Das Klima. Geschichte des Begriffs, 1. Teil

von Alexander von Pechmann

Einleitung

Auf den ersten Blick scheint das Klima eng mit unserem Wetter verbunden zu sein. Während wir mit dem Wetter den momentanen meteorologische Zustand an einem bestimmten Ort bezeichnen, wird unter dem Klima der meteorologische Zustand verstanden, der sich über einen langen Zeitraum erstreckt. Das Wetter, so heißt es, entscheidet, was wir heute anziehen, das Klima, was wir im Kleiderschrank haben.

Doch wegen dieser zeitlichen Differenz von Gegenwart und Dauer bezeichnet das Klima eigentlich keinen ‚Zustand’; es bildet vielmehr eine statistisch gewonnene Durchschnittsgröße, die aus einer Vielzahl von Wetterbeobachtungen errechnet worden ist. Das Wetter erfahren wir jederzeit; das Klima jedoch entzieht sich unserer Wahrnehmung; es ist ein allgemeiner Begriff, der von uns hinzugedacht werden muss.

Dieser Unterschied zwischen dem Wetter, mit dem wir täglich konfrontiert sind, und dem Klima, von dem wir uns erst einen Begriff bilden müssen, zeigt sich gegenwärtig daran, dass wohl niemand daran zweifelt, dass sich das Wetter jederzeit ändern kann – weshalb wir an dessen Vorhersage so interessiert sind –, dass es heute jedoch eine weltweite Kontroverse darüber gibt, ob das auch für das Klima gilt, ob also das Klima sich wandelt. So gilt den Befürwortern des Wandels der Schutz des Klimas als eine der größten Herausforderung dieses Jahrhunderts, die Skeptiker hingegen betrachten ihn oft als ein kostspieliges Luxusproblem. So klar und unstrittig unser Bild vom jeweiligen Wetter ist, so unscharf und umstritten ist offenbar unser Bild vom Klima als einer höchst abstrakten Vorstellung.

Im Folgenden soll in vier Kapiteln gezeigt werden, dass der Begriff des Klimas in der Tat eine wechselvolle Geschichte von unterschiedlichen Bedeutungen hatte, die in ihrer Zeit jeweils eng mit philosophischen und weltanschaulichen Kontroversen verbunden waren. Das erste Kapitel befasst sich mit der Kontroverse in der Antike, das zweite mit der erkenntnistheoretischen und weltanschaulichen Auseinandersetzung zwischen Johann Gottfried Herder und Immanuel Kant um den Begriff des Klimas, das folgende mit Alexander von Humboldt und der Entstehung der Klimatologie als Wissenschaft, das letzte Kapitel schließlich mit der gegenwärtigen wissenschaftlichen und politischen Debatte um den Klimawandel. Was das Klima ist und wie wir es erkennen können, so das Fazit, war bis in die Gegenwart Gegenstand wissenschaftlicher und philosophischer Kontroversen.

I. Antike: Das Klima als „Neigung“

Mit dieser mathematischen Erklärung der Erdzonen durch die „Neigung“ war jedoch noch nichts über das wirkliche bzw. physische Verhältnis von Erde und Sonne gesagt. Denn entweder gehen wir von unserer Alltagserfahrung aus, nach der die Erde das ruhende Zentrum des Universums bildet und die Sonne als Quelle der Wärme (und mit ihr die anderen Gestirne) die Erde umkreist. Oder wir setzen, kontrafaktisch, umgekehrt voraus, dass die Sonne das Zentrum bildet und die Erde sie als ein Planet in einer bestimmten Weise umkreist. Im ersten Fall, der Erde als Zentrum, liegt nun aus einer menschlichen bzw. anthropozentrischen Perspektive die Annahme nahe, dass sich hinter den Unterschieden des Klimas eine gewisse Absicht oder Vernunft verbirgt, durch die im Mittelpunkt des Universums eine bestimmte Zone der Erde gerade so beschaffen ist, dass sie für den Menschen zum bewohnbaren Lebensraum geworden ist. Im entgegengesetzten Fall wäre es aus kosmologischer Perspektive jedoch unmöglich, dem Universum eine solche Absicht oder Vernunft zu unterstellen. Die klimatischen Unterschiede wären schlicht physikalische Wirkungen der Sonneneinstrahlung. Hat also die Aufteilung der Erdkugel in jene fünf Klimazonen einen höheren Sinn, oder hat sie keinen? Diese Frage nach dem wirklichen Verhältnis von Erde und Sonne aber war bei der Erdvermessung der ‚alten Griechen’ von zentraler philosophischer und ideologischer Bedeutung.

Nun war und ist es bis heute unsere unmittelbare Erfahrung, dass die Erde im Zentrum ruht, während der „gestirnte Himmel“ sich um sie dreht. Doch prinzipiell spricht nichts dagegen, dass es sich in Wirklichkeit, wie wir heute – bis auf wenige Ausnahmen – annehmen, umgekehrt verhält, dass wir uns also durch die wissenschaftliche Erforschung vom Gegenteil unserer Erfahrungen überzeugen lassen. Dennoch ist der erste Fall, das sog. „geozentrische System“, in der Folge über eineinhalb Jahrtausend zum allgemein verbindlichen Standard geworden, der das Verhältnis von Erde und Sonne vermeintlich ‚richtig’ beschreibt. Da diese Verbindlichkeit jedoch weder auf die unmittelbare Erfahrung zurückgeführt werden kann, die uns ja des Öfteren täuscht, noch auf den damaligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse, wie sich zeigen wird, muss das Motiv für diesen Standard des geozentrischen Systems letztlich philosophisch-weltanschaulicher Natur gewesen sein. Zu deren Erklärung müssen wir uns der damaligen philosophischen Debatte zuwenden.

Der Streit ums Weltbild

Im damals geistig führenden Zentrum Athen war mit Sokrates, Platon und Aristoteles eine Denkströmung prägend geworden, die sich von der theoretischen Erforschung des Wahren, wie sie zuvor insbesondere von den ionischen Philosophen betrieben worden war, abgewandt und sich den praktischen Fragen nach dem Guten zugewandt hatte. Von ihnen wurde das Gute und Vollkommene als das Vernünftige zum höchsten Prinzip erhoben, das nicht nur das praktische Handeln, sondern auch die denkende Erkenntnis bestimmen sollte. Während Platon dieses Gute jedoch als ein jenseitiges Reich der ewigen Ideen konzipiert hatte, nach dem die menschliche Erkenntnis strebe, war die Philosophie des Aristoteles vom Gedanken getragen, das Gute auch in der sinnlich gegebenen Natur aufzufinden, die, wie er annahm, zu ihm als ihrem letzten und höchsten Zweck strebe. Diese teleologische Weltanschauung aber musste an dem Unterschied vom Himmel und der Erde in der Weise festhalten, dass die von den Menschen bewohnte Erde das selbst ruhende Zentrum des Universums ist, während am Himmel die Gestirne und mit ihnen die Sonne als „selige Götter“ ihre ewigen Kreisbahnen um die Erde ziehen.

Einer solchen, nach dem Prinzip des Guten und Vollkommenen organisierten Weltordnung musste nun aber die Annahme völlig widersprechen, die Erde – und auf ihr das Volk der Griechen – sei nicht das Zentrum des Universums, sondern sei ein kugelförmiger Körper, der ständig um sich und die Sonne kreist, und die Klimazonen seien nur die Folge dieser Bewegungen der Erde. Aus dieser Perspektive war eine solche Annahme vor allem in ethisch-praktischer Hinsicht verwerflich: sie leugnete das Gute und Vernünftige der Weltordnung.

Alexandria – Zentrum der Wissenschaften

  1. Die „verbrannte“ wie die „kalten“ Zonen fasste man später dann als „zonae inhabilitabiles“ (unbewohnbare Zonen) zusammen. ↩︎
  2. Eine wichtige Grundlage für die Erdkugellehre hatte bereits Anaximander mit seiner These von dem im kugelförmigen All freischwebenden Erdzylinder geliefert. So lag der Analogieschluss von der Kugelgestalt des Himmels auf die im Zentrum ruhende Erde zumindest nahe. Er wurde durch Aristoteles’ Beobachtung der runden Gestalt des Erdschattens bei der Mondfinsternis erhärtet sowie durch die theoretischen Erwägungen über die Kugel als vollkommenen Körper begünstigt. Wie die theoretische Genese jedoch im einzelnen verlief, entzieht sich unserer Kenntnis. ↩︎
  3. Stephan Heilen, Eudoxos von Knidos und Pytheas von Massalis, In: Wolfgang Hüber (Hg), Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften in der Antike, Bd. 2, Geographie und verwandte Wissenschaften, Stuttgart 2000, 60. ↩︎
  4. Aristoteles, Politik, VII, 7. – Eine ‚klimatologische Völkerlehre’, der sich schon sein Schüler Alexander der Große widersetzen sollte. ↩︎
  5. Zudem konnte Aristarchs heliozentrisches Modell die Unregelmäßigkeiten der Planetenbewegungen erklären. ↩︎
  6. In seinem Werk über die hellenistische Wissenschaft schreibt der Wissenschaftshistoriker Lucio Russo: „Wir haben Lukrez’ herrliches Gedicht über die Natur, nicht jedoch die Werke eines Straton von Lampsakos, bei dem einiges darauf hindeutet, dass er der wahre Begründer der Wissenschaften im eigentlichen Sinne des Wortes sein könnte“ (L. Rosso, Die vergessene Revolution oder die Wiedergeburt des Antiken Wissens, Berlin/Heidelberg/New York 2004, 11). ↩︎
  7. „Die hellenistischen Herrscher förderten die Kultur weniger aus innerem Großmut, sondern weil Wissen für sie eine wichtige Machtquelle war“ (ebd., 285). ↩︎
  8. „Die Beweiskraft der induktiven Methode“, schreibt der Philosophiehistoriker Friedrich Lange, „beruht aber auf der Voraussetzung eben jener Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit des Weltganges, welche Demokrit zuerst entscheidend zum Bewusstsein gebracht hatte.“ (F.A. Lange, Geschichte des Materialismus, Bd. 1, Frankfurt/Main 1974, 91). ↩︎
  9. Dies scheint anders bei seinem einzigen Nachfolger, dem Astronomen Seleukos von Seleukeia, gewesen zu sein, der den Heliozentrismus durch theoretische Überlegungen bewiesen haben soll. ↩︎
  10. Plutarch, de facie 6, 923 A = SVF I 500 (zit. nach: Eric R. Dodds, Mentalitätswandel von der griechischen Aufklärung zur Spätantike und zum Christentum. In: Jochen Schmidt, Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1089, 111) – „(D)ie Stoa hatte schon immer versucht, durch ihren Einfluss den heliozentrischen Ansatz des Aristarch zu Fall zu bringen, weil er, falls man ihn akzeptiert hätte, die Fundamente sowohl der Astrologie als auch der stoischen Religion umgestürzt hätte“ (ebd.). ↩︎
  11. ebd., 93-128. ↩︎

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