­Wolfram Eilenberger

Geister der Gegenwart. Die letzten Jahre der Philosophie und der Beginn einer neuen Aufklärung

geb., 492 Seiten, 28.- €, Klett-Cotta, Stuttgart 2024

von Konrad Lotter

Unter dem Titel Geister der Gegenwart präsentiert Wolfram Eilenberger eine weitere Philosophiegeschichte der besonderen Art. Zum einen beginnt seine Erzählung 1948, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und endet bereits im Jahr 1984, umfasst also noch nicht einmal die Epoche der Nachkriegszeit, die erst 1989 endet. Die gewählte Zeitspanne wird (nicht ganz einsichtig) durch die Rückkehr Adornos aus dem kalifornischen Exil nach Frankfurt einerseits und den Tod Foucaults andererseits begrenzt. Zudem gehört die Epoche, die als „Gegenwart“ vorgestellt wird, schon seit über 40 Jahren der Vergangenheit an, auch wenn diese „Geister“ in der Gegenwart immer noch herumspuken und die Sekundärliteratur bevölkern. Zum anderen werden die genannten 36 Jahre nicht linear, als Kontinuum erzählt, sondern in der Abfolge von vier Sprüngen und den Stationen oder „Zuständen“ in den Jahren 1948/50, 1957/58, 1968/69 und 1984. Schließlich konzentriert sich Eilenberger, wie schon in seinen Büchern Zeit der Zauberer (mit Heidegger, Cassirer, Benjamin und Wittgenstein) und Feuer der Freiheit (mit Simone de Beauvoir, Hannah Arendt, Simone Weil und Ayn Rand) auf vier „Leitgestalten“, die zwar in ihrem theoretischen Umfeld, aber doch wesentlich als Individuen gewürdigt werden: Theodor W. Adorno, Michel Foucault, Susan Sontag und Paul Feyerabend. Obwohl sie nicht der gleichen Generation angehören, in keiner persönlichen Beziehung zueinanderstehen und auch in ihren Theorien und in ihrem Leben ganz verschiedene Wege eingeschlagen haben, stellt sie Eilenberger als „beispielhafte Verkörperungen eines Lebens im Sinne der Aufklärung“ vor: als die wahren Nachfolger von Kant und seiner Aufklärungsschrift.

Als Adorno nach Frankfurt zurückkehrt, ist zumindest eines seiner Hauptwerke bereits veröffentlicht. In der mit Horkheimer gemeinsam verfassten Dialektik der Aufklärung hat er sich von Marxʼ politischer Ökonomie, die die Grundlage der Kritischen Theorie der Vorkriegszeit gewesen war, verabschiedet. Ähnliche Abgrenzungen werden von Eilenberger auch bei den anderen „Leitgestalten“ angedeutet, die zur selben Zeit noch Studenten waren. Foucault folgt weder seinem marxistisch orientierten Freund Louis Althusser noch Jean-Paul Sartre, der gerade dabei ist, seinen Existentialismus als „Moment“ in die Marxsche Gesellschaftstheorie aufzuheben. Feyerabend schließt sich während der Alpbacher „Hochschulwochen“ an Karl Popper und Friedrich August von Hayek an, die das Projekt einer „offenen Gesellschaft“ auf der Grundlage einer neoliberalen Wirtschaftspolitik verfolgen und sich von den sozialistischen und austro-marxistischen Mitgliedern des „Wiener Kreises“ (Neurath, Carnap) losgesagt haben. Eilenberger nennt zwar die Fakten, stellt aber keine Verbindung zur Ideologie des Kalten Krieges her, der sich die Philosophen gleichermaßen unterordneten und den Marxismus mehr oder weniger mit der stalinistischen Realität des Ostblocks gleichsetzten. Eine Ausnahme bildet Susan Sontag, die 1933 geboren, in den Nachkriegszeiten noch kaum 20 Jahre alt, mit der Entdeckung ihrer Bi-Sexualität beschäftigt ist und sich mit Freuds Psychoanalyse und mit moderner Literatur (Th. Mann, Rilke, Brecht u.a.) auseinandersetzt.

1957/58 werden als die Jahre behandelt, in denen die vier „Leitgestalten“ zu sich selbst und ihrer Philosophie finden. Nur Adorno hat bereits eine feste Stellung innerhalb der Universität, leitet das Institut für Sozialforschung und arbeitet an seiner Negativen Dialektik und seiner Ästhetik. Foucault steht als Leiter des französischen Kulturinstituts in Upsala noch außerhalb der universitären Institution. Dort entdeckt er den „Wahnsinn“ bzw. die „Vernunft“ (als fortschreitenden Ausschluss des Wahnsinns, der selbst in eine Form des Wahnsinns umschlägt) als sein Thema. Feyerabend arbeitet noch als Lektor für Wissenschaftstheorie, Susan Sontag als Redakteurin beim jüdischen Kulturmagazin Commentary und der Partisan Review. Als Stipendiatin studiert sie an der Universität in Oxford. In zunehmender Weise gerät das Denken derer, die Eilenberger als „neue Aufklärung“ behandelt, in diesen Jahren unter den Einfluss von Wittgenstein und der englischen Sprachphilosophie (Gilbert Ryle, John Austin, Nelson Goodman) einerseits, von Nietzsche und Heidegger andererseits.

Weshalb gerade Susan Sontag zu den vier größten „Geistern der Gegenwart“ gerechnet wird, ist nicht recht einzusehen. Sie schreibt Romane und Kurzgeschichten, dreht späterhin Filme und dokumentiert ihre Reisen nach Nordvietnam oder Kuba. Größeres Aufsehen erregt sie mit ihren Essays wie etwa Against Interpretation oder Notes on Camp, in denen sie sich für eine Aufwertung der sinnlichen (Kunst-)Erfahrung stark macht und mit ihrem Eintreten für „Trash“ die Grenze zwischen Hoch- und Popkultur einreißt. Sie entwickelt sich zu einer umtriebigen und glamourösen „öffentlichen Intellektuellen“, deren Werk aber doch weit hinter dem umfassenden und weitverzweigten Œuvre von Adorno oder Foucault zurücksteht. Auch hinter dem Werk von Ernst Bloch und Georg Lukács, die in der behandelten Zeitspanne von 1948 bis 1984 im philosophischen Diskurs ganz oben stehen, von Eilenberger aber nur an Rande erwähnt bzw. überhaupt nicht genannt werden. Sie zählen für ihn nicht zum Kreis der „neuen Aufklärer“.

Der größte Teil des Buches ist den Jahren 1968/69 gewidmet, in denen die Philosophie vor ihrem „Praxis“-Test steht und sich zum Teil radikalisiert. Detailliert berichtet Eilenberger über die politischen Aktionen der rebellierenden Studenten und die verschiedenartigen Reaktionen ihrer Professoren. Adorno ruft nach der Besetzung des soziologischen Instituts die Polizei. Nach der „Sprengung“ seiner Lehrveranstaltung und dem „Busenattentat“ bricht er seine Vorlesungen ab. Foucault, der zuerst als „Gaullist“ verschrieen und angefeindet wird, solidarisiert sich mit den Studenten und wirft am Ende Fernsehgeräte vom Dach der Universität von Vincennes auf die anrückende Polizei. Feyerabend, der zwischen Berkeley und Berlin pendelt und Vorlesungen abhält, radikalisiert sich, sympathisiert mit Cohn-Bendit und vermittelt dem aus dem Frankfurter Institut geworfenen Hans-Jürgen Krahl an der TU in Berlin eine Stelle. Theoretisch entfernt er sich immer weiter von Popper, entdeckt (horribile dictu für einen analytischen Philosophen) Hegel und entwickelt seine anarchistische Erkenntnistheorie, die er später in seinem Buch Wider den Methodenzwang unter dem Motto „anything goes“ veröffentlicht. Susan Sontag, die dem universitären Leben trotz verschiedener Stipendien fernesteht, prangert die brutalen Kriegseinsätze der USA in Vietnam an und verteidigt die Interessen des vietnamesischen und kubanischen Volks. Bezeichnend für Eilenbergers Buch ist, dass er den Schwerpunkt auf die politischen Ereignisse von 1968/69 legt. Kaum ein Wort verliert er dagegen über die breite Rezeption der Marxschen Theorie, die in diesen Jahren einsetzt, viele Diskussionen dominiert und ihre Kritik nicht zuletzt auch gegen die „Leitfiguren“ richtet.

Zwischen 1970 und 1984 erscheinen die vielleicht wichtigsten Werke von Foucault (Archäologie des Wissens, Sexualität und Wahrheit, Überwachen und Strafen) und Feyerabend (neben Wider den Methodenzwang auch Erkenntnis für freie Menschen), allerdings auch von Jürgen Habermas (Theorie des kommunikativen Handelns), der der gleichen Generation wie Foucault und Feyerabend angehört. Während der Zeit der Studentenrebellion hatte er eine wichtige Rolle gespielt, nach dem Tod von Adorno die Leitung des soziologischen Instituts in Frankfurt und 1971, zusammen mit C.F.von Weizsäcker, das Starnberger Max-Planck-Institut übernommen. Von Seiten Eilenbergers wird ihm aber offenbar nicht der gleiche Rang wie den großen Vier zugestanden.

Über viele Seiten hinweg ist Eilenbergers Buch nicht nur informativ, sondern auch unterhaltsam. Es berichtet über theoretische und politische Positionen, aber auch über eine Menge Persönliches und Intimes: über Freund- und Feindschaften, Ehebrüche und Scheidungen, Selbstmordversuche und sexuelle Präferenzen. Neben theoretischen Werken wird nicht selten aus der Schlüssellochperspektive aus persönlichen Briefen oder Tagebüchern zitiert. Gut zu lesen ist das Buch auch wegen seiner straffen Gliederung, seinen kurzen Abschnitten und bezeichnenden Überschriften. Am Ende fragt man sich allerdings, ob Eilenberger und die von ihm präparierten „Leitgestalten“ Kategorien zur Verfügung stellen und Einsichten vermitteln, die es erlauben, die Welt von heute mit ihren ökonomischen und ökologischen, politischen und sozialen Problemen und Konflikten angemessen zu begreifen.

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