg, Erich Fromm und Henri Lefebvre, auch auf Adorno und Horkheimer (die umstandslos der Marxschen Tradition zugeordnet werden), entwickelt er so die Grundrisse eines radikalen Humanismus. Weshalb er das Epithteton „radikal“ gewählt hat und nicht den in der Marxschen Tradition üblichen Begriff des „realen“ Humanismus verwendet, ist dabei nicht recht einzusehen. Beide Begriffe besitzen offenbar die gleiche Bedeutung. Wie auch immer: Mit seinem radikalen Humanismus erhebt Fuchs den Anspruch, eine „Philosophie für die digitale Gesellschaft des 21. Jahrhunderts“ zu entwerfen, eine Philosophie, die nicht nur auf ein friedliches Miteinander der Menschen und Nationen gerichtet ist, sondern auch einen Weg aufzeigen soll, wie die gegenwärtigen Probleme der Klimaveränderung, des sozialen Elends und der Armuts-Migrationen behoben werden können.
Unter dem Gesichtspunkt des Humanismus weist die Entwicklung der Technik von jeher in entgegengesetzte Richtungen. Schon die Dampfmaschine, die die industrielle Revolution einläutete, erleichterte zwar die Arbeit und erhöhte ihre Produktivität, erniedrigte aber zugleich (wie seit Adam Smith immer wieder beklagt wurde) die Arbeitenden zu geistlosen Automaten und „Anhängseln“ der Maschine. Mit jeder „Welle“ technischer Innovationen, von der Elektrizität, den neuen Formen der Mobilität, der Nuklear-, Computer- oder Kommunikationstechnologie verschärfte sich dieser Gegensatz. Immer unversöhnlicher standen sich dabei die positiven Möglichkeiten, die das Leben der Menschen erleichterten und bereicherten, den negativen Realitäten gegenüber, die die Selbstbestimmung der Menschen einschränkten, ihre körperliche und psychische Integrität beeinträchtigten und sie an der Entfaltung ihrer Anlagen hinderten. Im Falle der digitalen Technologien und der KI haben die Gefahren zuletzt ein neues Niveau erreicht. Neben der totalen Überwachung und Manipulation der Menschen, der möglichen Herrschaft von Robotern und einem „digitalen Faschismus“ sind Ängste entstanden, die Menschen machten sich selbst überflüssig und schafften sich letztlich ab.
Die großen Industrienationen der USA, Chinas und der EU betrachten, wie Fuchs ausführt, die Entwicklung der KI gleichermaßen als eine „Schlüsseltechnologie“, die mit Steuergeldern großzügig unterstützt wird. Im internationalen Wettkampf geht es um die ökonomische Vorherrschaft, auch wenn die Interessen daran voneinander abweichen. In den USA steht offenbar das Interesse der Manipulation der Konsumenten und Wähler im Vordergrund, im China das der Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung. In Europa wird zwar versucht, die Privatsphäre der Menschen zu schützen, trotzdem, so scheint es, werden auch hier die Risiken der neuen Technologie heruntergespielt. Fuchs zitiert Nida-Rümelins und Natalie Weidenfelsʼ Buch über Digitalen Humanismus (2018) und das Wiener Manifest für digitalen Humanismus (2019). In beiden Schriften werden zwar bestimmte Risiken der digitalen Technologie gesehen und thematisiert, gleichermaßen aber glauben ihre Autoren, diese Risiken durch Ethik und politische Reformen im Rahmen der bestehenden Eigentumsordnung, also unter der Voraussetzung des alten, liberalen Humanismus beherrschen zu können. Diesen Glauben teilt Fuchs nicht. Gegen die sozialdemokratische Naivität der beiden Schriften könnte (in seinem Sinne) der Satz gestellt werden, den Orlando Patterson bei der Verleihung des Hegel-Preises der Stadt Stuttgart (2024) geäußert hat: „In Amerika … besitzen jetzt drei Milliardäre mehr Vermögen als die untere Hälfte der Bevölkerung zusammen … Unter solchen Bedingungen wird ein ethisches Leben – wird Sittlichkeit – unmöglich.“ Anders formuliert: Unter den genannten Verhältnissen, unter denen sich die Schere von Arm und Reich immer weiter öffnet, hat der alte, liberale Humanismus seine Existenzberechtigung verloren. Zu begrüßen sei daher jede Aktion, die zu seiner Fortentwicklung in Richtung auf eine am „Gemeinwohl“ aller Menschen orientierte Weltordnung führt und uns einer radikal humanistischen, wirklich demokratischen und sozialistischen Gesellschaft näherbringt.
Eher am Rande steht Fuchsʼ ausführliche Diskussion, die sich auf die Verbreitung von Covid-19 (im Zusammenhang mit der „kapitalistischen Nekropolitik“) bezieht. War denn die kommunikative und soziale Vereinsamung, unter der viele Menschen gestorben sind, und waren überhaupt sowohl die Ursache als auch die rasche Verbreitung dieser Krankheit ein spezifisches Problem des Kapitalismus? Als „kapitalistisch“, so scheint es, muss vor allem der Umgang mit der Pandemie, d.h. die Entwicklung und Zulassung der Impfstoffe, die Produktion und Verteilung der Masken, die Organisation von Home-Office etc. bezeichnet werden. Schon in vorkapitalistischen Zeiten grassierten Seuchen wie etwa die Pest, und auch ein zukünftiger „demokratischer Sozialismus“ ist, wie Fuchs selbst einräumt, keine Garantie für das Aussterben tödlicher Seuchen. Richtig ist natürlich, dass digitale Kontakte zu erkrankten und isolierten Menschen via Handy oder Computer eine „direkte Präsenz … nicht ersetzen“ können. Mit dem Problem des digitalen Humanismus aber hängt Covid-19 nur über viele Schritte vermittelt zusammen.
Klar und einleuchtend ist Fuchsʼ Plädoyer für den radikalen Humanismus; etwas redundant erscheint dagegen die Form seiner argumentativen Darstellung. Bereits an den Anfängen der verschiedenen Kapitel stehen „Zusammenfassungen“ dessen, was erst ausgeführt werden soll. Es folgen dann „Einleitungen“, in denen die Fragen gestellt werden, die beantwortet werden sollen. Am Ende der Kapitel stehen dann noch „Schlussfolgerungen“, in denen oftmals gesagt wird, was schon gesagt ist. Viele Wiederholungen, die leicht hätten vermieden werden können, sind die Folge. Von diesen Vorbehalten abgesehen (die von vielen Lesern möglicherweise gar nicht als Mangel empfunden werden) ist der Mut und die Entschiedenheit zu bewundern, mit denen Fuchs über die Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise hinausdenkt und gegen viele Widerstände das Programm eines neuen Humanismus entwirft.