Eva Horn
Klima. Eine Wahrnehmungsgeschichte
geb., 608 Seiten, 8 Farb- und 23 S/W-Abbildungen, 34,- €
Frankfurt/Main 2024 (Fischer-Verlag)
von Olaf Sanders
Eva Horn beginnt ihre Wahrnehmungsgeschichte mit einer kleinen Erzählung von einem Besuch im PS1, einem Museum für zeitgenössische Kunst im New Yorker Stadtteil Queens, das seit der Jahrtausendwende zum Museum of Modern Art gehört. Schaut man sich das Museum auf Google Maps an, so sieht man das geöffnete Dach, das den Himmel freigibt in James Turrells Installation Meeting von 1986, die im Bildteil von Horns Buch auch abgebildet ist. Als Horn den Raum betritt, sitzt niemand auf den Bänken des „sehr hellen und überraschend kalten Raum[es]“ (9). Horn vermutet, dass die Heizung ausgefallen sei, bis ein Vogel durch das Bild fliegt und ihr auffällt, dass das Bild der blaue Himmel über ihr ist. Wie bei vielen Installation Turrells entpuppt sich das Bild als diffuser Raum. Turrell führt einen gleichsam zwischen die Dimensionen – und dieses Anliegen scheint Horn mit ihm zu teilen, indem sie eine verlorengegangene Dimension wieder hinzuzufügen versucht: „Dieses Buch ist der Versuch, das Klima aus genau jener sinnlichen, kulturellen und historischen Perspektive in den Blick zu nehmen, die dem naturwissenschaftlichen Zugang fehlt“ (16).
Es geht ihr also um die Wiederergänzung dessen, was der auf Messdaten und Evidenz basierenden Klimaforschung fehlt und durch deren Dominanz im Klimadiskurs marginalisiert wurde bzw. aus ihm weitgehend verschwunden ist. Dieses Bild möchte Horn durch eine „Aisthesis des Klimas“ (21) vervollständigen, die „auf ästhetische Darstellungen angewiesen“ ist. Obwohl sie gleich im Anschluss einen Ausspruch des englischen Malers William Turner zitiert, spielen jedoch bildende Kunst, Film, Architektur oder Musik im Vergleich zur Literatur eine deutlich geringere Rolle.
Im ersten Kapitel fragt Horn, was Klima gewesen ist, bevor es das „durchschnittliche Wetter“ wurde. Sie kehrt dafür zu Hippokrates zurück, für den Heilung mit dem Verständnis des Einflusses des Orts auf die ins Gleichgewicht zu bringenden Körpersäfte verbunden gewesen sei, und zu Vitruv, der die medizinische Perspektive mit der geographischen verbunden habe, die sich noch in den „Klimazonen“ ausdrückt. Die Luft erweist sich als planetares Medium. Von der meteorologischen Medizin legt, wie Horn eingangs des zweiten Kapitels zeigt, noch Flauberts Roman Madame Bovery Zeugnis ab. Die Konstanz der klimatischen Verhältnisse werde durch Winde dynamisiert, die „invasiv, gewalttätig, reinigend und zerstörerisch“ (69) sein können und „kulturhistorisch also einen zweischneidigen Ruf“ (71) haben. Winde transportieren Miasmen, „schädliche Ausdünstungen des Bodens oder stehender Gewässer, Produkte von Fäulnisprozessen oder stark riechende Substanzen, Exhalationen von Menschen und Tieren“ (74) , die lange als „‚Befleckung‘ der Luft“ (75) und Verursacher von Epidemien galten. Noch in Manns Novelle Der Tod in Venedig geht Gustav von Aschenbach als „Meteopath“ (75) zugrunde, obwohl Robert Koch den Cholera-Erreger längst als aquatisches Bakterium identifiziert hatte. Dessen ungeachtet zeigt die Covid-19-Pandemie, dass „Luftkrankheiten“ nie ganz verschwunden waren. Im dritten Kapitel rekonstruiert Horn die Genese einer thermischen Anthropologie, die zur Stereotypenbildung bis zum Rassismus in Kultur- und Kolonialgeschichte beigetragen haben.
Im vierten Kapitel wendet sie sich Herder zu, der den Menschen in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit als „‚Zögling‘ des Klimas beeinflusst, aber nicht determiniert“ (163) sah und die „Sklaverei als klimatisches Verbrechen“ (172) bestimmt hatte. Flankiert wird dessen Auffassung durch Alexander von Humboldt, für den, wie er in Kosmos ausführt, „die Einheit des Menschengeschlechts“ (164) in ihrer ganzen Diversität „jeder unerfreulichen Annahme von höheren und niederen Menschenracen [widerstrebt]“ (ebd.). Horn zeigt sich als große Kennerin der Kolonialliteratur, wobei sie vor allem Louis Couperus’ Roman Die stille Kraft, der auf deutsch kaum noch zugänglich ist, einer ausführlichen Analyse unterzieht. In seinem Roman wirkt das „koloniale Klima“ als „anti-kolonialer Widerstand ohne Subjekt“ (191), der die Akklimatisierung der Niederländer in Indonesien verunmöglicht. Als theoretische Zeugen für die Wirkung des Animismus’ ruft Horn vor allem Davi Kopenawa und Eduardo Viveiros de Castro auf. Aus systematischer Hinsicht wäre hier als Anschluss an das Projekt von Herder und Humboldt – auch im Hinblick deren Aktualisierung, die Horn mitbetreibt – ein Bezug auf die großen Bücher von Philippe Descola Jenseits von Kultur und Natur und Die Formen des Sichtbaren wünschenswert gewesen.
Das umfangreichste fünfte Kapitel trägt den Titel „Himmel – Erde – Luft: Die Atmosphäre“ und untergliedert sich in drei Unterkapitel, die bereits behandelte Themen vertiefen. Horn beginnt mit der kontrastierenden Analyse zweier Luftreisen anhand des Gedichts des indischen Dichters Kalidasa Wolkenbote und Jules Vernes Abenteuerroman Fünf Wochen im Ballon. Während das Gedicht „den Himmel mit der Erde, Götter und Göttinnen mit den Menschen, das Wetter mit dem Leben, Liebende und Geliebte“ (213) verbinde, „erscheint die Meteorologie im Roman als ein regelhaftes Feld des Wissens, das man überschauen und beherrschen kann wie die erstaunlich unfallfreie Mechanik des Ballons“ (216). Später (284) bezeichnet sie das Feld auch als „navigierbaren Raum“, den Lev Manovich, der hier nicht als Referenz dient, als symbolische Form auffasst. Auf der Suche nach einer „Lehre vom Schwebenden“ kehrt Horn erst mal zu Aristoteles und Virgil zurück, um die Atmosphäre „als erdgebundene Dampf- oder Gashülle“ (225) zu fassen, in der wir dann Torricelli zufolge „eingetaucht auf dem Grund eines Meeres von elementarer Luft“ leben. „‚Wie die Fische im Wasser“, so der Physiker Otto von Guericke, „leben und bewegen sich die Landwesen in diesem Luftmeer“ (ebd.). Die Metaphorik der Physiker situiert den Menschen „im Inneren eines Mediums, das ihn umfängt“ (229). Als dazu passende „Medientheorie“ führt Horn Barthold Heinrich Brockes Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott ins Feld, die sie ein weiteres Mal zu Herder und Humboldt zurückführt, diesmal im Hinblick auf die Unterscheidung von Mikro und Makro. Während Herder doch eher auf die „Local-Bestimmung“ (238) oder „das Singuläre“ (247) mit dem Menschen als Mittler(em) setzt, führt Humboldts globale Datensammelpraxis zu einer ersten Isothermen-Weltkarte (242), die als wichtige Vorarbeit zur Abstraktion des durchschnittlichen Wetters gelten kann. Später verteidigt Horn Herder auch noch gegen Kants Kritik unzureichender Systematizität und stellt ihn ins Gefolge Spinozas (425 f.).
Die „Mathematisierung der Meteorologie“ (261), so Horn, verunmöglicht zusehends ein Denken von Wolken als Übergänglichem, wie Goethe es noch zu denken versucht und es auch in der Opazität des Dampfes auf Turners Schneesturm-Gemälde (auch im Farbbildteil abgebildet) oder Adalbert Stifters Schneesturm-Beschreibung in Aus dem bairischen Walde zur Darstellung kommt. Turners Freund John Ruskin erkennt im Rauch dreißig Jahre nach Turners Gemälde nur noch ein industrielles Abfallprodukt, das als „Medium nun verdorben, ästhetisch zweideutig und atmosphärisch vergiftet“ (275) erscheint. In dieser Zweideutigkeit verschränken sich Innen- und Außenwelt. Wie dies geschehen kann, illustriert Horn am Beispiel von Zolas Roman Ein Blatt der Liebe. Der Verlauf der unmöglichen Liebe korrespondiert den Jahreszeiten, die Luft bringt den Tod wie bei Mann. Schließlich normalisiert sich das Wetter, während die Welt aus den Fugen gerät, wie Horn am berühmten Anfang von Musils Der Mann ohne Eigenschaften erläutert, der, wie sie zeigt, meteorologisch vollkommen sinnlos ist und so umso trefflicher auf die Sinnlosigkeit des Ersten Weltkriegs vorausweist, nach dem „die planetarische Perspektive“ nicht mehr abgewiesen werden kann.
„Herders und Humboldts Idee vom Klima als Systemzusammenhang wird nun mathematisch modelliert“ (293). Die Erdsystemforschung etabliert sich; und John Lovelock und Lynn Margulis entwickeln die Gaia-Theorie. Die kleine Tour de Force durch das noch vergleichsweise junge Genre der Climate Fiction, kurz: Cli-Fi, die den Menschen das abstrakte Klima-Geschehen wieder sinnlich erfahrbar machen soll, endet bei Philipp Weiss’ fünfbändigem Welt-Roman Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen, dessen Besonderheit darin besteht, das Weiss mit diesem Roman auch ein literarisches Form-Experiment wagt und das „Modell von stabilisierender Selbstregulation“ auflöst, weshalb am Ende wenig zu lachen bleibt.
Mit dem sechsten Kapitel setzt Horn in der Reflexion des Zusammenhangs von Zeit und Klima neu an. Sie beschreibt zunächst, wie die Jahreszeiten ihre ordnende Rolle verloren haben, die sie von der Antike bis zur Aufklärung innegehabt hatten. Hier hätte sich als Vergleich zu Poussins Jahreszeiten-Zyklus (ebenfalls im Bildteil) auch Philipp Otto Runges Die Zeiten angeboten; aber die Romantik spielt in Horns Buch insgesamt eine eher geringe Rolle. Die Zeit reicht, wie sie sehr plausibel schildert, als Tiefenzeit weiter zurück als der Mensch. In ihr treten Menschen- und Naturzeit auseinander. Mit Brechts Gedicht Über das Frühjahr läutet Horn dann die Epoche des Menschen ein, in der die Menschenzeit vorherrschend wird: das Anthropozän, das uns an unsere „Verantwortung für eine tiefe Zukunft“ (396) erinnert. Zu Beginn des siebten Kapitels stellt Horn fest, dass es angesichts des menschengemachten Klimawandels selbstverständlich sei, dass das Klima Gegenstand von Politik wird. Im Anschluss an Latour, der dafür plädiert, „die unausweichliche Verbundenheit des Sozialen mit dem Terrestischen wieder zum Gegenstand von Politik zu machen“ (407), schlägt sie vor: „Statt ‚Erdverbundenheit‘ könnte man also auch ‚Luftverbundenheit‘ sagen“ (407). Diesen Konjunktiv gibt sie jedoch nach und nach auf. Vorher zeigt sie noch nach ausführlicher Analyse von Stifters Brigitta und Wilhelm Raabes Pfisters Mühle wie sich das „Klima als schlechthin Gemeinsames“ (452) – oder mit Canetti, den sie zweimal anführt, die Luft als „letzte[r] Allmende“ (u.a. 506) – sozusagen in Luft aufgelöst habe. Im achten Kapitel rekapituliert Horn erst die Strategien der Klimawandelleugnung und schlägt dann nach einer längeren Auseinandersetzung mit Kim Stanley Robinsons Das Ministerium für die Zukunft vor, auf politische Verhandlungen und leichte Militanz zu setzen, wie es im Kampf der Erdverbundenen vor allem auch Ende Gelände praktiziert und Andreas Malm auch schon in Wie man eine Pipeline in die Luft jagt vorgeschlagen hat. Im letzten Kapitel votiert sie abschließend für Luftverbundenheit als zeitgemäße Form des „Involviert-Sein[s]“ (506): „Luftverbunden zu sein, bedeutet, in einer Welt zu sein in der alles fließt, aber nichts verlorengeht, in der alle einen Atem teilen, gemeinsam wirbelnd in der Strömung des Luftmeeres.“
Horns vorgenommene Ersetzung von Latours Erdverbundenheit durch Luftverbundenheit halte ich für falsch. Meines Erachtens führt Erd- und Luftverbundenheit weiter, und – gemäß des guten alten Und-und-und von Deleuze/Guattari – wie es im „Luftmeer“ auch schon anklingt, Meer- oder Wasserverbundenheit. Diese drei Verbundenheiten bilden einen borromäischen Knoten, dessen zweiten Strang Horn materialreich in Erinnerung ruft und für die Zukunft fassbar macht.
Hier lässt sich weiterdenken. Zwar zitiert sie Gernot Böhmes Plädoyer Für eine ökologische Naturästhetik aus dem Jahr 1989, aber es wird so wenig aktualisiert wie Herders Ideen. So bleibt Horn die angekündigte die Klimaforschung ergänzende Ästhetik bzw. eine umfassendere Aisthetik des Klimas, zu der sie fraglos sehr umfassende und bedeutende Studien vorgelegt hat und mit dem vorliegenden Buch historisch informiert die Richtung weist, noch schuldig.