Asylrecht und Diskursethik. Eine Antinomie im Denken von Jürgen Habermas

von Bernhard Schindlbeck

I.

II.

III.

Politisch scheitert dieser diskursethische Anspruch jedoch nicht an seiner moralischen Höhe, sondern schon an seiner logischen Unmöglichkeit, wenn es um die Asylgesetzgebung geht. Seiner eigenen Logik nach müssten nämlich Asylbegehrende an der Asylgesetzgebung des Landes, in dem sie um Asyl nachsuchen, als Betroffene auch Teilnehmer des praktischen Diskurses sein, dessen Ergebnis das jeweilige Asylgesetz dann ist. Dies ist aber nicht möglich, da sie nicht Bürger des Landes sind. Die demokratische Deliberation über zu findende Normen und zu beschließende Gesetze findet immer nur im Kreis der zum Land bzw. zum Staat gehörenden Bürger statt. Für die Europäische Union heißt dies heute: im Kreis der EU-Bürger unter Ausschluss aller Nicht-EU-Bürger. Die Forderung nach Beteiligung Außenstehender an der Gesetzgebung eines Landes würde nicht nur seltsam anmuten, sondern würde auch auf eine Verletzung des sogenannten Selbstbestimmungsrechts der Völker hinauslaufen.

Einerseits sollen also die dem Staat angehörenden Bürger gemeinsam über ihre Gesetze entscheiden und dabei alle Interessen aller möglicherweise Betroffenen berücksichtigen. Andererseits sollen nicht nur die Interessen aller betroffenen Menschen berücksichtigt werden, sondern letztere sollen dem diskursethischen Anspruch gemäß wirklich mitsprechen können. Deshalb müssten Asylbegehrende an den Beratungen zur Asylgesetzgebung (sei’s eines Staates, sei’s der gesamten EU) beteiligt werden. Sie sind aber keine Bürger, weshalb sie nicht beteiligt werden können. Dieser Widerspruch ist im nationalstaatlichen Rahmen, in dem jede Demokratie organsiert ist (und auch im Rahmen der EU), schlicht unlösbar. Offensichtlich geraten hier Demokratieprinzip und Diskursethik in eine unauflösbare Antinomie. Und die Behauptung einer Gleichursprünglichkeit scheidet bei einem logischen Widerspruch als Lösung aus.

IV.

Die am 10. April 2024 vom EU-Parlament beschlossene „Asylreform“, der am 14. Mai 2024 auch die EU-Mitgliedsstaaten zustimmten, verschärft die Asylbestimmungen so drastisch, dass die von Europa verfolgte Politik der Abschottung gegen alle Migranten, die nicht unter „Fachkräfteeinwanderung“ subsumiert werden, unübersehbar wird. Die EU beabsichtigt, Flüchtlinge (auch Kinder) unter Haftbedingungen in Internierungslagern an ihrer Außengrenze unterzubringen, ihr Asylbegehren in Schnellverfahren ohne die Möglichkeit des Rechtswegs zu prüfen und bei Ablehnung in irgendwelche Drittländer (die sich vertraglich und gegen Bezahlung dazu bereit erklären) abzuschieben, die auch gar nicht einmal die Herkunftsländer der geflohenen Menschen sein müssen. Man mag diese „Reform“ als Ergebnis einer demokratischen Deliberation in Ministerrat und Parlament betrachten, mit Ethik hat sie nichts zu tun. Diskursethische Prinzipen spielen in der praktischen Asylpolitik keine Rolle. Organisationen wie medico international, Human Rights Watch und Amnesty International sehen in den neuen Regelungen gravierende Verstöße gegen Menschenrechte.

V.

Durch eine Antinomie sieht man sich vor die Frage gestellt, welches der beiden einander widersprechenden Prinzipien aufgegeben werden muss. Hier: entweder die demokratische Selbstbestimmung des Volkes (d.h. der wahlberechtigten Bevölkerung) oder die diskursethisch geforderte Mitsprache und Mitentscheidung aller von der Norm Betroffenen.


  1. Jürgen Habermas, Der demokratische Rechtsstaat – eine paradoxe Verbindung widersprüchlicher Prinzipien?, in: ders., Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX, Frankfurt/Main 2001, 133-151, hier 134. ↩︎

  2. ebd., 135. ↩︎

  3. ebd., 141. ↩︎

  4. Wolfgang Kuhlmann, Ethik der Kommunikation. In: Karl-Otto Apel u.a. (Hg.), Praktische Philosophie/Ethik, Band 1, Frankfurt/Main 1980, 276-308, hier: 297. ↩︎

  5. Jürgen Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm. In: ders., Moralbewußt-sein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/Main 1983, 53-125, hier: 103; vgl. auch Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/Main 1997, 49. ↩︎

  6. Vgl. Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt/Main 1998. ↩︎

  7. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/Main 1992, 141. ↩︎

  8. Auf die wichtigen kosmopolitischen Überlegungen von Seyla Benhabib (Kosmopolitismus und Demokratie. Eine Debatte, Frankfurt/New York 2008; sowie: Kosmopolitismus ohne Illusionen. Menschenrechte in unruhigen Zeiten, Berlin 2016; und: Kosmopolitismus im Wandel. Zwischen Demos, Kosmos und Globus, Berlin 2024) kann hier nicht eingegangen werden. ↩︎

  9. Volker M. Heins/Frank Wolff, Hinter Mauern. Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft, Berlin 2023, 59. ↩︎

  10. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Werkausgabe Band XI, hg. von W. Weischedel, Frankfurt/Main 1996, 214. ↩︎

  11. Gernot Böhme, Ethik im Kontext. Über den Umgang mit ersten Fragen, Frankfurt/Main 1997, 222. ↩︎

  12. Der Spiegel 12/2025, 35 f. ↩︎

  13. Der Spiegel 43/2023, 18. ↩︎

  14. Der Spiegel 46/2024, 17. ↩︎

  15. Seyla Benhabib, Kosmopolitismus im Wandel. Zwischen Demos, Kosmos und Globus, Berlin 2024, 42. ↩︎

  16. Donatella Di Cesare, Philosophie der Migration, Berlin 2021, 7. ↩︎

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