Cynthia Fleury

Die Klinik der Würde

geb., 150 Seiten, 24,- €

Berlin 2024 (Suhrkamp Verlag)

von Marianne Rosenfelder

Die westlichen Demokratien haben Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte und Würde verfassungsrechtlich verankert. Doch ist es, wie die Autorin darlegt, besonders um die Würde schlecht bestellt, obgleich der Begriff die sozialen, politischen und ethischen Debatten prägt und seine Anwendung ubiquitär ist.

Die Divergenz von Theorie und Praxis ist eklatant; denn die theoretische Wertschätzung der menschlichen Würde als universeller Grundwert und als Anerkennung der „Singularität und Vulnerabilität der Menschen“ wird konterkariert durch Armut, Prekarisierung und zunehmend entwürdigende Zustände in Institutionen wie Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern, Altenheimen oder Gefängnissen.

Nach Fleury tut sich zudem eine gesellschaftliche Kluft auf zwischen den „Gebern“ von Würde und Fürsorge, die unter saturierten Bedingungen leben, und denjenigen, die ihnen unterbezahlt zu Diensten stehen und dafür meist auch noch unwürdig behandelt werden, – „obgleich alle dieselbe irreduzible und nicht verhandelbare Würde besitzen“ (7). Sowohl in der Arbeitswelt als auch an Orten der sozialen Ausgrenzung gehe es heute primär darum, den mittlerweile üblichen Formen und Methoden der Entwürdigung zu entkommen, die in der Gesellschaft zu einem „gängigen Führungskonzept“ geworden sind.

Fleurys Intention ist es, dem Begriff der Würde wieder zu seinem Recht zu verhelfen. Dazu entwirft sie die Institution einer „Klinik der Unwürde“ (indignité), um die „Ränder und Kehrseite“ der Würde zu untersuchen und Fälle von „Unwürde“ interdisziplinär mittels der Geistes-, Sozial- und medizinischen Humanwissenschaften zu diagnostizieren und zu therapieren.

Würde ist nicht nur eine metaphysische oder ontologische Eigenschaft des Menschen. Der Begriff der Würde bedarf der Materialisierung. Würde bleibt ein leerer Begriff, wird sie nicht an Bedingungen geknüpft wie menschenwürdige Arbeit und Bleibe, Gesundheitsversorgung oder öffentliche und politische Handlungsfähigkeit. Eine Politik der Würde sollte, gestützt auf die Klinik der Würde, Probleme erkennen und ihre Implementierung im Sinne einer sozialphilosophisch verankerten relationalen, auf Interaktion bezogenen Konnotation des Begriffs umsetzen.

Als mögliche Gründe für die Divergenz von Theorie und Praxis des Wertes der Würde nennt Fleury sowohl die Kritik der Aufklärung als auch den westlichen Universalismus. Den Königsweg zur Überwindung des Gegensatzes von formaler und tatsächlicher Würde sieht sie in einer Care- oder Fürsorgeethik, die auf eine höhere Sensibilität für vulnerable Bevölkerungsgruppen sowie für ökologische Gefährdungen durch die industrielle Produktion und Konsumtion ziele.

Fleury umkreist diese Thematik in insgesamt sechs Kapiteln. In Die Zeitalter der Würde skizziert sie die Entwicklung dieses Konzepts. Seit der Antike war dignitas an Verdienst, Ehre, Adel und sozioökonomischen Status gebunden. Pico della Mirandolas Theorie der Selbstbestimmung des Menschen war ein erster Schritt aus dieser Determiniertheit. Die Forderung der Materialisierung der Würde als Zeichen ihrer Gültigkeit erfolgte mit Jacques Benigne Bossuets Traktat De l´éminent dignité des pauvres (1659).

Seit der Aufklärung und der Französischen Revolution steht der Begriff der Würde für die Moderne als Ära des Fortschritts im Sinne würdiger Lebens- und Arbeitsbedingungen. Von der sozialen Herkunft emanzipiert bezeichnet Würde nun den intrinsischen Wert der Person und den Respekt gegenüber den Rechten und der Singularität des Einzelnen. Würde ist daher ein ethischer und relationaler Begriff. Würdevolles Verhalten wird zum moralischen Anspruch. Unwürdig sind nicht diejenigen, „die unter unwürdigen Bedingungen leben, sondern diejenigen, die diese Bedingungen schaffen und tolerieren“ (14).

Derzeit könnte sich das Verständnis von Würde nach Fleury durch die Tendenz zur Verdinglichung des Menschen oder zur Ausklammerung sozialer und rechtlicher Kontexte erneut wandeln. Mit Axel Honneths sozialphilosophischer Theorie der Anerkennung sei der Begriff jedoch wieder relevant geworden, erwachse doch der Kampf um Anerkennung aus der Geringschätzung individueller wie kollektiver Leidensgeschichten und ziele auf die Kongruenz von formaler und realer Würde. Honneth priorisiere jedoch eine auf Singularität ausgerichtete Variante des Begriffs, die nur dann konstruktiv sei, wenn Anerkennung auch als relationaler Begriff verstanden werde und die politisch-ökonomische Frage der Gerechtigkeit der Güterverteilung berücksichtige.

Nach Fleury sollte die Reflexion des Universellen und des Begriffs der Würde den Prozess der De-Kolonisierung mit einbeziehen. Im Kapitel über Die universelle Unwürde definiert sie Unwürde als „Verletzung der physischen und psychischen Integrität“ (29). James Baldwin habe diese Verletzungen realistisch aus der Perspektive der Betroffenen beschrieben und damit seine Gemeinschaft restituiert. Die Würde ders Sklaven sei die des Widerstandes gegen Unfreiheit und symbolisiere die als universell zu interpretierende Würde der Aufklärung samt der oft ausgeklammerten gewaltsamen Kolonialgeschichte. Die Narrative der Klinik der Unwürde basierten auf der Weisheit von Überlebensstrategen, welche die moderner Philosophen überflügele. Mit Baldwin sei das Konstrukt der Klinik der Würde um das Schwarzsein im Sinne der universellen Erfahrung des Menschseins als Vulnerabilität erweitert worden.

Fleury bezeichnet die CareEthik als Phänomenologie des Politischen, die gesellschaftlich Verborgenes zur Sprache bringe. Wie die koloniale Ideologie der „Last des weißen Mannes“ ist care ein ambivalenter Begriff, da er mit dem Paternalismus und der Ungleichheit als Kehrseite des offiziellen Wohlwollens verbunden ist. Im Kapitel Die Klinik des Schmutzigen beschreibt Fleury die dem Begriff care immanente Negation:als dark care, dirty care oder dirty work werden Arbeiten bezeichnet, die als unwürdig gelten, es aber nicht sind. Den care-Arbeitern erscheint ihre Tätigkeit wie „erduldete Gewalt“(51), basiere sie doch auf konsolidierten Herrschaftsverhältnissen und berge Machtbeziehungen, die die Beherrschten zu Komplizen dieser Gewalt machen, indem sie verpflichtet sind, die Herrschenden zu umsorgen. Care sollte daher politisiert und unter Be-Achtung aller Beteiligten öffentlich thematisiert werden. Schließlich basiere unsere Würde auf der „Drecksarbeit der Mehrheit“, deren Innerlichkeit, Propriozeption und physische Intimität als Garanten der Würde verletzt werden. Trotz der psychischen Belastung für die Pflegenden müsse die Beziehung zu vulnerablen Personen menschlich gestaltet werden. Die Klinik der Un-Würde sollte hinterfragen, unter welchen Umständen die Verantwortlichen dirty care veranlassen. Obgleich sie bezüglich care darauf angewiesen sei, verdränge die Gesellschaft den Verkehr mit dem Unwürdigen und ziehe damit ihre Grenze.

Individuen, die der Freiheit beraubt sind, weisen Symptome auf, die Fleury als Pathologien der Würde thematisiert. Franz Fanon hat deren paradoxale Struktur analysiert: mentale Schäden durch unwürdige Zustände in kolonialen psychiatrischen Kliniken, in denen Kranke gerade von den Leiden, die vom Kolonialismus verursacht wurden, geheilt werden sollen – von der Entfremdung und Ich-Spaltung, der Fragmentierung oder, im Extremfall, Nekrotisierung der Existenz durch eine systematisch-institutionelle Verschlechterung der Lebensbedingungen.

Die primäre Erfahrung, der Kolonisierte ausgesetzt sind, ist die Möglichkeit des gewaltsamen Todes oder der Lebens- als Todesgeschichte. Diese Nekropolitik wurde in kolonialen Systemen praktiziert; aber auch nicht- oder de-koloniale Gesellschaften weisen heute solche Strukturen auf. Fleury rekurriert auf Judith Butlers und Frédéric Worms´ Beschreibung des unerträglichen, „unlebbaren“ Lebens „des deklassierten, mehr als prekären, heimatlosen Menschen“ (75), der, ständiger Ungewissheit ausgesetzt, zum Gefangenen seines Kampfes ums tägliche Überleben wird. In diesem Zustand kann das Subjekt sich nicht äußern und findet keine Anerkennung. Daher müsse Fürsorge politisiert, entgendert und Thema der Demokratie werden.

In Fanons Verdammten der Erde wurde, von Sartre sekundiert, die verlorene Würde und damit das Gefühl von Souveränität und Zugehörigkeit mit Gewalt zurückerobert. In dieser Hinsicht hat Würde Bezug zu kollektiver Identität und ist durch die Kategorie des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ in der Erklärung der Menschenrechte (1948) rechtlich verankert..

Die Kritik der globalen Ungleichheit samt ihrer Plutokraten ist überschrieben mit Das Unwürdig-Werden der Welt. Fleury sieht einerseits in der Würde als positives Recht eine Errungenschaft der Moderne, andererseits definiert sie die Moderne als „systematische Fabrik des Würdeverlusts für das Subjekt“. Die Klimakrise als Realität des Anthropozäns zeitige einerseits globale Mobilität, andererseits „entropische Kollapserfahrungen“ (84) und die Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in fossilen Wirtschaftssystemen.

Angesichts dieser Konstellation diagnostiziert Fleury mit Achille Mbembe ein „Brutalistisch-Werden der Welt“. Durch die Exzesse des Neoliberalismus konstituiere sich Macht als Fragmentierung, Erschöpfung, Verarmung und Proletarisierung und sei vergleichbar mit der kolonialen Brutalität gegen Mensch und Natur.

Ein Aspekt dieser gnadenlosen Normalisierung der Entwürdigung ist die systematische Ausgliederung und Entmündigung von Menschen in Lagern, wie sie bereits Zygmunt Bauman analysiert hat.

Solche Zustände provozieren Rückzug, Burnout, Ressentiments und politische Emotionen, allen voran Empörung. Doch mit Stéphane Hessels Aufruf Indignez-vous/Empört Euch (2010) wird, wie Fleury im letzten Kapitel darlegt, so leicht keine politische Schlacht gewonnen. Zwar vermag Empörung durch politisch wirksame performative Aktionen eine gewisse Zeit die öffentliche Meinung und Debatten zu beherrschen, doch oftmals entpuppten sich die Inszenierungen solcher „Empörungsgemeinschaft“ (110) als Selbstzweck, und ihre emotionale Aufladung verhindere Kompromisse und manövriere die Kampagnen ins Abseits.

In der Rhetorik der Empörung überschneiden sich zudem Würde und Ehre, eine Entwicklung, die Fleury den Medien und sozialen Netzwerken zuschreibt, die als panoptische Machtzentren die Würde gefährden, indem sie die Sprache in den Dienst der Entehrung, Diffamierung und Klassifizierung stellen. Ihnen setzt Fleury die Hoffnung auf die Herstellung würdiger zwischenmenschlicher Beziehungen in der Care-Ethik als Handlungstheorie entgegen, die über die Fürsorge Politik neu begründet soll. Diese konzipiert sie im Verbund mit Ansätzen aus John Deweys demokratischer Pädagogik, Ivan Illichs Theorie der konvivialen Gesellschaft sowie der Reanimierung der Commons-Theorie. Eine solche Fokussierung auf das Gemeinsame würde das private Eigentum als Wert relativieren, da dieses Gemeinsame Engagement und Verantwortung verlange und idealiter die soziale und ökologische Gerechtigkeit mit der demokratischen Teilhabe und ökonomischen Gleichheit verbinden könne.

Im Epilog fordert die Autorin die Akteure der „Klinik der Würde“ auf, all die Fälle der Unwürde zu analysieren und zu dokumentieren, da mit der Revitalisierung qualitativer zwischenmenschlicher Beziehungen ein Gegengewicht zum herrschenden quantifizierenden biopolitischen Regime geschaffen werde. Fraglich bleibt freilich, ob durch solche care-ethische Maßnahmen der gleichberechtigte Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, der in den Demokratien während der letzten Jahrzehnten zugunsten der Privatisierung preisgegeben wurden, auch nur annähernd kompensiert werden kann.

Fleurys Analyse des Begriffs der Würde und seine theoretische und praktische Erweiterung ist nachvollziehbar, und ist auch an der Zeit. Der Begriff der Klinik jedoch erscheint mir nur dort plausibel, wo es tatsächlich um die im Argen liegenden Zustände in den realen Institutionen der Pflege etc. geht. Hier wäre darüber hinaus eine ökonomische und eine politische Kritik der zunehmend börsennotierten, gewinnorientierten Organisationsformen dieser Einrichtungen als eine der Hauptursachen des Versagens angebracht.

So mag ihr Fürsorge- oder Care-Ansatz durchaus ein hehres Ziel sein; aber mit ihm allein ist es nicht getan. So sind spätestens seit der Corona-Epidemie die Forderungen der Care-Beschäftigten bekannt; und es ist zudem fraglich, ob ihre aufrichtigen Bemühungen um die Würde und deren Materialisierung wirklich greifen, wenn von ihr die Löhne und Arbeitszeiten kaum thematisiert werden. Zwar lassen sich in der Tat Würde und Selbstwert schwerlich gegen Geld aufrechnen; aber dies kann kein Argument gegen anständige Löhne in der „Klinik der Würde“ sein.

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