Nida-Rümelin – Die Tatenarmut der praktischen Philosophie

Julian Nida-Rümelin (geb. 1954) war von 2004 bis 2020 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie und politische Theorie an der LMU. Seit 2022 ist er Rektor der Humanistischen Hochschule Berlin. Seine Spezialgebiete sind Erkenntnis- und Rationalitätstheorie, Ethik und politische Philosophie. Nida-Rümelin war 1998-2001 Kulturreferent der Stadt München, 2001-2002 Kulturstaatsminister in Berlin, 2010-2014 Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD und 2020-2024 stellvertr. Vorsitzender des Deutschen Ethikrats.

Widerspruch: Zu Anfang möchten wir Sie bitten, uns ein paar Worte zu Ihrer Biografie zu sagen. Wie kamen Sie dazu, Philosophie zu studieren und in diesem Bereich eine akademische Karriere zu verfolgen.

Nida-Rümelin: Ich bin 1954 in München geboren und hier in einer Künstlerfamilie aufgewachsen, in einem Künstlerhaus – dem „Hildebrandhaus“. Das gibt es immer noch, unterdessen ist dort aber die „Buchsammlung Monacensia“ untergebracht, Literatur von Münchner Autoren und vor allem Literatur über München.

Eine Zeitlang wusste ich nicht recht, ob ich eher in Richtung Naturwissenschaften oder Philosophie tendiere und habe deshalb beides studiert: Physik und Philosophie. Es war dann aber sehr rasch klar, dass mich die Philosophie mehr interessiert als die Naturwissenschaft, und habe in Philosophie bei Stegmüller promoviert. Stegmüller war überwiegend Wissenschaftstheoretiker; er war aber auch offen für andere Themen der analytischen Philosophie. Mich hat immer die praktische Philosophie besonders interessiert, nicht nur die Wissenschaftstheorie. Als nach der Promotion bei Stegmüller keine Stelle frei war, bekam ich von Herrn Opitz das Angebot, bei ihm Assistent mit dem Schwerpunkt „politische Philosophie“ zu werden, und war dann von 1984 bis 1989 am Geschwister-Scholl-Institut. 1989 habe ich in Philosophie hier in München habilitiert. Ich hatte dann zunächst eine Gastprofessur in Minnesota und erhielt 1990 einen Ruf auf eine C4-Zeitprofessur im Angestelltenverhältnis – etwas recht Ungewöhnliches – am Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Interessanterweise war sie nicht in die philosophische, sondern in die biologische Fakultät integriert, obwohl ich kein Biologe bin. Die Widmung der Professur war „Ethik in den Biowissenschaften“. Für mich war allerdings wichtig, dass ich an der philosophischen Fakultät kooptiert war und dort Lehrveranstaltungen halten konnte. 1992 erhielt ich dann einen Ruf nach Göttingen und einen nach Konstanz. Nach einigem Überlegen habe ich mich entschieden, in Göttingen die Nachfolge von Günther Patzig anzutreten, der ja einer der Pioniere der analytischen Philosophie in Deutschland war, aber anders als Stegmüller den Akzent auf die Rekonstruktion antiker Texte, auf Ethik und praktische Philosophie setzte.

Widerspruch: Wann haben Sie begonnen, sich politisch zu engagieren, und was hat Sie bewogen, in eine politische Karriere als Kulturreferent der Stadt München überzuwechseln?

Nida-Rümelin: Also, politisch engagiert habe ich mich eigentlich seit meiner Jugendzeit, als Schulsprecher usw. Es waren die „Ausläufer“, die letzten Jahrgänge einer doch sehr stark politisierten Generation, während man 15 Jahre danach doch weitgehend politikabstinent war. Als ich mit dem Studium anfing, wollte ich mich weiter politisch engagieren, fand aber die Hochschulpolitik irgendwie langweilig und sehr stark nach innen gerichtet. Deshalb bin ich dann in die SPD eingetreten, und zwar vor allem mit Themen wie Friedenspolitik, Ökologie und Energiepolitik. Ich habe mich dort auch inhaltlich engagiert, etwa für das 1989 beschlossene neue Grundsatzprogramm, und natürlich auch für die Kultur- und Bildungspolitik. Seit meinem 19. Lebensjahr habe ich mich – innerhalb und außerhalb der SPD – politisch engagiert, aber zuvor nie ein politisches Mandat innegehabt.

Die Entscheidung, in München für eine Amtszeit Kulturreferent zu werden – ich bin von meiner Professur in Göttingen beurlaubt –, hat verschiedene Motive. Ein Motiv, warum ich dachte, diese Aufgabe könnte nicht nur für mich persönlich reizvoll sein, sondern auch für die Stadt Sinn machen, war, dass ich die Sprachlosigkeit zwischen Politik und Kunst doch sehr persönlich empfunden habe. Es gab in den 60er und 70er Jahren eine große Auseinandersetzung um den Erhalt dieses Künstlerhauses, die ich nicht vergessen konnte. Wie geht man von politischer Seite mit den Künstlern um? Wie sieht die Situation derer aus, denen die Existenzgrundlagen, ihr Atelier und ähnliches, entzogen werden? Wie also wird zwischen Politik und Kunst kommuniziert? Mein Eindruck war und ist nach wie vor, dass es dort viel Verständigungsprobleme und Interessenkonflikte gibt. Hier zu vermitteln, finde ich eine interessante Zielsetzung. Ob es mir gelingt, weiß ich nicht; aber ich bringe immerhin, einfach aufgrund meiner Biografie, Voraussetzungen mit, die mir das Verständnis leichter machen als anderen.

Das zweite Motiv war, dass ich in der reinen Wissenschaft immer ein Defizit empfunden habe. Speziell in den Bereichen der Philosophie, die sich mit praktischen Fragen befassen, also Ethik, politische Philosophie oder Rationalitätstheorie, sind die zentralen Fragestellungen ja eigentlich nur relevant, wenn auch die Praxisdimension irgendwann in den Blick kommt. Zwar nicht so direkt, dass man sagt, eine Gerechtigkeitstheorie macht nur dann Sinn, wenn ich genau weiß, wie das nächste Steuersystem aussehen muss. Aber solange Diskussionen über Gerechtigkeit oder politische Institutionen, über Legitimation in der Politik oder über die Ethik der Wissenschaft oder der Gentechnik nur die Kreise ansprechen, die als Fachphilosophen oder als Bioethiker ihrerseits ihre Artikel schreiben, – da fehlt doch was. Das Ganze macht doch keinen Sinn, wenn es nicht eine konkrete Auswirkung zeitigt. Also, die „Tatenarmut“ der Wissenschaft und gerade der praktischen Philosophie – in der theoretischen ist dieser Hiatus nicht ganz so dramatisch – hat mich oft gestört, und war sicher auch ein Motiv, in der politischen Praxis, speziell in der kulturpolitischen Praxis, Verantwortung zu übernehmen.

Im übrigen hänge ich ja sehr an der Stadt und wollte mich auch nie ganz ablösen. Hätte ich eine Professur in Berlin oder Hamburg gehabt, hätte ich meinen Lebensmittelpunkt vielleicht dorthin verlegt; aber Göttingen oder Tübingen sind keine Alternative, und so ist München eben mein Lebensmittelpunkt geblieben.

Widerspruch: Der in „praktischer Politik“ erfahrene Theoretiker Niccolò Machiavelli hält es für erforderlich, dass ein Fürst die Moral aus dem Handlungsbereich der Politik ausgrenzen muss, um Erfolg zu haben. Wie begreifen Sie als Spezialist für praktische Philosophie analytischer Provenienz das Verhältnis von Politik und Moral? Wie beurteilen Sie dieses Verhältnis nicht nur theoretisch, sondern auch vor dem Hintergrund Ihrer Erfahrungen mit der zeitgenössischen politischen Kultur der Bundesrepublik?

Nida-Rümelin: Eine Frage, die es in sich hat. Ob Machiavelli dies in letzter Konsequenz so vertreten hat, können wir dahingestellt sein lassen. Seine Theorie des Politischen hat eine starke moralische Komponente, die zwar im Gegensatz zu den üblichen Sittlichkeits- bzw. Moralvorstellungen der Menschen steht, die aber doch, wie ich glaube, den normativen Kern seiner Theorie bildet. Aber lassen wir das einmal ausgeklammert.

Würde die Politik sich selbst wirklich als moralfrei verstehen, dann wären die Formen, in denen der politische Diskurs abläuft und politische Entscheidungsprozesse zustande kommen, überhaupt nicht verständlich. Nehmen Sie ein banales Beispiel: wenn ein Gesetzesentwurf eingebracht wird, dann wird das intensiv diskutiert. Es werden Gründe angeführt, warum dieses Gesetz besser als ein alternativer Gesetzesentwurf ist. Jetzt kann man zwar sagen, dies alles sei Teil eines Machtspiels – nur: Warum bringen die Menschen dann überhaupt diesen Aufwand und diese Energie auf, immer wieder nach Argumenten zu suchen, wenn nicht doch unser Selbstverständnis von politischem Handeln, von politischer Kultur, vom Funktionieren einer Demokratie an die Vorstellung gebunden ist, dass es auch in der Politik ein richtiges und falsches Handeln gibt? Praktisch jede politische Rede dreht sich um die Frage: Ist das richtig, oder ist das falsch? Und zwar nicht richtig, um die eigene Machtsituation zu verbessern oder einer bestimmten Interessensgruppe zu nutzen, sondern richtig simpliciter: richtig gegenüber im Grunde jeder Person und jedem individuellem Standpunkt.

Wenn dies das Selbstverständnis ist, dann kann man zwar immer noch sagen, es beruhe auf einer gigantischen Selbsttäuschung. Ich glaube aber nicht, dass es wirklich so ist. Damit bestreite ich ja nicht, dass ökonomische Interessen vor allem, aber auch andere Interessen, kulturelle Vorurteile usw. eine prägende Rolle in der Politik spielen, und dass die Reichweite des rationalen Arguments durch persönliche Eitelkeiten und ähnliches beschränkt ist. Aber das ganze Projekt politischen Handelns – jedenfalls in der Demokratie mit ihren Begründungsansprüchen – macht nur Sinn, wenn es auch oder im Kern um die Fragen von richtig und falsch geht. Und diese Fragen sind letztlich ethische Fragen. Also steht auch politisches Handeln unter ethischen Kriterien.

Dass es Unterschiede zwischen Regeln gibt, die in der Privatmoral völlig selbstverständlich erscheinen, und Regeln, die die politische Interaktion anleiten, – dies betrifft die Diskussion um die „dirty hands“, wie sie manchmal genannt wird. Das sollte man aber nicht so interpretieren, als sei Politik ein „schmutziges Geschäft“, wie es einem Topos der deutschen Kultur entspricht, die mit ihren antidemokratischen Wurzeln aus der Weimarer Republik noch in die 50er und 60er Jahre hineingereicht haben, sondern die „dirty hands“ sind im Sinne eines vermeintlichen oder tatsächlichen Zwangs innerhalb der Politik zu verstehen, eine gewisse Distanz gegenüber den überkommenen Moralvorstellungen einzunehmen, die im Alltag wirksam sind. Ich glaube, dass der Übergang fließend ist. Es gibt nicht zwei getrennte Bereiche, das Politische mit eigenen Gesetzmäßigkeiten auch des Moralischen und das Private mit eigenen Regeln und Gesetzen des Moralischen, sondern es ist ein Kontinuum, wobei die Akzente jeweils anders liegen. Im privaten Bereich haben wir überwiegend Nahbeziehungen; im politischen Handeln sind Entscheidungen zu treffen, die Menschen betreffen, zu denen ich in der Regel keinen persönlichen Kontakt habe. D. h. ein Gutteil der moralischen Intentionen, die im Nahbereich wirksam werden, sind im Fernbereich nicht mehr vorhanden; die Forderung z.B. nach Gleichbehandlung, nach einem Standpunkt der Fairness, den man gegenüber unterschiedlichen Personen einnimmt, – diese Forderung ist in der Politik strenger als im Privaten. Im Privaten gibt es Bindungen; und das Problem der Korruption hängt zum Teil mit der Übertragung dieser privaten Bindungen in den politischen Bereich zusammen. Dabei denke ich zunächst eher an die Form des Nepotismus, die in Deutschland nicht das Hauptproblem darstellt, sondern eher in lateinischen Ländern. Aber bei uns gibt es vergleichbare Formen. Also: es gibt Unterschiede zwischen dem Politischen und dem Lebensweltlichen; aber die Unterschiede sind nicht so groß, dass es zwei getrennte Sphären wären.

Widerspruch: Seit einigen Jahren werden in der Öffentlichkeit zunehmend die ökonomischen und sozialen Folgen der Globalisierung diskutiert. Im Bereich der Kultur dagegen verbinden viele mit Globalisierung kaum mehr als die seit den 20er Jahren andauernde Überschwemmung des Planeten mit nordamerikanischen Film- und Musikproduktionen und den durch sie transportierten Werten. Was sind die wichtigsten aktuellsten Erscheinungen der zunehmenden Globalisierung der Kultur, und welche Auswirkungen haben sie für Deutschland und Europa?

Nida-Rümelin: Es ist ja interessant, dass die Globalisierung zumeist nicht unter dem Aspekt der Kultur, sondern fast ausschließlich unter wirtschaftlichen, insbesondere finanzwirtschaftlichen, Aspekten diskutiert wird, und die Dimension einer sich entwickelnden globalen Kultur auch mit ihren Problemen gar nicht in den Blick kommt. Gegenwärtig können wir zwei vermeintlich gegenläufige Tendenzen deutlich beobachten. Einmal die Tendenz der Angleichung von kulturellen Prägungen. Ich denke da z.B. an die internationale Rolle der Popmusik, eines zentralen Teils der weltweiten Jugendkultur. Diese verändert sich durch Adaption, wenn man so will. So gibt es im arabischen Kulturbereich eine Adaption an eine bestimmte Form der Musiktradition, die dort verbreitet ist, die aber dann immer noch Pop-Musik bleibt. Auch in Ostasien gibt es ähnliche Phänomene. Aber man kann doch sagen, dass sich eine Musiksprache entwickelt, die von Angehörigen ganz unterschiedlicher Kulturen, Religionen, Ethnien usw. verstanden wird. Das ist jedoch nicht nur ein harmloses und erfreuliches Phänomen; denn dahinter steckt mehr. Es erfasst ja nicht nur die Eingeweihten und Interessierten, wie das bei einem Teil der zeitgenössischen E-Musik der Fall ist, die noch viel internationaler und unabhängiger von regionalen und kulturellen Prägungen ist, sondern es umfasst ganze Bevölkerungsteile, praktisch vollständig, Generationen. Damit entsteht aber nicht automatisch die Basis einer internationalen, interkulturellen Verständigung, sondern auch eine zunächst gegenläufig erscheinende Tendenz: Völlig parallel dazu entsteht offenbar eine Sehnsucht nach dem Eigenen.

In der westlichen Philosophie ist dieses Phänomen, von den USA ausgehend, unter dem Stichwort „Kommunitarismus“ schon seit mehreren Jahren diskutiert worden. In bestimmten Kulturkreisen – im islamischen, aber nicht nur dort – gibt es heftige Abwehrbewegungen gegen diese sich globalisierende Kultur, die sich nicht nur gegen die Popkultur, sondern überhaupt gegen eine sich vereinheitlichende Kultur der Lebensform wendet. Man versucht, das Eigene dadurch zu retten, dass Abgrenzungen gegenüber den Einflüssen vorgenommen werden, die als schädlich empfunden werden, wie das in den antiwestlichen Einstellungen z.B. der islamischen Fundamentalisten geschieht. Diese beiden Tendenzen scheinen mir aber weniger gegenläufig als komplementär zu sein: sie gehören zusammen. Und die Kunst der weiteren – letztlich – Weltkulturpolitik wird darin bestehen, beiden Tendenzen Raum zu geben: der Vergewisserung des Eigenen und der Anerkennung von Differenz einerseits und der Entwicklung eines gemeinsamen Kerns einer Weltkultur oder – ich verwende lieber den Ausdruck von Rawls – eines overlapping consensus über normative Inhalte, über kulturelle Prägungen und die Akzeptanz bestimmter Regeln, mit denen wir Differenzen aushalten können, andererseits. Kulturelle Globalisierung und Vergewisserung des Eigenen sind gewissermaßen, so sehe ich das, zwei Seiten derselben Medaille.

Widerspruch: Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Bedeutung der Philosophie im kulturellen Raum?

Nida-Rümelin: Wir leben ganz zweifellos in einer Boom-Phase der Philosophie. Das äußert sich nicht so sehr darin, dass auch in der Universität das Interesse an Philosophie eher gestiegen als gesunken ist, und dass insbesondere der Bereich der praktischen Philosophie in den letzten Jahren, die „Bereichsethiken“, sich gewaltig ausgedehnt hat; stärker in den USA als in Europa, aber mit ähnlicher Tendenz. Ich beobachte auch ein deutlich gestiegenes Interesse außerhalb der akademischen Welt an philosophischen Fragen, zum Teil in Abwehr zur Universitätsphilosophie. Aber ich halte diese Attitüde für problematisch und mache deshalb eine philosophische Gesprächsreihe, bei der die Bedürfnisse an philosophischen Fragen auch derer, die nie Philosophie studiert haben, ernst genommen werden, aber zugleich Referenten gewonnen werden, die sich beruflich mit Philosophie beschäftigen, die also aus dem Hochschulbereich kommen, um das Gespräch auch mit den entsprechenden Informationen zu füttern, die einfach nötig sind, um einen Standpunkt zu vertreten, der wohlbegründet ist.

Der kulturelle Hintergrund dieses Phänomens lässt sich vielleicht folgendermaßen umschreiben. Philosophie tritt in der Geschichte des – jedenfalls westlich-abendländischen – Denkens immer dann besonders deutlich in Erscheinung, wenn die Gesellschaft sich im Umbruch befindet und Menschen auf rationalem Wege versuchen, neue Orientierung zu gewinnen. Natürlich gibt es andere Formen, Orientierung zu gewinnen, die mit der Philosophie konkurrieren, z.B. fundamentalistische Weltanschauungen, Religionen oder Religionspraktiken unterschiedlicher Art, die auch Gewissheit vermitteln und genau sagen, was richtig ist und was falsch. In einer pluralen Gesellschaft, einer Gesellschaft der kulturellen Differenz und der zunehmenden Globalisierung, sind dies aber in der Regel unzureichende Formen, Orientierung zu geben, weil es den Rückzug bedeutet, den Ausstieg aus der Kommunikation und der Verständigung. Darin glaube ich liegt die Faszination der Philosophie wie vor 2500 Jahren in der griechischen Klassik – auch einer Gesellschaft im rasanten Umbruch mit viel Immigration und Emigration. Philosophie entsteht ja vor allem in den Kolonien, den griechischen Siedlungsgebieten im östlichen Mittelmeerraum. Dann die interessante Umbruchphase beim Ausklingen des Mittelalters durch den Verfall der theologischen Ordnungsmacht und einer erneuten Blütephase der Philosophie. Die Renaissancephilosophie, die als nova scientia aufkommt und mit Konjunkturen bis in der Aufklärungsphilosophie anhält. Sie ebbt dann gerade im praktischen Bereich ab – typischerweise tritt die praktische Philosophie im Laufe des 19. Jahrhunderts zurück –; und jetzt, im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, entwickelt sich wieder eine Blütephase der Philosophie. Die Gesellschaft ist erneut im Umbruch, sie sucht nach Orientierung. Sie findet diese Orientierung überwiegend, jedenfalls in den westlichen Industriestaaten, nicht in traditionalistischen und fundamentalistischen Auffassungen. Die Esoterik hat, so glaube ich, ihren Höhepunkt längst hinter sich und damit auch der Ausstieg aus dem rationalen Diskurs, auch wenn das jetzt recht pauschal klingt. Dieser Diskurs aber macht die Philosophie so faszinierend und im kulturellen Leben gegenwärtig. Darauf sollte die Universitätsphilosophie reagieren, ohne sich anzubiedern: durch Öffnung und durch Gesprächsangebote, und sich nicht zurückziehen in die akademischen Schutzgebiete, in denen diese öffentlichen Ansprüche und Fragen selten gestellt werden.

Widerspruch: Herr Nida-Rümelin, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Manuel Knoll führte das Gespräch für den Widerspruch.

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