Die Rolle der Medizin im Nationalsozialismus wurde bald nach seinem Zusammenbruch kritisch aufgearbeitet. Ebenso die Rolle der Justiz. Über die Anpassung der Philosophie ans Hitler-Regime herrschte dagegen – abgesehen von prominenten Einzelfällen (Heidegger, Rosenberg) – lange Zeit Stillschweigen. Die Behandlung der „Philosophie im Faschismus“ im WIDERSPRUCH (Heft 13, 1987) war damals eine, auch von Massenmedien anerkannte, Pionierleistung. Dokumentiert und kritisiert wurden nicht nur das philosophische Lehrangebot der LMU München (1933-1945), sondern auch die einschlägigen Publikationen zur Philosophie in dieser Zeit. Ergänzt wurden die Beiträge durch ein Interview mit Hermann Krings (1913-2004), der die Vorgänge an der Münchner Universität aus nächster Nähe erlebt hatte.

Hermann Krings war von 1968 bis 1980 Ordinarius des philosophischen Lehrstuhls II an der LMU. Zur selben Zeit war er Vorsitzender des Deutschen Bildungsrats, Generalsekretär der Görres-Gesellschaft und Herausgeber des Philosophischen Jahrbuchs. An die Münchner Universität kam er bereits 1936, als Student. Er folgte seinem Lehrer und späteren Doktorvater Fritz-Joachim Rintelen, der in diesem Jahr auf den Konkordats-Lehrstuhl berufen wurde. Sein soziales Umfeld war die katholische Studentenverbindung Rheno-Bavaria sowie der katholische Hochland-Kreisum den Schöningh-Verlag. In dieser Zeit war Krings auch eng mit dem Psychotherapeuten und katholischen Religionsphilosophen Fritz Leist und dem Mediziner Willi Graf befreundet, über die er in Verbindung zur Widerstandsgruppe der Weißen Rose um die Geschwister Scholl stand. Aus dieser Perspektive beobachtete und beurteilte er die zunehmende Politisierung der Philosophie während des Nationalsozialismus.

Nicht zur Sprache im Interview kam ein Ereignis, das durch den späteren Inhaber des Konkordatslehrstuhls Max Müller und seine Sekretärin Fräulein Ries verbürgt ist. Hermann Krings wohnte nach der Verhaftung von Willi Graf im Februar 1943 in dessen Schwabinger Wohnung in der Mandlstraße. Dort entdeckte im Schlafzimmer unter dem Bett das Gerät, mit dem Hans und Sophie Scholl die Flugblätter gedruckt hatten, die zu ihrer Verhaftung und schnellen Hinrichtung führten. Die Hinrichtung von Willi Graf, der in Gefängnis Stadelheim einsaß, wurde dagegen noch Monate hinausgeschoben, da die Gestapo hoffte, Geständnisse und Hinweise auf die Widerstandsbewegung herauspressen zu können. In dieser Situation ließ Krings das corpus delicti verschwinden: Er zerlegte die Druckerpresse in Einzelteile und versenkte sie im nahegelegenen Eisbach, einem Seitenarm der Isar.

Die Philosophie zwischen Anpassung und Selbstbehauptung. Gespräch mit Prof. Hermann Krings

Widerspruch: Herr Prof. Krings, Sie sind 1936 an die Münchner Universität gekommen. Was war der Grund, dass sie von der Bonner Universität nach München wechselten?

Krings: Der Wechsel von Bonn beruhte darauf, dass Fritz-Joachim von Rintelen, der schon in Bonn den Konkordatslehrstuhl innehatte, hier auf auf den Lehrstuhl von Joseph Geyser berufen wurde, unter anderem aufgrund seines Buches über den Wertbegriff im Mittelalter und auch, weil er auf diesem Lehrstuhl für die Nazis akzeptabel war. Das hatte auch einen familiären Hintergrund bei von Rintelen. Sein Vater war General gewesen; einer seiner Brüder war Leiter der außenpolitischen Abteilung im Auswärtigen Amt, ein anderer Militärattaché in Rom. Dieser familiäre Hintergrund war sicher auch ein Moment, warum man ihn damals noch akzeptierte. (Das hat dann drei Jahre gedauert.) Ich hatte schon in Bonn in meinen ersten vier Semestern Philosophie bei ihm gehört; wir hatten auch persönlich Kontakt, und er fragte mich dann, ob ich nicht später bei ihm promovieren wolle. So bin ich dann mit ihm hierher gekommen und begann gleich mit der Arbeit an meiner Dissertation.

Hier traf ich eine Gruppe, die sich aus ehemaligen Quickbornern und ehemaligen Mitgliedern des Bundes ,,Neudeutschlands“ zusammensetzte. Der Wortführer dieser Gruppe war Fritz Leist. Im WS 1936/37 haben wir uns kennengelernt. Wir saßen im Bibliotheksraum des philosophischen Seminars I, ich hinter einem Packen von Thomas-Bänden, er hinter einem Packen von Thomas-Bänden, die wir austauschten. Auf diese Weise lernten wir uns kennen.

Widerspruch: War die Möglichkeit, in solch einen schon bestehenden Kreis zu kommen, damals so einfach?

Krings: Das war kein Problem, da gab‘s eine gemeinsame Sprache, das war innerhalb von zehn Minuten klar. Wir kriegten dann hier auch noch Kontakt mit einer Gruppe aus der Kaulbachstraße, aus einer der aufgelösten Gruppen des Bundes „Neudeutschland“. Die Gruppe um Leist rekrutierte sich im großen und ganzen aus dem Saarland und München. Fritz Leist war vorher in Freiburg gewesen, und dieses Dreieck Saarland-Freiburg-München bildete den Rahmen. Innerhalb der Leute aus dem Saarland war auch Willi Graf. Kennengelernt habe ich ihn bei einem Treffen um die Jahreswende 1936/7 auf einer Burg im Odenwald, sie war eine Art Jugendburg; das ging damals noch. (Übrigens der spiritus rector war damals Aloys Goergen.)

Widerspruch: Gab es damals nicht auch die Gruppe „Hochland“?

Krings: Ja, aber das ist ein ganz anderer Zweig. Von Rintelen war gut bekannt mit Franz Joseph Schöningh, dem damaligen Herausgeber von „Hochland“, und der Hochlandkreis traf sich an zwei oder drei Mittagen um 2 Uhr in einem Café am Odeonsplatz. Dahin kamen auch Theodor Haecker, Joseph Bernhart und einige andere Literaten.

Widerspruch: Wie stark wirkte der Hochlandkreis denn auf die Ideenbildung an der Universität?

Krings: Praktisch nicht. „Hochland“ wirkte in die katholischen Akademikerkreise hinein, aber für die Universität ist er kein Faktor gewesen.

Widerspruch: Können Sie über die damalige Situation an der Universität etwas sagen? Sie hatten einmal angedeutet, dass sie für die jüngere Generation nicht mehr recht nachvollziehbar sei.

Krings: Die Universität ist erst durch den NS-Studentenbund politisiert worden. Das hatte ich schon 1935 in Bonn erlebt, wo, wenn sich mal irgendwo ein Protest meldete, der betreffende Student gleich rausgeschmissen wurde. Das waren Massenveranstaltungen; in der Universität selbst war für politische Diskussionen kein Raum. In München bestand noch, und zwar durchaus aktiv, eine Gruppe des Älteren-Bundes ,,Neudeutschland“.

Widerspruch: Hat sich das Lehrangebot an der Universität geändert?

Krings: Praktisch nicht. Von Rintelen hat einmal eine Mittelalter-Vorlesung unter dem Titel ,,Albert der Deutsche“ angekündigt, anstatt ,,Albert der Große“; aber er hat dort mittelalterliche Philosophie vorgetragen. Aloys Wenzl ist ja schon 1936, soviel ich weiß, von der Uni geflogen, wurde dann wieder Studienrat, war dann zuerst in Schwabing am Gymnasium, wurde dann aber auch aus München verwiesen und war dann Lehrer in Ingolstadt. Insofem erscheint sein Name natürlich nicht mehr in den Vorlesungsverzeichnissen.

Widerspruch: Haben Sie noch in Erinnerung, wie von Rintelen ,,beurlaubt“ wurde? Wie hat er das aufgenommen?

Krings: Das wird ein Roman, wenn ich Ihnen das erzähle. Also: von Rintelen hatte gute Beziehungen nach Berlin, und zwar weniger über seine Familie als über eine KV-Verbindung. Da waren ein paar gute Leute in Berlin in höheren Stellungen im Kultusministerium, im Wirtschaftsministerium und so. Er setzte dann seine Verbindungen in Bewegung, um eine Wiederbesetzung seines Lehrstuhls zu verhindern. Es bestanden hier Bestrebungen, aus dem Konkordatslehrstuhl einen Lehrstuhl für nationalsozialistische Weltanschauung zu machen. Ich bin zweimal mit ihm nach Berlin gefahren. Er hat den Gegensatz Preußen – Bayern ausgespielt und den Preußen gesagt, die Bayern wollen da jetzt etwas eigenes machen. Und er hat es tatsächlich fertiggebracht, dass der Lehrstuhl nicht wieder besetzt wurde.

Widerspruch: Eine Frage zur Bibliothek im Institut. Welche Literatur wurde damals angeschafft?

Krings: Da der Lehrstuhl vakant war, mussten die Rechnungen vom Dekan unterschrieben werden. Das war damals der Altphilologe Dirlmeier. Es ist möglich, dass er der Partei angehörte; aber er war ein fabelhafter Mann, der alles gedeckt hat. Darauf war völliger Verlass, auch auf die Sekretärin; das ging prima.

Widerspruch: Gab es keine „Reinigung“ der Bibliothek?

Krings: Nein. Baeumler wurde angeschafft, Rosenberg wurde nicht angeschafft. Die Naziliteratur wurde bei uns nicht angeschafft.

Widerspruch: Trotz Hans Grunsky?

Krings: Das war das andere Seminar und der andere Lehrstuhl; wir waren Konkordatslehrstuhl. Wir haben praktisch nur mittelalterliche Literatur angeschafft. Ich weiß, dass damals die Leibniz-Ausgabe anlief; solche Sachen kosteten schon den halben Etat. Da war überhaupt kein Raum für Nazizeug.

Widerspruch: Haben Sie Grunsky gehört?

Krings: Ja, bei ihm habe ich mehrere Lehrveranstaltungen mitgemacht. Er hat mich auch im Rigorosum geprüft. Grunsky war nicht habilitiert; ob er promoviert war, galt nicht als sicher. Mit der Philosophie hatte er seine Probleme. Übrigens war er behindert, wurde im Rollstuhl gefahren, auch ins Seminar und in sein Zimmer. Er hatte sich zunächst auf Jakob Böhme geworfen und hat dann eine abenteuerliche Vorlesung über Platon gehalten, der im Sinne des Nazi-Führertums interpretiert wurde: der Archont war der Führer, und die Phylakes waren die SS und die SA; dann kam noch der Reichsnährstand. Das trug er in der Vorlesung vor, und so wurde aus Platon der große Philosoph des ,.Dritten Reichs“.

Widerspruch: War das für sie damals schon abenteuerlich?

Krings: Ja, sicher.

Widerspruch; Gab es nicht Äußerungen, dass das nichts mit Platon zu tun hat – wenigstens nach der Vorlesung?

Krings: Ja, unter uns haben wir darüber gesprochen. Ich hatte das große Glück, dass Grunsky, als ich ins Rigorosum kam, gerade dabei war, sich Kant anzueignen. Ich habe Kant dann auch vorgeschlagen und brachte sehr schnell die Rede auf die transzendentale Deduktion. Er ließ mir 20 Minuten Zeit, und ich habe ihm dann die transzendentale Deduktion erläutert. Er hat sich das angehört und mir dann, glaube ich, auch ein ,,sehr gut“ gegeben.

Widerspruch: Es bestand doch ein sehr starkes Interesse, die deutsche Tradition der Philosophie aufzuarbeiten und darzustellen. Haben Sie etwas davon mitbekommen, dass an der Universität mehr und mehr die nicht-deutschen Traditionen, z B. die französische, ausgeblendet wurden, und die deutsche von Meister Eckhardt über Böhme bis zum deutschen Idealismus betont wurde?

Krings: Ja, bei Grunsky war das ganz deutlich, bei den anderen nicht. Kurt Schilling hat eine Vorsokratiker-Vorlesung gehalten, die ganz normal war wie auch die über den deutschen Idealismus. Ich weiß nicht, ob Schilling Parteigenosse war, Es könnte gewesen sein, aber er galt bei uns nicht als Nazi.

Widerspruch: Gab es eigentlich irgendwelche Formen der Auseinandersetzung?

Krings: Nein, die gab’s nicht, sondern es gab eine große Technik der Tarnung.

Widerspruch: Gerade das kann man sich heute nur schlecht vorstellen.

Krings: Ja, aber in dem Moment, wo Sie in irgendeiner Form in eine Auseinandersetzung traten, konnte es sein, dass sie am nächsten Tag schon im KZ waren. – Nun war schon Krieg. Während des Krieges hörten wir ausländische Sender. Es war bekannt, dass Leute wegen Abhörens denunziert worden waren, selbst von Nachbarn, wenn es während der Sendezeiten in den Wohnungen still geworden war. Bei von Rintelen hatten wir einen ganz guten Apparat. Da waren wir zu dritt oder viert, und zwei wurden dann abgeordnet, Krach zu machen, zu streiten, laut zu reden; die anderen saßen unter einer Decke am Apparat und hörten die Nachrichten.

Widerspruch: War das, was die Nazis, was Grunsky oder vielleicht auch Schilling an die Universität bringen wollten, für Sie überhaupt diskussionswürdig?

Krings: Was Grunsky sagte, nicht. Das war nicht diskussionswürdig, das galt bei uns als weltanschaulich nationalsozialistisch. In den Vorlesungen anderer Dozenten kam das Weltanschauliche inhaltlich nicht zur Geltung.

Widerspruch: Hatten Sie Kontakt zu Prof. Kurt Huber?

Krings: Ja. Der Umgang mit ihm war nicht ungefährlich, weil Huber sehr temperamentvoll war. Nach der Vorlesung kam er häufiger ins Seminar, und da gingen dann auch die Diskussionen los, die zum Teil sehr heftig waren. Wir stimmten natürlich mit ihm überein, aber er war dann oft laut. Es gab ja nur eine Tür zum Seminarraum, und wir wussten nie so genau, wer da saß. Es war immer etwas schwierig, ihn auf die Lautstärke herunterzubringen, die nicht gefährlich war. Zum Teil war es auch sehr schwierig, weil er nach unserer Meinung sehr phantastische, irreale Vorstellungen hatte.

Widerspruch: Deutschnationale, idealistische?

Krings: Nein, sondern in Hinblick auf die Möglichkeiten, eine politische Wende herbeizuführen.

Widerspruch: Eine daran anschließende Frage: Heute wird oft gesagt, die Kirchen hätten sich deutlicher angesichts der Judenverfolgungen und anderer Verbrechen zu Wort melden müssen. Hatten Sie damals auch die Vorstellung, dass die noch bestehenden Organisationen Widerstand hätten leisten müssen?

Krings: Organisationen bestanden damals ja nicht mehr. Ich bin einmal beim Katholikentag 1982 gefragt worden – es ging um eine Sache 1940/41 –, warum die Kirchen und die SPD sich denn nicht zusammengetan hätten. Da habe ich gesagt, weil die SPD seit acht Jahren nicht mehr bestand. Ja, aber solche Vorstellungen bestehen heute. Es gab keine Organisation; es gab im Untergrund Kontakte mit Gleichgesinnten. Auch in anderen Schichten bestanden solche Kontakte, in der Arbeiterschaft, auch beim Militär.

Was die Kirche angeht, so kann man zweierlei sagen: erstens, einen lautstarken Protest hätten wir für wenig wirksam gehalten, abgesehen davon, dass solche Proteste sich immer nur auf Gerüchte stützen konnten, außer bei den Euthanasiemaßnahmen. Wichtiger war aber zweitens, dass durch die Hierarchie Kleriker, aber auch Laien zurückgehalten wurden, oder dass es gar als moraltheologisch bedenklich angesehen wurde, Widerstand zu leisten. Das hat uns mehr irritiert, als dass da keine großen Geschichten passierten. Von Aktionen der Kirchen hätten wir uns nichts versprochen. Es wären dann fünfhundert Leute mehr ins KZ gekommen, und die Sache wäre erledigt gewesen. Das ist ja alles für die Nazis kein Problem gewesen. Die Taktik der Kirche war wohl, die Zahl der Opfer in Grenzen zu halten.

Wann man gegen die Judenvernichtung wirklich etwas hätte sagen und machen können oder sollen, ist außerordentlich schwer zu sagen. Ich gehörte zu denen, die, soweit es möglich war, Informationen suchten. Aber die ersten Informationen über Erschießungen von Juden habe ich erst durch Willi Graf erhalten, nachdem er aus Russland zurückgekehrt war. Aber auch er hat nur andeutungsweise davon gesprochen.

Widerspruch: Gab es in den Kreisen, zu denen Sie Zugang hatten, nicht auch Diskussionen über die moralische oder theoretische Begründung von Widerstand?

Krings: Ja, doch muss die Frage wohl für verschiedene Kreise verschieden beantwortet werden. Innerhalb des kleinen Umkreises bei mir in der Siegfriedstraße – das war meine Bude –, war die Diskussion religiös bestimmt. Wir hatten regelmäßige Abende, an denen wir Schriftlesungen machten, das Alte Testament vor allem. Wir haben uns aber auch intensiv mit Literatur beschäftigt; das ist ja auch von Willi Graf und den Geschwister Scholl bekannt. Diese Beschäftigung war auch durch Guardini angeregt worden; sein Hölderlin-Buch war eine wichtige Sache für uns. Dann spielten auch die Sonette von Reinhold Schneider eine Rolle. Sie wurden vervielfältigt herumgereicht, da sie ja damals im Druck nicht erscheinen durften. Jeder hatte sie; es war erstaunlich. Wir haben viele gemeinsame – heute würde man sagen – interne Seminare gemacht.

Widerspruch: Da gab es doch sicher Auslegungs- und Interpretationsfragen …

Krings: Nein, die Texte wurden nicht aktualisiert ( – wie heute allenthalben). Sie waren ein Bollwerk gegen den aktuellen Ungeist. Der Nationalsozialismus war kein Partner für eine geistige Auseinandersetzung.

Widerspruch: Wie kam es eigentlich dazu, dass man dem Nationalsozialismus so freie Hand ließ?

Krings: Dass es keine geistige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gab, hat mehrere Gründe. Zunächst: Es lag uns fern, den Nationalsozialismus auf eine ähnliche Basis zu stellen wie den Sozialismus, obwohl er ja viele sozialistische Züge gehabt hat. Aber man konnte ihn nicht auf die geistigen Grundlagen der sozialistischen Bewegung Anfang des Jahrhunderts zurückführen. – Ferner: Die ganze politische Schubkraft kam aus der negativen Entwicklung der Republik in den zwanziger Jahren. Der Versailler Friedensvertrag galt als das nationale Ärgernis, und die Weimarer Republik war eine Folge dieses Vertrages etc. In den dreißiger Jahren kamen zu den negativen nationalen Emotionen durch die Weltwirtschaftskrise und die riesige Arbeitslosigkeit die wirtschaftliche Not hinzu. Die Auseinandersetzungen fanden zunächst in den Straßenkämpfen zwischen SA und Rotfront statt. Später gingen sie im Massenrausch der Aufmärsche und in der Massenfaszination unter, die von den Reden ausgingen, die unsereiner ohnehin nur mit Qualen anhörte. – Rosenberg spielte in der politischen Bewegung nur eine Randrolle.

Widerspruch: Auch in München?

Krings: Ich habe keine Erinnerung an eine öffentliche Veranstaltung hier mit Rosenberg.

Widerspruch: Es ist ja doch erstaunlich, wie viele Philosophen im Dritten Reich sich den Nazis anschlossen. Wie konnte man dem entgehen? Von Rintelen etwa hat es ja geschafft.

Krings: von Rintelen war von einem nahezu krankhaften Hass auf die Nazis beseelt. Dieser Hass konnte auch gefährlich werden.

Widerspruch: Hat von Rintelen – ebenso wie Sie – damals den Versuch gemacht, den Nationalsozialismus als ,,Herrschaft des Bösen“ zu begreifen?

Krings: Ich kann mich nicht erinnern, dass ich damals die Kategorie des Bösen gebraucht hätte. Das ist ein Interpretationsbegriff, den ich heute im Rückblick auf damals gebraucht habe.

Widerspruch: … aber die Geschwister Scholl hatten in ihren Flugblättern die Nazi-Diktatur mit der ,,Herrschaft des Bösen“ verglichen.

Krings: Ja, das ist schon ein Stück weiter; und es beruhte, wenn ich das recht sehe, auf ihren Erfahrungen im Sommer 1942 in Russland. Ich war nicht in Russland.

Widerspruch: Also gründete ihr Widerstand mehr auf der direkten Erfahrung als auf theoretischer Reflexion …

Krings: Dafür fehlten damals auch Informationen. Man war sich über das Ausmaß von Verbrechertum nicht im Klaren, – das wusste man nicht.

Widerspruch: Und als es bekannt wurde, war die Hauptaufgabe nicht die philosophische Bewältigung.

Krings: Da ging alles schon dem katastrophalen Ende zu: Bombenangriffe, tausendfacher Tod, Hunger … Das Ausmaß der Verbrechen kam erst 1944 heraus, nach dem 20. Juli. Aber dann wusste man auch schon, dass das Ganze in absehbarer Zeit zu Ende sein würde. Und das war das einzige, was einen dann noch beschäftigte.

Widerspruch; Das heißt also, die Frage nach der moralischen oder religiösen Legitimation des Widerstandes wurde nicht gestellt?

Krings: Die Legitimationsfrage spielte in dem Umkreis, in dem ich war, keine Rolle. – Aber abgesehen davon waren wir – hier meine ich wieder den Kreis um Fritz Leist, Emst Müller u. a. – der Meinung, dass jede Aktion sinnlos ist. Ich habe zusammen mit Fritz Leist im Januar 1943 noch ein abendliches Gespräch mit Willi Graf gehabt. Wohlgemerkt: die Flugblätter waren schon da; wir hatten sie auch und wir wussten, woher sie kamen, obwohl es uns niemand gesagt hatte. Auch Willi Graf hatte es uns nicht gesagt, aber er wusste, dass wir es wussten, und wir wussten, dass er es wusste … Dieses Gespräch ist in Schweigen übergegangen, weil er zu der Aktion schon entschlossen war, ja schon mitten in ihr stand. Er hatte ja die bekannte Flugblatt-Reise schon hinter sich, was wir nicht wussten. Wir haben ihm dringend geraten, von diesen Dingen Abstand zu nehmen. Ein Argument war auch, dass wir das Gefühl hatten, dass die Scholls zu wenig Erfahrung mit der Gestapo gehabt hatten. Fritz Leist und auch Willi Graf waren schon 1936 verhaftet gewesen. Es hat einen Prozess in Mannheim gegeben; einige sind verurteilt worden. Durch die Amnestie anlässlich der Besetzung Österreichs kamen sie wieder frei.

Widerspruch: Haben Sie etwas von dem Scholl-Prozess erfahren? Er lief ja innerhalb einer Woche ab.

Krings: Nein. Ich habe nur indirekt etwas mitbekommen, da ich um diese Zeit aus dem Lazarett entlassen wurde und nur sporadisch Kontakt hatte.

Widerspruch: Nach 1945 waren Sie wieder in München. Eine ganze Reihe von Leuten, die an der Universität gelehrt hatten, wie etwa Hans Grunsky, waren wieder da. Empfanden Sie das als selbstverständlich?

Krings: Grunsky war 1946 meines Wissens nicht an der Universität. Einen ausgesprochen ärgerlichen Fall habe ich nicht erlebt. Nun habe ich nur einen relativ kleinen Sektor gesehen. Ich glaube, die auffälligen und gefährlichen Nazis waren weg – also z. B. ein Typ wie Spindler, der Anglist, und auch Wüst, der Nordist. Sie waren nicht mehr da.

Widcrspruch: Fanden Sie Grunsky gefährlich?

Krings: Ja, insofern er ein rückhaltloser Parteigänger gewesen ist. Aber ich glaube nicht, dass er sich die Denunziation zu einer Aufgabe gemacht hat. Das war wohl auch bei seiner körperlichen Verfassung sehr schwierig; er war darauf angewiesen, dass ihm etwas zugetragen wurde. Ich kenne keinen Fall einer Denunziation durch Grunsky.

Widerspruch: Auch von Rintelen hatte Schwierigkeiten, nach München zurückzukehren …

Krings: … das ist ein sehr trauriges Kapitel. Ich habe von Rintelen ja gut gekannt, und er ist wirklich alles andere als ein Nazi gewesen. Aber er hat damals, als er beurlaubt wurde, an das Kultusministerium Verteidigungsschreiben gerichtet und darin auch behauptet, man könne ihm gar nichts vorwerfen, er habe nie etwas gegen den Nationalsozialismus gesagt. Diese Akten wurden dann später herausgeholt. Ich habe noch, ebenso wie auch Fritz Leist, eine eidesstattliche Erklärung für ihn abgegeben. Aber dann kamen unglückliche Umstände dazu, so dass aus seiner Rückkehr nach München nichts wurde. Er war inzwischen Professor der Philosophie an der Universität Mainz geworden.

Widerspruch: Ein Rätsel sind Leute wie Nicolai Hartmann, der bis zum Schluss auf seinem Lehrstuhl in Berlin geblieben war, obwohl aus seinen Schriften nicht erkennbar ist, dass er sich angepasst hätte. Wissen Sie, wie Hartmann das gemacht hat, oder was die Nazis sich davon versprochen hatten, ihn auf dem Lehrstuhl zu belassen?

Krings: Was ich hier geschildert habe, hat sich alles im Umkreis eines Konkordatslehrstuhls abgespielt. An den anderen Lehrstühlen wurde, wenn auch unter starken kriegsbedingten Einschränkungen, weiter gearbeitet, so lange keine antinazistischen Aktivitäten beobachtet wurden. Wenn Kurt Huber nicht in die Aufdeckung des Widerstandes der „Weißen Rose“ hineingekommen wäre, hätte auch er bis zum Ende des Krieges gelesen. Seine Leibniz-Vorlesungen waren qualitative, gute philosophische Vorlesungen ohne irgendeine politische Tendenz, und die hätte er auch noch zwei oder drei Jahre weiter machen können. Für das Militär kam er ohnehin nicht in Betracht. Und so hat es viele gegeben, die einfach dageblieben sind, weil sie nicht aufgefallen sind. Die Berliner Situation habe ich nicht gekannt. Aber Nicolai Hartmann ist sogleich nach dem Krieg Ordinarius in Göttingen geworden; also kann er sich nicht den Nazis angepasst haben.

Widerspruch: Aber was haben sich die Nazis davon versprochen, dass sie ihn oder auch Prof. Huber haben weiterlehren lassen? Sie haben doch auch andere Bereiche der Gesellschaft rigoros auf ihre Linie gebracht.

Krings: Das liegt genau an dem Defizit, warum auch keine Auseinandersetzung mit den Nazis möglich war. Sie hielten diese Art von Philosophie für absolut belanglos und für politisch völlig uninteressant. Wenn die Professoren da von ihrer Metaphysik und Ontologie redeten, so galt das gar nichts. Es musste erst in irgendeiner Form ein anderer, politischer oder weltanschaulicher Faktor da sein, wenn es zu einem Vorgehen kam.

Widerspruch: Heißt das, dass das ursprüngliche Interesse der Nationalsozialisten, die Universitäten in den Griff zu bekommen, scheiterte?

Krings: Ja, aber nicht, weil die Universitäten einen nennenswerten Widerstand geleistet hätten, sondern weil die Universität überhaupt kein Instrument des Nationalsozialismus gewesen ist und auch nicht sein konnte. Nochmals: Der Nationalsozialismus war anders als der Sozialismus. In den sozialistischen Staaten sind die Universitäten und Akademien ein wichtiger Faktor. Für den Nationalsozialismus spielten sie keine Rolle. Sie mussten natürlich ,,gleichgeschaltet“ werden; es kamen nur Leute in Führungspositionen, die Nationalsozialisten waren, und da, wo Weltanschauung hineinspielte, wurde versucht, die nationalsozialistische Weltanschauung zur Geltung zu bringen. Aber auch die Verweisung von Rintelens von der Münchner Universität geschah im Grunde nicht wegen seiner Philosophie, sondern weil er einen Konkordats-Lehrstuhl innehatte.

Widerspruch: Wenn Sie damals eine Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Ideologie nicht für sinnvoll gehalten haben, würden Sie das heute ebenfalls sagen?

Krings: Für eine philosophische Auseinandersetzung sehe ich nach wie vor keinen Ansatzpunkt. Ich wüsste nicht, auf welche Texte ich mich beziehen sollte. Nennen Sie mir irgendwelche halbwegs ernstzunehmende Texte, die diese absurden Positionen zu begründen versuchen. Das Ganze ist ein historisches Phänomen, mit dem man sich sicher auseinandersetzen muss, auch im Hinblick auf seine politischen, sozialen, auch sozialpsychologischen Gründe. Handelte es sich vielleicht um die Folge einer nicht stattgefundenen Revolution, um den Rückschlag einer Revolutionsbewegung in einer völligen Verquerung? Auch die Hypertrophie des nationalstaatlichen Denkens ist inzwischen ein historisches Phänomen, – wenigstens für Europa.

Widerspruch: Sind Sie also dagegen, philosophiegeschichtliche Traditionslinien in den Nationalsozialismus hineinzuziehen, nach dem Motto: ,,von Hegel bis Hitler“?

Krings: Gewiss gibt es ,,Linien“; das zeigt schon der Name ,,Drittes Reich“. Aber man kann den Nationalsozialismus weder auf Hegel noch auf Nietzsche zurückführen, noch gar einen Kausalzusammenhang herstellen. Der Nationalsozialismus war eine politische Emotion, nicht eine politische Philosophie. – Eine andere Sache ist, dass auch bedeutende Zeitgenossen für diese Emotionen anfällig gewesen sind. Heidegger ist ein Fall und in der Dichtung etwa Gottfried Benn. Doch mit philosophischer Tradition hat das nicht viel zu tun.

Widerspruch: Sind Sie also der Auffassung, die Philosophie habe als geistige Institution die Zeit des Nationalsozialismus passiert, ohne inhaltlich tangiert worden zu sein, – als ,,Philosophia perennis“, die geblieben ist, was sie war?

Krings: Ja, das würde ich schon meinen. Die philosophischen Traditionen, die kantische, nachkantische und neukantianische wie auch die der klassischen Philosophie, sind vom Nationalsozialismus wenig tangiert worden. Der Einbruch in die philosophische Tradition in Deutschland ist nicht von den Nazis gekommen, sondern aus dem angelsächsischen Bereich.

Widerspruch: Nun, wenn man mit geschärftem Auge hinsieht, merkt man doch eine Menge Anpassung und Assimilation.

Krings: Gewiss, da hat sich eine bestimmte Art von Vortrag der Philosophie an den Nationalsozialismus angepasst. Aber es ist nicht so, dass der Nationalsozialismus eine Philosophie im Sinne der europäischen Tradition hervorgebracht oder ihm eine Philosophie zugrunde gelegen hätte.

Widerspruch: Herr Prof. Krings, wir danken für dieses Gespräch.

Für den Widerspruch nahmen an dem Gespräch teil: Wolfhart Henckmann, Alexander von Pechmann und Elmar Treptow.

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