Éric Pineault
Die soziale Ökologie des Kapitals
mit einem Vorwort von Simon Schaupp
br., 190 Seiten, 25.- €
Berlin 2025 (Karl Dietz Verlag)
von Fritz Reheis
Was der Kapitalismus genau ist, werden wir erst im Nachhinein voll begreifen, wenn er überwunden sein wird. Dieser Gedanke seines akademischen Lehrers, Murray Bookchin, US-amerikanischer Sozialist, Anarchist und Begründer des Institute for Social Ecology, dem das Buch gewidmet ist, habe ihn nicht mehr losgelassen, erzählt Éric Pineault. Der Gedanke sei für ihn „paradoxerweise ein Hoffnungsschimmer“. Er wolle mit seinem Buch, das teilweise bereits veröffentlichte Texte enthält („The ghosts of progress“ und „The Post Growth Condition“), „zum kollektiven Verständnis dieser sozialen und ökologischen Formation (des Kapitalismus, F.R.) und ihrer Grenzen“ beitragen (190). Pineault ist Professor am Department of Sociology und am Institute of Environmental Sciences an der Universität Quebec in Montréal. Außer durch Bookchin und Aktivisten aus Quebec sieht er sich hauptsächlich durch das Wiener Institut für Soziale Ökologie (Martina Fischer-Kowalski) und das Postwachstumskolleg an der Uni Jena (Hartmut Rosa, Klaus Dörre u.a.), wo er 2018 bis 2019 Gast war, inspiriert. Die Theorie der Sozialen Ökologie des Kapitals ist für Pineault ein „vorgeordnetes und begrenztes Unterfangen“, das einen theoretischen Rahmen für Degrowth (einschließlich Ökosozialismus) bereitzustellen versucht (170).
Es sei eine Illusion, so die Grundthese des Buches, die ökologische Transformation von einer Entkopplung der Wirtschaft vom Naturverbrauch zu erwarten und dabei auf einen Wandel der Werte mit einhergehendem Konsum- und Politikwandel zu hoffen. Nötig sei vielmehr die vollständige Überwindung der herrschenden „sozialen Ökologie des Kapitals“. Voraussetzung für diese Überwindung sei eine konsequent materialistische Analyse der energetischen und stofflichen Prozesse und der politischen Ökonomie, die sich mit ihnen in Wechselwirkung befindet. Im Zentrum der Analyse steht der Begriff des „sozialen Stoffwechsels“. Pineault unterscheidet drei Aspekte dieses sozialen Stoffwechsels: die durch Gesellschaften fließenden Ströme von Energie und Materie, die Akkumulation von materiellen Vorräten sowie die Kolonisierung von Ökosystemen durch menschliche Aktivitäten. Diese drei überhistorischen Momente des Mensch-Natur-Verhältnisses gelte es nun für kapitalistische Gesellschaften zu konkretisieren und zu „re-soziologisieren“ (28). Dabei zeige sich im Detail, wie die kapitalistische Dynamik und die sie exekutierenden globalen Konzerne in allen Phasen des menschlichen Eingriffs in die Natur – von der Extraktion über Produktion, Konsumtion und Reproduktion bis zur Dissipation – die Grenzen der Natur ignoriert und eine ökologisch verträgliche Form des Wirtschaftens und Lebens verhindert. Grund dafür seien nicht nur die systematisch erzeugten Rebound- und Verdrängungseffekte und die systematische Trennung von Produktion und Reproduktion (auch als Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land sowie Nord und Süd). Hinzu komme vor allem auch die Tatsache, dass diese Dynamik Investitionen in eine naturnahe Form des Wirtschaftens umgehend mit systematischer Entwertung des eingesetzten Kapitals bestraft.
Nach einem Vorwort von Simon Schaupp (Autor von „Stoffwechselpolitik“) über den deutschen Diskurs zum Thema, führt Pineault in das Buch ein, indem er den Begriff „sozialer Stoffwechsel“ erläutert. Das erste Kapitel behandelt den „Materialfluss“, das zweite die „Ökologie des Materialflusses“, quasi die „Arbeit der Natur“ einschließlich des Entropiegesetzes. Im dritten Kapitel geht es um „Stoffwechselregime in historischer Perspektive“, im vierten um den „fossil-basierten Metabolismus“. Das fünfte Kapitel thematisiert den „kapitalistischen Stoffwechsel“ generell, das sechste richtet den Fokus speziell auf die Zeit der „großen kapitalistischen Beschleunigung“, die Pineault zufolge die vergangenen sieben Jahrzehnte umfasst. Das Buch schließt mit einem „Anhang zur deutschen Ausgabe“ mit eindrucksvollen Daten und Grafiken zum Zusammenhang von biophysikalischen und politökonomischen Daten. Insgesamt will die Theorie der sozialen Ökologie des Kapitals eine doppelte Selbsttäuschung entlarven: „Die Versprechungen, privilegierte Lebensweisen im fortgeschrittenen kapitalistischen Kern und unter den Mittelschichten des globalen Südens beibehalten und verbessern zu können, haben ihre Entsprechung bei progressiven Kräften, die sich der Illusion hingeben, die Produktivkräfte und der Durchsatz könnten weiter gesteigert werden, weil reinere, dichtere und sauberere Energieformen im Überfluss in einem ‚dort draußen‘ vorhanden seien, das nur noch gefunden werden müsse.“ (171)
„Die soziale Ökologie des Kapitals“ ist zweifellos ein wichtiges Buch, weil es die naturwissenschaftlich-ökologische und die sozialwissenschaftlich-politökonomische Analyse überzeugend zusammenführt. Dennoch fragt sich der Rezensent, ob Pineault, der ja explizit einem dialektischen Erkenntnisinteresse folgt, nicht vorschnell über Marx hinausgegangen ist. Vielleicht sind die ökologischen Verwüstungen seit der Großen Beschleunigung ja nichts anderes als Zuspitzungen des kapitalistischen Grundwiderspruch zwischen der Gesellschaftlichkeit der Produktion und der Privatheit der Aneignung (einschließlich der Planung), nichts anderes also als weit fortgeschrittene Kollateralschäden eines Systems, von dem schon 1848 klar war, dass es „alles Stehende und Ständische“ verdampft. Vielleicht zeigt sich heute in aller Klarheit, dass Produktivkräfte in Destruktivkräfte umschlagen, solange sie durch überlebte Eigentums- und Konkurrenzbeziehungen gefesselt sind.