Elisabeth Gössmann – Hindernislauf

Elisabeth Gössmann (1928-2019) war Theologin und eine der ersten Vertreterinnen der feministischen Theologie in der katholischen Kirche. 1963 scheiterte ihre Habilitation am Einspruch der Deutschen Bischofskonferenz. 1978 gelang ihr zweiter Versuch im Fach Philosophie bei Eugen Biser. Erst 1990 erhielt sie eine außerplanmäßige Professur in München. Seit 1968 lehrte sie in Tokyo, dann in München und erhielt die Ehrendoktorwürde von fünf Universitäten.

Statt des Titels „Hindernislauf“ hätte ich auch einen anderen wählen können, nämlich: „Geburtsfehler weiblich“. Das war der Kommentar meines Doktorvaters, jedesmal wenn eine der 37 (in Worten: sieben und dreißig) Ablehnungen meiner Bewerbungen auf eine Professur in Deutschland, ob für Philosophie oder Theologie, ob an einer Pädagogischen Hochschule oder Universität, eingetroffen war. Doch dieser Titel ist schon vergeben.

Aber alles der Reihe nach! Als Kind einer lutherisch-katholischen, also konfessionell gemischten Ehe, wurde ich bald auf religiöse Unterschiede im Verhalten der Eltern aufmerksam, wie z. B. die Zuständigkeit verschiedener Kirchen für sie oder das beim Vater fehlende Kreuzzeichen vor und nach dem Tischgebet. Getreu dem katholisch-kirchenrechtlich geforderten Versprechen meines Vaters wurde ich in der Konfession meiner Mutter getauft und erzogen. Bei gelegentlichen Besuchen in Kirchen des lutherischen oder gar reformierten Bekenntnisses festigte sich mein kindliches Urteil, daß es mir in „unserer“ Kirche viel besser gefiel. Eine von mir in „unsere“ Kirche mitgenommene reformierte Freundin neigte ebenfalls meiner Meinung zu, kommentierte aber zu meinem Erstaunen gegenüber ihren Eltern den Gastbesuch bei der anderen Konfession folgendermaßen: „Es war so schön wie im Zirkus.“

Am meisten liebte ich die Fronleichnamsprozession, die sich über die beiden Plätze am Osnabrücker Dom bewegte. Von Blasinstrumenten begleitet, erscholl das Lied: „Kommt her, ihr Kreaturen all, die ihr vor Liebe brennt“. Zwar hatte ich an unserm Küchenherd mit dem Brennen andere als Liebeserfahrungen gemacht, aber das Unverstandene hatte seinen Reiz. Ebenso ging es mir bei den Cherubim und Seraphim, die in diesem Lied vorkamen. Ich hütete mich zu fragen, wer das denn sei. Als ich später im Studium Rudolf Ottos „tremendum et fascinosum“ kennenlernte, waren gleich die Cherubim und Seraphim meiner Kindheit wieder präsent, also wohl bei richtiger Gelegenheit. Als ich dagegen die Engellehre des Dionysius Pseudo-Areopagita studierte, blieb ich ganz kalt; offensichtlich war das eine Ernüchterung.

Mit meinen beiden Spielkameraden Friedel und Günter – sie wohnten in unserm Vorderhaus und waren von lutherischer Konfession – gab es viele religiöse Diskussionen. Daß wir nicht etwa „die Maria anbeten“, wie sie mir vorwarfen, davon konnte ich sie im 2. Schuljahr mit Hilfe des kleinen Schulkatechismus überzeugen. Es gab aber auch „ökumenische“ Übereinkunft: „Wie groß ist der liebe Gott?“ – „Größer als unser Vatter“, darin waren sich beide Jungen, ein paar Jahre älter als ich, einig. „Unser Mutter“ war von solchen Vergleichen ausgeklammert, obwohl gerade diese mir wegen ihrer (von mir noch unverstandenen) Schwangerschaft viel Anlaß zum Grübeln gab. In Gedanken stellten Friedel und Günter viele Schränke und Tische übereinander, um Gottes Größe zu ermessen, und ich bemühte mich, den großen Birnbaum auf unserm Hof oder den alten Kastanienbaum auf dem Hegertor gelegentlich dazwischen zu schieben, da mir Bäume „göttlicher“ erschienen als das tote Holz. Aber wir spürten alle drei, was wir nicht ausdrücken konnten, dass wir aus der Immanenz nicht herauskamen. Das ließ uns viele Male unwillig abbrechen, aber wir versuchten es immer wieder. – Als Friedel dann im II. Weltkrieg als HJ-Meldefahrer bei einem Bombenangriff ums Leben kam, war mir der Gedanke, dass er jetzt „alles weiß“, ein kleiner Trost.

Um diese Zeit quälte mich das erste Wahrnehmen von Subjektivität oder ähnlichem. Ich fragte mich, ob ich wohl in meine Mutter reinkriechen, aus ihren Augen schauen und mit ihrem Kopf denken, aber dann wieder in meine beschränkte Größe und Denkkraft zurückkehren könne. Als ich mich wohl von der Unmöglichkeit dieses Identitätswechsels und der Unwiderruflichkeit von Individualität überzeugt hatte, sagte ich zu ihr: „Ich gucke aus meinem Kopf, und Du guckst aus Deinem Kopf.“ Sie darauf, nicht für meine Ohren bestimmt, am Abend zum Vater: „Das Kind ist manchmal etwas überspannt.“

Ein Jahr vor Kriegsbeginn, im Frühjahr 1938, zogen wir nach Dortmund, weil meinem Vater wegen seiner „katholischen Familie“ – auch mein jüngerer Bruder wurde katholisch getauft und erzogen – eine lange verweigerte Beförderung als Zollbeamter endlich doch noch gewährt worden war. Er war im Herbst 1937, nachdem er schon viel früher ohne sein Zutun vom „Stahlhelm“ in die „SA“ überführt worden war, in die Partei eingetreten, aus Karrieregründen. 1943 wurde er noch zur Wehrmacht eingezogen.

Anfang 1943, als der Bombenkrieg gegen das Industriegebiet sich verschärfte, kamen wir in der 4. Klasse der damaligen „Oberschule für Mädchen“, mit unserer Parallelklasse und den Klassen darunter, nach Oberammergau in die Kinderlandverschickung. Unsere Klasse wohnte in der Pension einer überzeugt christlichen Familie, und wir wurden von unseren mitverschickten Lehrerinnen (mit einer Ausnahme) nicht etwa nationalsozialistisch indoktriniert, eigentlich auch nicht von den BDM-Führerinnen, die, nur wenige Jahre älter als wir, am Nachmittag für uns verantwortlich waren. Aber „von oben“ wurde uns der vorher versprochene sonntägliche Kirchenbesuch vereitelt, indem befohlen wurde, dass wir an einer zentralen HJ-Morgenfeier teilzunehmen hätten. Wir gingen zum Pfarrer von Oberammergau, und der legte noch eine Messe ein zu einer uns möglichen Zeit, die dann im Ort „KLV-Messe“ hieß.

Nach Aufenthalten an verschiedenen ländlichen Evakuierungsorten und Tieffliegerbeschuss auf dem weiten Schulweg per Rad und per Bahn im Jahr 1944 kam es am Kriegsende, nachdem unsere Dortmunder Wohnung längst ausgebombt war, in Rhede an der Ems noch zu direkten Fronterfahrungen. Als die Front näherrückte, mussten wir 15-16-jährigen Mädchen die Schützengräben auswerfen und für die Soldaten kochen. Dann wurde die Brücke gesprengt, und die Bewohner wurden in die moorige Gegend von Rhederfeld evakuiert. Die schwere Artillerie beider Seiten schoss über uns hinweg. Der Ort Rhede wurde bei seiner Einnahme durch die Alliierten fast völlig zerstört, auch unsere letzte Habe in der provisorischen Unterkunft.

Die Bauern errichteten Nissenhütten auf der Deele ihrer abgebrannten Höfe. Wir Mädchen mussten die Gräben wieder zuschütten und waren voller Sorge, ob wir wohl demnächst irgendwohin verschleppt würden. Ich praktizierte mein erstes Englisch, um zwischen den Bauern und der Besatzung zu vermitteln.

Im Herbst 1945 kam unser Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurück, völlig abgemagert. Wenige Wochen später traf der Bescheid ein, er sei wegen der Mitgliedschaft bei nationalsozialistischen Organisationen aus dem Beamtendienst entlassen. Unser Konto wurde gesperrt, 300 Mark pro Monat durften abgehoben werden. Es war berechenbar, wie lange das reicht. Mein Vater eröffnete mir, wenn ich bis Frühjahr 1947 das Abitur schaffen würde, könne er mir noch helfen, sonst nicht. Ich hatte Unterricht in den drei Fremdsprachen bei einer Studentin aus dem Dorf, in der Nissenhütte auf der Deele ihres abgebrannten elterlichen Hofes, und nachdem wir ein Lehrbuch aufgetrieben hatten, gelang es meinem Vater auch, meine mathematischen Lücken zu füllen, obwohl er zur landwirtschaftlichen Arbeit „dienstverpflichtet“ war. Ich ging im Frühjahr 1946 frech in die oberste Klasse der Mädchen-Oberschule in Leer/Ostfriesland, wo ich auch vor dem Kriegsende schon war, und kam in der neuen Klasse ganz gut mit. Nur ein Lehrer merkte etwas und wollte mich zurückstufen. Meine Mutter tauschte eine goldene Brosche, ein Andenken von ihrer Mutter, gegen Speck und fuhr am nächsten Morgen nach Leer, um den Lehrer „herumzukriegen“, aber der war inzwischen vom gleichen Schicksal ereilt wie mein Vater. Die Hürde Abitur wurde planmäßig im Frühjahr 1947, nach einem kalten Winter ohne Kohlen, genommen.

Mein Vater war bis dahin sogar schon „entnazifiziert“ und wieder im Beruf, und ich durfte studieren. Nach dem, was ich erlebt hatte – die Ängste im Luftschutzkeller vor dem Verschüttetwerden, der Anblick der gefallenen Soldaten in Rhede, die Zerstörung der alten Straßen mit den schönen Ackerbürgerhäusern in Osnabrück, die ich als Kind so geliebt hatte –, was sollte ich anderes studieren als Theologie und Philosophie? Ich fühlte mich veranlasst, nur noch „sub specie aeternitatis“ zu leben und mich an nichts Vergängliches mehr zu hängen. Also beschloss ich das Studium dieser beiden Fächer, und als gesichertes „Schulfach“ (Konzession an den Vater) noch Germanistik dazu. Ich besuchte alle Vorlesungen und Seminare mit metaphysischen Themen – in der Nachkriegszeit waren es gar nicht wenige – und legte in der Theologie den Schwerpunkt auf die Dogmatik. Im Mai 1952 bestand ich in Münster das Staatsexamen und ging nach München, wo ich zuvor schon ein Semester studiert hatte.

Es war mir nämlich die neue theologische Promotionsordnung der LMU unter die Augen gekommen, in der gegenüber der alten ein Satz fehlte: Es stand nicht mehr darin, der Kandidat müsse bereits die Diakonatsweihe empfangen haben. Mit einer Freundin war ich schon in den Pfingstferien 1951 nach München getrampt, um an meinen späteren Doktorvater, Prof. Michael Schmaus, die Frage zu richten: „Bedeutet das, dass wir auch?“ – „Ja, aber nur, wenn Ihr nicht mit einer durchschnittlichen Arbeit kommt, sonst gibt es sicher Schwierigkeiten.“ Er ließ mich gar nicht ausreden, denn er kannte mich noch aus seinem Seminar im Jahr zuvor, als ich mich schon einmal nach einer solchen Möglichkeit erkundigt und er daraufhin nur gelächelt hatte. Im November 1954 wurden wir zu zweit als Frauen in Theologie promoviert, 10 Jahre früher, als dies an anderen westdeutschen Universitäten möglich war.

Das Promotionsstudium war für mich eine Bekehrung zur Geschichtlichkeit; nicht dass ich das metaphysische Denken, das mir ja im Mittelalter noch reichlich begegnen sollte, beiseite warf, aber ich lernte, besonders durch unsere Lektüren im „Grabmann-Institut zur Erforschung der Philosophie und Theologie des Mittelalters“, die der Frühscholastik, der Mystiktheorie (Richard von St. Viktor) und der Franziskanertheologie gewidmet waren, in Spannung dazu auch das heilsgeschichtliche Denken kennen sowie die allmähliche Entwicklung, die zu christlichen Dogmen geführt hatte, über deren Vorformen zu reflektieren, ich bis heute als sehr sinnvoll empfinde. Mit seinem großen theologiegeschichtlichen Wissen brachte Schmaus uns bei, Begriffe in ihrer Gewordenheit und Wandelbarkeit zu rezipieren, auch in ihrem verschiedenen Gebrauch bei unterschiedlichen Schulen. Er sprach von der Notwendigkeit des Übersetzens von einem veralteten Weltbild in ein neues. Ich entdeckte aber auch bei der Vorbereitung meiner Doktorarbeit, wie viele mittelalterliche Schriftstellerinnen, die entweder als Mystikerinnen oder als Dichterinnen klassifiziert wurden, sich theologisch kompetent geäußert hatten, und bezog sie in meine Dissertation ein.

Genau ein Jahr nach meiner Promotion saßen wir, nun als junge Familie, im Flugzeug nach Tokyo, wo zur ersten noch eine zweite Tochter hinzukam. Helfende Hände, so dass ich beruflich tätig sein konnte, gab es damals noch genug. Beide arbeiteten wir an der Sophia-Universität in der Deutschen Abteilung, und ich zusätzlich an einer Frauenuniversität, wo ich, neben dem obligaten Sprachunterricht, in englischer Sprache Vorlesungen über „Mediaeval Philosophy“ und „Modern Christian Philosophy“ halten konnte. Hier lag mein Schwerpunkt. Dass ich dafür nur mit meinem deutschen Schulenglisch ausgerüstet war, möchte ich nicht als Hürde bezeichnen. Zwar brauchte ich viel Vorbereitungszeit, um englischsprachige Sekundärliteratur zu lesen, die mir das notwendige Vokabular verschaffte, aber es ging mir einigermaßen leicht von der Zunge. Viele Studentinnen im damaligen International College verstanden mich sogar besser als ihre amerikanischen Dozentinnen, kein Wunder, da ich als non-native speaker sehr langsam sprach.

In dieser Zeit begann ich, mich mit dem Buddhismus zu befassen und die figürliche Kunst dieser Religion in den japanischen Tempeln wertzuschätzen. Ich fand auch noch Zeit, meine Habilitationsschrift über eine franziskanische Summa Theologica weiterzubringen, mit der ich in dem Jahr nach der Promotion in München schon angefangen hatte. Im Sommer 1960 kehrten wir nach München zurück; denn ich brauchte zur Vollendung der Arbeit die hiesigen Bibliotheken. In dieser Zeit war ich wissenschaftliche Mitarbeiterin am Grabmann-Institut und nahm auch weiterhin an den Seminarübungen teil. Mein Wissen über die Vielfältigkeit und das divergierende Denken in den verschiedenen Schulen vertiefte sich und bewahrte mich zeitlebens davor, „die Scholastik“ – etwa in ihrem Frauenbild – über einen Kamm zu scheren.

Im Herbst 1962 gab ich bei Professor Schmaus meine Habilitationsschrift ab, und das Verfahren wurde eröffnet. Aber bald schon erhob sich Einspruch von bischöflicher Seite und wohl auch innerhalb der Fakultät; und das, obwohl Schmaus in Rom, im Aufwind der ersten Sitzungsperiode des II. Vatikanums, versucht hatte, allerwärts „gut’ Wetter“ für die „Laienhabilitation“ (Habilitation von Nichtpriestern) zu machen. Ich wurde zu Kardinal Döpfner gerufen, der mir erklärte, dass der Abbruch meines Habilitationsverfahrens keineswegs an meiner Leistung liege, sondern daran, dass „wir Bischöfe ja noch nicht wissen, was wir mit habilitierten Laien in der Theologie anfangen sollen“. Er dachte dabei an die damals noch ganz in den Händen von Geistlichen als Theologieprofessoren liegende Priesterausbildung. Nun, für männliche Laientheologen löste sich dieses Problem viel früher als für weibliche. Die theologische Habilitationshürde konnte ich nicht nehmen.

Ich ging mit den Kindern zurück nach Tokyo und übernahm 1967 an meiner Frauenuniversität die Leitung der Sektion „Humanities in English“. 1968 wurde ich zur Kyôju (full professor) befördert. Nach US-amerikanischem Vorbild waren die „Humanities“ eine kleine Abteilung, in der ein Überblick der Geisteswissenschaften, mit einem „Spritzer“ von Sozialwissenschaften, angeboten wurde. Dazu gehörte auch ein zweijähriger Kurs „Great Books of World Literature“, den zu organisieren mir viel Spaß machte. Die deutsche Philosophie- und Literaturgeschichte überblickshaft zu vermitteln, übernahm ich selbst, eine Kollegin aus der Abteilung für Englische Literatur das entsprechende Englische, ein Jesuit der Sophia-Universität, der Romanist war, gab eine Einführung in die spanische, italienische und französische Literatur, und eine russische Literaturwissenschaftlerin, die mir die damalige Sowjet-Botschaft vermittelt hatte, deckte ihren Bereich ab. Ich selbst lernte viel bei diesen Vorlesungen und dachte mehr als einmal, daß uns ein solcher Überblick in Form eines Studium generale in Deutschland doch eigentlich auch sehr nützlich wäre.

Das waren sieben relativ glücklich verlaufende und Berufsfreude erweckende Jahre, die auch durch die bunt gemischte Studentinnenschaft viel Anregung gaben. Neben den Japanerinnen studierten damals dort auch Koreanerinnen, Hongkong-Chinesinnen, Philippinerinnen, Thailänderinnen, einige wenige Amerikanerinnen aus Nord und Süd. Eine Wochenstunde gab ich aber damals schon auf Japanisch, weil ich eine solche Zukunft auf mich zukommen sah.

1974 war es dann so weit. Die Zahl der ausländischen Studentinnen nahm ab, und die Sektion „Humanities in English“ wurde aufgelöst. Ich hatte nur die Frühjahrsferien, um mich auf eine Lehrtätigkeit nur noch in japanischer Sprache umzustellen; ohne systematisches Sprachstudium eine ganz gewaltige Hürde. Nächtelang saß ich an der Vorbereitung, wobei ich die Hilfe einer bei uns wohnenden Studentin in Anspruch nehmen musste. Es war eine harte Zeit.

Aber hätte ich es nicht geschafft, wäre meine Professur nicht zu halten gewesen. Ich wurde in die Abteilung für „Westliche Philosophie“ übernommen, wo es auch eine Sektion für Christliche Studien gab, die ich später leitete. Hier konnte ich sogar Griechisch und Theologie des Neuen Testamentes lehren, daneben fiel mir aber auch die Philosophie der europäischen Antike zu. Glücklicherweise hatten wir einen japanischen Spezialisten für Kant, so dass es mir erspart blieb, mir das dafür notwendige (und z. T. im 19. Jahrhundert für die Rezeption des Deutschen Idealismus erst geschaffene) japanische Begriffswerkzeug anzueignen. Die Zusammenarbeit unter den Philosophiedozierenden gestaltete sich sehr hilfreich. Ich konnte und kann ihnen bei ihren zahlreichen Übersetzungsprojekten helfen und sie mir bei meinen Schwierigkeiten mit dem Japanischen.

1977 war freundlicherweise Prof. Eugen Biser bereit, meine bis dahin veröffentlichten mediävistischen Monographien (darunter auch die einstige „verhinderte“ Habilitationsschrift) zu begutachten, um mir eine kumulative Habilitation zu ermöglichen. Das Colloquium, das mir in der Theologischen Fakultät erspart geblieben wäre, musste ich aber ablegen und zu diesem Zweck drei Themen einreichen, bevor ich nach den Frühjahrsferien wieder nach Tokyo flog. In Moskau – die Aeroflot war die einzige für mich erschwingliche Luftlinie – musste man damals noch auf einen Fragebogen die Titel aller Bücher und Zeitschriften eintragen, die man mit sich führte. Ich hatte aber nichts als Bücher und Kopien zur Vorbereitung meiner drei Themen im Gepäck und hätte viele Fragebogen gebraucht, ganz abgesehen davon, dass die Zeit nicht reichte. Ich wagte es, ein leeres Blatt abzugeben. Ich hatte Glück, bei mir gab es keine Stichprobe. Auf dem Rückweg ging es ebenso, allerdings mit viel Herzklopfen, aus Furcht, dass mir etwas Notwendiges abgenommen werden könnte. 1978 hatte ich auf dem Weg nach Tokyo wieder das Material für drei Themen dabei, diesmal für die Habil-Vorlesung; aber ich erfuhr noch vor dem Abflug nach München, welches dieser Themen genommen wurde, und konnte mein Gepäck reduzieren. Die Habilitationshürde war also endlich genommen, wenngleich nicht im ursprünglich angestrebten Fach, aber doch zur großen Freude, auch von Professor Schmaus.

Zwar hat mir die Habilitation keinen Erfolg bei meinen Bewerbungen beschert, aber gelohnt hat sie sich doch noch. Zunächst einmal war ich recht enttäuscht und verzweifelt, wenn der japanische Postbote mir immer wieder die aus Deutschland zurückgesandten Bewerbungspapiere brachte. Denn das hebt nicht gerade das Selbstbewusstsein. Da aber in Japan schon viel früher als in Deutschland aus den USA die „Women Studies“ bekannt und an japanischen Universitäten eingeführt wurden, hatte ich Gelegenheit, meine bereits zu meiner Promotionszeit begonnenen Studien der Frauentexte aus Mittelalter und Früher Neuzeit wieder aufzugreifen und für die Vorlesung zu verwenden. In meiner Situation des beständigen Abgelehntwerdens gaben mir die alten Texte sogar Trost und Mut. Die in der Mitte des 17. Jahrhunderts für wissenschaftliche Bildung von Frauen streitende Anna Maria van Schurman etwa stellte traurig fest, dass alles weibliche Wirken, kaum hervorgebracht, schon wieder im Dunkel des Vergessens verschwinde und „von den Spuren unseres Namens nicht mehr erscheint als von den Spuren eines Schiffes im Meer“. Aber ich lernte auch, dass diese „Vorschwestern“ ihre Resignation überwinden konnten und im Rahmen des ihnen Möglichen weitermachten. Sie unterwanderten gängige Lehren und korrigierten, schon im Mittelalter und erst recht in der Renaissance, als sie männlichen Beistand erhielten, was ihnen an den androzentrischen Konzepten missfiel. Ab 1984 erschienen in München die Bände meiner Reihe „Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung“.

1986 wurden mir zum ersten Mal, nach vier Jahrzehnten akademischen Lehrens in fremden Sprachen, an den Universitäten Münster und München Lehraufträge angeboten, die ich wegen der verschiedenen Semesterzeiten japanischer und deutscher Universitäten auch annehmen konnte. In der Muttersprache zu unterrichten, so lernte ich schnell, kostet nur die Hälfte der Vorbereitungszeit. Gastprofessuren in Österreich und in der Schweiz kamen hinzu. Dass die Lehraufträge in München in Gang kamen und zur Dauereinrichtung wurden, verdanke ich der Fachschaftsvertretung Philosophie der LMU und nicht weniger Professor Beierwaltes. 1990 wurde eine außerplanmäßige Professur daraus, was ohne die späte Habilitation nicht möglich gewesen wäre. Das bedeutete allerdings, daß ich die volle Professur in Tokyo vorzeitig aufgeben musste. Aber man ernannte mich dort zur Ehrenprofessorin, so dass mir einige Funktionen geblieben sind, ebenso wie meine Vortrags- und Veröffentlichungstätigkeit in Japan. Mein jetziges Leben mit viermaligem Kontinentwechsel pro Jahr gefällt mir sehr gut. Nach soviel Pflichtveranstaltungen in meinem Leben nehme ich mir jetzt die Freiheit, nur das anzubieten, was mich im Hinblick auf meine eigene Forschung weiterbringt.

Daß wir in unseren Seminaren vorwiegend Frauen sind, liegt nicht an mir. Ich freue mich über jeden Studenten, der sich für die Denkgeschichte von Frauen und ihre Auseinandersetzung mit den philosophischen Themen ihrer Zeit oder auch der Vergangenheit interessiert. Nur bei den Seminaren über Hannah Arendt und Rosa Luxemburg gab es bisher eine größere männliche Beteiligung von etwa einem Drittel. In den ersten Jahren meiner Tätigkeit in München verhielten sich die wenigen Studenten in unseren Seminaren ähnlich wie wir Studentinnen um 1950 in philosophischen oder theologischen Seminaren, nämlich nahezu schweigend. Das hat sich inzwischen geändert, auch wenn es nur einer ist, der bis zum Semesterende durchhält.

Weibliche Stimmen aus dem Seminar äußern sich dahingehend, daß es für sie wichtig ist zu wissen, dass – quer durch Geschichte und Geographie – Frauen sich durch die veröffentlichte männliche Meinung über ihr Geschlecht diskriminiert fühlten, aber nicht geschwiegen haben. Den in der Überzahl befindlichen Seminarteilnehmerinnen fällt es leichter, ihre Gedanken auszutauschen und die Übereinstimmungen im Denken und Fühlen festzustellen, wenn sie sich nicht gegen eine „männliche Übermacht“ durchzusetzen gezwungen sind. Dennoch wäre mir ein gesundes Gleichgewicht am liebsten; besteht doch gerade auf männlicher Seite noch ein großer Aufholbedarf.

Carlos Ulises Moulines – „nomen est omen“


Carlos Ulises Moulines (* 1946 in Caracas, Venezuela) studierte in Barcelona Physik, Philosophie und Psychologie und promovierte 1975 in Logik und Wissenschaftstheorie. Von 1993 bis 2012 war er Ordinarius für Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie an der Universität München und Vorsitzender des Instituts. Er ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und war von 1997 bis 2000 Präsident der Gesellschaft für Analytische Philosophie.

Das Angebot des Widerspruch, eine kurze Selbstbiographie für die Rubrik „Münchner Philosophie“ zu schreiben, nehme ich gerne wahr. Es stellt eine willkommene Gelegenheit dar, mir Gedanken darüber zu machen, wieso ich Philosoph, dazu noch „Münchner Philosoph“, geworden bin, und die Ergebnisse all denen mitzuteilen, die erfahren möchten, was zur Fauna der Münchner Philosophie gehört.

Als meine Eltern beschlossen, mir als Vornamen die hispanisierte Version des altgriechischen „Odysseus“ zu geben, ahnten sie wohl nicht, wie sehr sie dadurch meinen Lebenslauf vorbestimmten. Inzwischen bin ich zu der festen Überzeugung gelangt, dass im lateinischen Spruch „nomen est omen“ ein Körnchen Wahrheit steckt – auch wenn Sie, liebe LeserInnen, dies als einen des Philosophen unwürdigen Aberglauben abtun sollten! Das ständige Herumvagabundieren des Helden von Homer habe ich, teils gewollt, teils ungewollt, nach Kräften nachgeahmt, und zwar nicht nur in geographischer, sondern auch in geistiger Hinsicht.

Ich bin in Venezuela geboren, wohin die Wirren des spanischen Bürgerkriegs und des Zweiten Weltkriegs meine Eltern verschlagen hatten. Sie waren Anhänger der spanischen Republik und mussten aufgrund von Francos Sieg zunächst nach Frankreich fliehen. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen wurden sie als „Fremdarbeiter“ nach Deutschland verschleppt. Abgesehen von den Phosphor-Bomben und von einem (verhältnismäßig kurzen) Aufenthalt meines Vaters in den Kerkern der Gestapo, war ihre Zeit in Nazi-Deutschland nicht so schlimm, wie sie zunächst befürchtet hatten. Als der Krieg zu Ende ging, gelang es ihnen unter abenteuerlichen Umständen, nach Venezuela auszuwandern.

Die deutsche Erfahrung meiner Eltern sollte sich als entscheidend für meine spätere Laufbahn erweisen, und dies aus zweierlei Gründen: Erstens haben sie mir seit frühester Kindheit eingeprägt, dass Deutschland nach wie vor, trotz Hitler & Co., eine grosse Kulturnation sei; und zweitens ließen sie mich öfters, da sie gute Freundschaften in Deutschland geknüpft hatten, die Ferien hier verbringen, wo ich zwar nie systematisch, wohl aber irgendwie funktional mit den Rudimenten der Sprache Brechts und mit der Komplexität der deutschen Seele einigermaßen vertraut wurde.

In Caracas machte mein Vater, der eine Ausbildung als chemischer Ingenieur hatte, eine wissenschaftlich-technische Buchhandlung auf, die sehr erfolgreich wurde. Jeden Tag nach dem Schulunterricht half ich ihm ein bisschen als Mann bzw. Kind für alles, und war notgedrungen konfrontiert mit Titeln der Art von „Partial Differential Equations“, „Thermodynamics of Irreversible Processes“ oder „Dynamics of Viscous Fluids“. Ich hatte zwar nicht die leiseste Ahnung, was sich hinter diesen Bezeichnungen verbergen konnte, doch beeindruckten sie mich sehr und blieben im Unterbewusstsein haften, gekoppelt mit der Mahnung: „Irgendwann musst du mal herausfinden, was dahintersteckt“. Unter den regelmässigen Kunden der Buchhandlung befanden sich viele Dozenten der naturwissenschaftlichen Fakultäten oder der Technischen Hochschule, die oft mit meinem Vater ins Gespräch kamen und Namen wie „Einstein“ oder „Darwin“, bzw. Wörter wie „Quanten“ und „Relativitätstheorie“ fallen ließen. Auch diese geheimnisumwobenen Ausdrücke regten meine Phantasie an.

Die Bücher, die ich zuhause in der umfangreichen, fünfsprachigen Bibliothek vorfand, waren von ganz anderer Art als die der Buchhandlung: vor allem politische Essays, Studien zur neueren Geschichte Lateinamerikas, Spaniens und Europas, viele Klassiker der Weltliteratur – und praktisch alle gesellschaftskritischen Schriften eines gewissen Bertrand Russell. Meine Eltern waren begeisterte Russell-Leser. Ich blätterte ab und zu mal rein, und nahm mir vor, irgendwann später Russells Essays genauer zu lesen. Aber damals zog ich selbstverständlich die Romane von Jules Verne oder die Erzählungen von Edgar Allan Poe bei weitem vor.

Angesichts der zunehmend instabilen Lage in Venezuela schickten mich meine Eltern, als ich kaum 13 Jahre alt war, zum Besuch des Gymnasiums nach Katalonien, zunächst in eine Kleinstadt zu einer Tante, dann nach Barcelona, wo ich das Abitur machte. Das war eine Zeit, an die ich mich heute noch mit Abscheu erinnere. Das Spanien der 60er Jahre litt noch unter einer grässlichen Diktatur. Die Oppositionellen wurden zwar nicht mehr so oft erschossen wie in den 40er und 50er Jahren – das war auch nicht mehr nötig, und zudem übte das Ausland einen gewissen Druck aufs Regime aus –, aber die bleierne, erstickende Atmosphäre war überall zu spüren: In den Polizeirevieren wurde systematisch gefoltert, Telefone wurden abgehört, nicht-gläubige Schüler wurden gezwungen, an der Schulmesse teilzunehmen, der öffentliche Gebrauch der Minderheiten-Sprachen, wie etwa des Katalanischen, war strikt verboten, viele, auch eher harmlose Bücher, wie etwa über Evolutionstheorie oder Sexualkunde, waren einfach nicht zu bekommen, usw. Und vor allem – man musste ständig aufpassen, was man sagte, und vor wem man es sagte.

Diese Erfahrungen waren schlimm, aber auch prägend. Seitdem weiß ich ganz genau, was für einen unermesslichen Wert es bedeutet, in einer echt freiheitlichen Gesellschaft zu leben. Es bedeutet nämlich, dass der Staat uns alle gefälligst in Ruhe lassen sollte, was unsere Meinungen und Überzeugungen anbelangt. Diese an sich banale Selbstverständlichkeit ist nach wie vor alles andere als gesichert. Nicht nur im heutigen, als so dynamisch und demokratisch gepriesenen Spanien gibt es immer noch eine beträchtliche Anzahl von Dummköpfen, die innerlich (oder sogar öffentlich) dem Franco-Regime nachtrauern. Auch in den älteren westlichen Demokratien findet allmählich und heimtückisch ein Rückgang in Richtung Reglementierung der Meinungsvielfalt statt, und zwar nicht nur in George Bushs Reich, sondern auch in Europa. Wir alle, die jüngere Generation aber ganz besonders, sollten auf der Hut sein. Es versteht sich von selbst, dass jeder Einschnitt in die Meinungsfreiheit, so klein er auch erscheinen mag, gerade für die Philosophie, aber nicht nur für sie, tödliches Gift darstellt.

Nach dem Abitur beschloss ich zunächst, mein Studium der Physik an der Universität Barcelona zu beginnen. Die offizielle Motivation war, dass ich wissen wollte, wie die Welt beschaffen ist. Der heimliche Grund aber war, dass ich endlich herausfinden wollte, was sich hinter den geheimnisvollen Titeln in der väterlichen Buchhandlung versteckte. Allerdings hatte ich damals schon auch damit angefangen, zahlreiche philosophische Texte verschiedenster Provenienz zu lesen. Ich hatte drei Lieblingsautoren. Einer war gewiss, schon aus familiären Gründen, Russell, hauptsächlich wegen seiner mathematikphilosophischen und erkenntnistheoretischen Werke, die mich sehr interessierten. Ein zweiter war der Tractatus-Wittgenstein, von dessen Existenz ich durch Russell erfahren hatte. Tag für Tag, Woche für Woche ackerte ich mich zusammen mit einem Freund durch jeden einzelnen Absatz dieses geheimnisvollen Werks durch. Wir verstanden wenig, aber fanden es sehr spannend. Die zwei Grundpfeiler von Wittgensteins Philosophie, die er im Vorwort explizit angibt: „Alles, was sich sagen lässt, lässt sich auch klar sagen“ und „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, empfand ich als absolut richtungsweisend, bedauerte allerdings, dass der Autor selbst offenbar nicht imstande war, sich daran zu halten. Trotz meiner eher kritischen Einstellung gegenüber Wittgensteins Stil des Philosophierens bin ich immer wieder auf Wittgenstein zurückgekommen. Jahre später sollte ich die Philosophischen Untersuchungen und Zettel ins Spanische übertragen.

Der dritte Lieblingsautor jener Zeit – und das wird manch einen, der meine philosophische Laufbahn kennt, überraschen – war Heidegger, insbesondere seine späteren Schriften. Ich war sogar davon überzeugt, dass ich sie verstand. Von Heideggers Zauberkunststücken mit der altgriechischen und der deutschen Sprache war ich regelrecht fasziniert. Während meines Physikstudiums, als ich mich durch die öden Differentialgleichungen gelangweilt fühlte, griff ich immer wieder zu den Holzwegen oder zu Was heisst Denken und bekam dabei das Gefühl, dass sich mir eine magische, erfrischende Welt öffnete. Doch bei der Lektüre von Heideggers Vorlesungen über Metaphysik stieß ich eines Tages auf die berüchtigte Stelle über „die innere Wahrheit der nationalsozialistischen Bewegung“. Es war ein regelrechter Schock. Die darauffolgende Entdeckung von Heideggers Rektoratsrede gab mir den Rest. Die Heidegger-Welle war für mich nun endgültig vorbei.

Heute weiß ich, dass dies ein voreiliger, philosophisch nicht gut fundierter Schluss war. Auch Frege war Antisemit – was jedoch seine logische Konstruktion der natürlichen Zahlen keineswegs falsch oder uninteressant macht. In jener Zeit aber wurde für mich durch diese Erfahrung klar, welche Art von Philosophie ich nicht ernst nehmen wollte; nicht klar dagegen war, welche ich ernst nehmen sollte, und ob ich mich überhaupt mit Philosophie systematisch beschäftigen wollte.

In dieser existenziell problematischen Lage half mir das Physik-Studium selbst zur endgültigen Entscheidung. Ich stand diesem zunehmend kritisch gegenüber. Nicht, weil mich der Stoff nicht interessiert hätte. Vielmehr ging es um die völlig kritiklose, dogmatische Art und Weise, wie er übermittelt wurde. Ich hatte das Gefühl, wie in einer erbarmungslos disziplinierten Armee, nur alles schlucken zu dürfen, was die Dozenten erzählten, und zur Anwendung fauler Tricks gedrillt zu werden, um Gleichungen zu lösen, oder um zu bewirken, dass unsere Laborversuche genau das zeigten, was ohnehin zu erwarten war. Jahre später las ich Thomas Kuhns Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, insbesondere das, was er als die „normale Wissenschaft“ und das „puzzle-solving“ beschreibt, und ich erinnerte mich: „Tja! Genauso war es bei meinem Physik-Studium!“. Auch demgegenüber bin ich heute klüger geworden und weiss, dass gerade diese brutal-dogmatische Art, den angehenden Physikern die Grundlagen des Fachs einzuhämmern, eine wesentliche Voraussetzung für die unglaubliche Erfolgsstory der Physik ausmacht. Damals sah ich das aber nicht ein. Ein anekdotischer Vorfall brachte dann das Fass endgültig zum Überlaufen. In der Mechanik-Vorlesung erzählte uns der Dozent, dass das sog. Zweite Prinzip Newtons den absolut zentralen Grundsatz der Mechanik darstelle, da es die Definition des Kraftbegriffs beinhalte. Ich hob die Hand und fragte, wieso dieser Satz so fundamental sei, wenn er eine Definition darstellt; denn eine Definition ist nur eine sprachliche Konvention über den Gebrauch eines Terms, die keine neuen Erkenntnisse liefert. Der Dozent zeigte sich durch meinen Einspruch sehr verärgert und erwiderte, wer solche blödsinnigen Fragen stelle, solle gleich zur Philosophie übergehen.

Was ich dann auch tat. Ich begann mein formelles Studium der Philosophie. Das Physik-Studium habe ich allerdings nicht ganz aufgegeben, sondern nur etwas verlangsamt. Ich studierte beide Fächer parallel, um mich u. a. der lästigen Frage um Newtons Zweites Prinzip zu entledigen. Später dann sollte ich erfahren, dass die Frage nach dem logisch-methodologi­schen Status dieses Prinzips in der Tat keineswegs trivial ist, und dass bedeutende Physiker und Wissenschaftstheoretiker sich damit seit Ernst Machs Zeiten herumgeschlagen haben. Ich selber meine inzwischen, eine Lösung dazu gefunden zu haben, die ich in einigen meiner Schriften dargelegt habe.

So bin ich also dank der schroffen Zurechtweisung meines Mechanik-Lehrers zum Philosophen und Wissenschaftstheoretiker geworden.

In der barcelonesischen Fakultät für Philosophie hatte ich das Glück, durch einen frischgebackenen Schüler von Hans Hermes, Jesús Mosterín, eine gute Ausbildung in der modernen Logik und der axiomatischen Mengenlehre zu bekommen, was im damaligen Spanien keineswegs selbstverständlich war. Es war aber nicht so sehr die „reine“ Logik, die mich anspornte, sondern die Möglichkeiten ihrer Anwendungen auf erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Probleme. Nun fiel mir mehr oder wenig zufällig Carnaps Logischer Aufbau der Welt in die Hände. Es war ein Aha-Erlebnis. Hier ist endlich einer, dachte ich, der Russells „Maxime des wissenschaftlichen Philosophierens“ (nämlich intuitive Schlüsse durch logische Konstruktionen, auch im Fall der empirischen Erkenntnis, zu ersetzen) wirklich in die Tat umsetzt. Meine Magisterarbeit widmete ich in der Hauptsache der Analyse und Revision von Carnaps „Konstitutionssystem“. In erweiterter Form erschien meine Untersuchung ein paar Jahre später als Buch. Seitdem hat mich das Interesse an Carnaps hochkomplexem Werk und an den Möglichkeiten, sein Programm irgendwie weiterzuführen, nie ganz verlassen, und nach dem erwähnten Buch habe ich dazu noch einige Aufsätze sowohl ideengeschichtlicher als auch systematischer Art veröffentlicht.

In dieser Zeit bekam ich ein ernstes Problem mit den spanischen Behörden. Bei einer Demonstration gegen das Franco-Regime wurde ich verhaftet. Da ich einen venezolanischen Pass bei mir hatte, wurde ich nicht – wie sonst üblich – verprügelt und eingekerkert, dafür aber des Landes verwiesen. Nun war aber das damalige Spanien zwar ein Polizeistaat, aber kein perfekter: Francos Schergen haben es nämlich versäumt, sowohl der Universitätsverwaltung wie auch ihren Konsulaten in Europa mitzuteilen, dass ich ein unerwünschter Ausländer war. So fuhr ich mal nach Frankreich, mal nach Italien, mal nach England, um mir dort beim Konsulat ein Touristen-Visum für sechs Monate zu besorgen, womit ich wieder nach Barcelona kam, mich für die Kurse einschrieb und weiterstudierte. Ich wurde sozusagen zu einem Untergrund-Studenten. Dieses Katz-und-Maus-Spiel dauerte drei Jahre. Natürlich war es sehr stressig, aber ich habe es doch bis zum Magisterabschluss (für den ich ironischerweise einen Preis bekam) geschafft.

Mir war aber klar, dass dieses Spiel nicht ewig lange dauern konnte, und dass ich in Spanien sowieso keine Chance hatte. Die Rettung kam quasi in letzter Minute durch ein DAAD-Promotionsstipendium, was meine in Ansätzen schon vorhandene Germanophilie erheblich verstärkte. Im Wintersemester 1970/71 „flüchtete“ich nach München, um im damals von Wolfgang Stegmüller geleiteten „Seminar für Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie“ zu promovieren, was vier Jahre später auch geschah. Als ich nach München kam, betrachtete ich mich selber als „Carnapianer“ und dachte, nun käme ich in die Obhut des bedeutendsten Carnapianers Europas. Doch damals war Stegmüller schon in eine – wie er selber später sagte – „tiefe geistige Krise“ geraten. Teilweise durch die Lektüre Kuhns, aber auch aus anderen Überlegungen heraus, sah er nun unüberwindliche Schwierigkeiten in der herkömmlichen Auffassung der Struktur und Funktionsweise der empirischen Wissenschaften. Als Reaktion darauf, und gerade als ich mein Promotionsstudium in München begann, fingen Stegmüller und einige seiner Schüler sich intensiv mit dem neuartigen, vielversprechenden Ansatz von Joseph D. Sneed zu beschäftigen.

Stegmüller leitete damals ein DFG-Projekt zu dieser Thematik, an dem ich als Mitarbeiter mitwirken durfte. In diesem Zusammenhang lernte ich auch Sneed, der als Gastprofessor nach München kam, und Wolfgang Balzer, ebenfalls ein Doktorand Stegmüllers, kennen. Mit ihnen (und mit Stegmüller bis zu seinem frühen Tod) verbindet mich seitdem eine dauerhafte Freundschaft und eine enge, langjährige Zusammenarbeit. Aus dieser Zusammenarbeit entstand die wissenschaftstheoretische Forschungsrichtung, die seit Ende der 70er Jahre als „strukturalistische Wissenschaftskonzeption“ allgemein bekannt wurde, und die später in dem von Balzer, Sneed und mir verfassten Werk An Architectonic for Science kulminieren sollte.

Nach meiner Promotion mit einer Arbeit „Zur logischen Rekonstruktion der Thermodynamik“ wurde ich 1975 Assistent bei Stegmüller. Ich war im Prinzip entschlossen, meine akademische Laufbahn in Deutschland fortzusetzen. Es gab aber schon wieder ein Problem: Die Ausländerbehörde an der Ettstrasse sah nicht ein, dass ein „Dritte-Weltler“, der bloss mit einem Stipendium hierher gekommen war, auf unbestimmte Zeit in Deutschland bleiben durfte. Trotz Stegmüllers ausserordentlich freundlichem Einsatz (er hat sogar den damaligen Rektor Professor Lobkowicz dazu bewegt, ein Wort für mich einzulegen) wurden die Beamten an der Ettstrasse nicht einsichtiger, und ich musste jederzeit damit rechnen, manu militari zum Flughafen gebracht zu werden. Irgendwie kam mir die Situation bekannt vor. Doch auch diesmal kam die Rettung in letzter Sekunde. Aufgrund ziemlich zufälliger Kontakte erhielt ich das Angebot einer Dauerstelle am „Institut für philosophische Forschung“ der Nationalen Universität Mexikos, eines Landes, das ich überhaupt nicht kannte, das mir aber eine gute Zuflucht anbot. Also habe ich die Koffer gepackt.

Die Arbeitsbedingungen in Mexiko erwiesen sich als optimal. Ich musste nur zwei Stunden wöchentlich unterrichten, und den Rest konnte ich voll der Forschung widmen, zudem mit guten Publikationsmöglichkeiten. Im mexikanischen Institut habe ich natürlich meine Arbeiten innerhalb des strukturalistischen Ansatzes weitergeführt, mich aber auch zunehmend mit allgemein erkenntnistheoretischen, ontologischen und wissenschaftshistorischen Themen befasst. (In München hatte ich schon Wissenschaftsgeschichte als Nebenfach im Institut am Deutschen Museum studiert.) Seitdem sind auch sie Schwerpunkte meiner Forschung geblieben.

Während meiner mexikanischen Zeit bekam ich von der „University of California at Santa Cruz“ für ein Jahr eine Einladung als „Visiting Professor“. Es gab viele gute Dinge dort: eine entzückende Landschaft, optimale Arbeitsbedingungen (besonders in den Bibliotheken) und die Nähe zu Stanford: Jeden Freitag nachmittags fuhr ich zum Seminar von Patrick Suppes, was meine Arbeit beträchtlich förderte. Dennoch, und obwohl ich die Mög­lichkeit gehabt hätte, länger zu bleiben und meine akademische Laufbahn in den Vereinigten Staaten aufzubauen, funktionierte die „Chemie“ zwischen meiner Person und meiner US-amerikanischen Umwelt nicht so ganz richtig, so dass ich beschloss, nach Mexiko zurückzukehren. Allerdings ließ ich mir damit noch etwas Zeit: Die Rückkehr von Kalifornien nach Mexiko-Stadt dauerte – auf dem Umweg über die Stationen der Universität Campinas in Brasilien und des Zentrums für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld – ein Jahr.

Zurück im mexikanischen Institut führte ich meine Forschungstätigkeit in Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsgeschichte, Erkenntnistheorie, Ontologie und verwandten Gebieten in sehr produktiver Weise fort. Alles in allem habe ich die in Mexiko verbrachten acht Jahre in guter Erinnerung, auch in privater Hinsicht. Dort habe ich meine Frau kennengelernt, zahlreiche feste Freundschaften geschlossen und hoch motivierte Schüler gehabt, die später zu angesehenen Professoren wurden. Dennoch verblieb mir immer noch eine gewisse Sehnsucht nach dem alten Europa, sprich Deutschland. Als ich einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie an der Universität Bielefeld erhielt, habe ich ihn nach reiflicher Überlegung angenommen. 1984 siedelten meine Frau und ich aus dem sonnigen Mexiko ins nebelige Bielefeld um. Auch hier empfing mich eine sehr anregende, aufgeschlossene Forschungsatmosphäre. Ich stellte fest, dass der ansonsten nur als Floskel verwendete Terminus „Interdisziplinarität“ an der Universität Bielefeld alltägliche Wirklichkeit war. Insbesondere nahm ich an einigen gemeinsamen Vorhaben mit Kollegen der Wissenschaftssoziologie und der Wissenschaftsgeschichte im „Schwerpunkt Wissenschaftsforschung“ teil.

Aber es kam endlich auch der Augenblick, die ostwestfälische Insel auf meiner Odyssee zu verlassen. 1988 nahm ich einen Ruf an die Freie Universität Berlin an. Nach einigen anfänglichen Schwierigkeiten haben wir uns in Berlin sehr gut eingelebt. Eines Novemberabends des Wunderjahres 1989 standen meine Frau und ich an der Berliner Mauer und sahen das Wunder geschehen. Damals haben wir uns – wie alle anderen, die da waren – unheimlich gefreut. Was ich damals noch nicht wissen konnte, war, dass dieses Wunder auf die Dauer die langsame Agonie der FU Berlin, und insbesondere seines philosophischen Instituts, bedeuten könnte. Als diese Bedrohung immer spürbarer wurde, habe ich den Ruf als Nachfolger Stegmüllers an der LMU erhalten – und angenommen. Der entscheidende Grund für meinen Entschluss pro München war allerdings, dass keine andere der mir bekannten philosophischen Fakultäten in Deutschland, oder sogar in Europa, eine so starke Tradition und ein so starkes Profil auf den Gebieten hat, auf denen ich mich besonders zu Hause fühle – in der Logik, in der Philosophie der Mathematik, in der Wissenschaftstheorie, und überhaupt in der formal arbeitenden Philosophie.

Seit 1993 bin ich Vorsitzender des Seminars (zeitweise Instituts) für Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie in der Philosophischen Fakultät der Universität München. Abgesehen von einem Forschungsjahr 2003/04 als Inhaber des Lehrstuhls „Blaise Pascal“ an der Pariser „Ecole Normale Supérieure“ (wo ich endlich die Zeit hatte, eine Geschichte der Wissenschaftstheorie zu schreiben, die vor kurzem in französischer Sprache erschienen ist), habe ich seit nunmehr 13 Jahren fast ununterbrochen in München gelebt und an der LMU gelehrt und geforscht. An keinem anderen Ort bin ich in meinem bisherigen Leben so lange geblieben. Und somit bin ich also nicht nur Philosoph, sondern auch Münchner Philosoph geworden, was ich als eine besondere Auszeichnung empfinde. Die Tatsache, dass ich inzwischen auch in die Bayerische Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden bin, stellt eine zusätzliche Auszeichung dar, die die erste noch verstärkt, und die mich gegenüber der Bayerischen Wissenschaftswelt besonders verpflichtet.

Und so gelangen wir, liebe LeserInnen, zum Ende meiner Odyssee. Es sieht so aus, als ob München tatsächlich mein Ithaka darstellt. Wo könnte es sonst noch sein? Gewiss, wir leben nicht in rosigen Zeiten. Das gilt aber überall und für alle Bereiche. Die Zeiten sind schlecht für die universitäre Forschung, sie sind besonders schlecht für die geisteswissenschaftliche Forschung, noch schlechter für die philosophische Forschung, und ein Grad noch schlechter für die spezifisch wissenschaftstheoretische Forschung. Und dennoch werden in der Münchner Philosophie und Wissenschaftstheorie nach wie vor Arbeiten der höchsten, international konkurrenzfähigen Qualität geleistet; wir ziehen hochmotivierte Studierenden an, auch viele aus dem Ausland, die sehr oft glänzende Abschlussarbeiten schreiben, und werden Monat für Monat von hochkarätigen Gastprofessoren aus aller Welt besucht. Ich meine, wir stehen gar nicht so schlecht da. Jedoch mindestens eine Sache brauchen wir Münchner Philosophen noch, um nicht entmutigt zu werden: Nach den letzten Jahren der unerbittlichen Stellenkürzungen, Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen, aufgezwungenen Reformpläne, die sogleich wieder obsolet werden, und anderem mehr, brauchen wir endlich gesicherte Verhältnisse und ein wenig Ruhe, um uns unseren eigentlichen Aufgaben in Forschung und Lehre voll widmen zu können. Mögen die „höheren Instanzen“ einsehen, dass gute Philosophie keinen entbehrlichen Luxus darstellt, und Erbarmen mit uns zeigen …

Hermann Krings – Philosophie zwischen Anpassung und Selbstbehauptung

Die Rolle der Medizin im Nationalsozialismus wurde bald nach seinem Zusammenbruch kritisch aufgearbeitet. Ebenso die Rolle der Justiz. Über die Anpassung der Philosophie ans Hitler-Regime herrschte dagegen – abgesehen von prominenten Einzelfällen (Heidegger, Rosenberg) – lange Zeit Stillschweigen. Die Behandlung der „Philosophie im Faschismus“ im WIDERSPRUCH (Heft 13, 1987) war damals eine, auch von Massenmedien anerkannte, Pionierleistung. Dokumentiert und kritisiert wurden nicht nur das philosophische Lehrangebot der LMU München (1933-1945), sondern auch die einschlägigen Publikationen zur Philosophie in dieser Zeit. Ergänzt wurden die Beiträge durch ein Interview mit Hermann Krings (1913-2004), der die Vorgänge an der Münchner Universität aus nächster Nähe erlebt hatte.

Hermann Krings war von 1968 bis 1980 Ordinarius des philosophischen Lehrstuhls II an der LMU. Zur selben Zeit war er Vorsitzender des Deutschen Bildungsrats, Generalsekretär der Görres-Gesellschaft und Herausgeber des Philosophischen Jahrbuchs. An die Münchner Universität kam er bereits 1936, als Student. Er folgte seinem Lehrer und späteren Doktorvater Fritz-Joachim Rintelen, der in diesem Jahr auf den Konkordats-Lehrstuhl berufen wurde. Sein soziales Umfeld war die katholische Studentenverbindung Rheno-Bavaria sowie der katholische Hochland-Kreisum den Schöningh-Verlag. In dieser Zeit war Krings auch eng mit dem Psychotherapeuten und katholischen Religionsphilosophen Fritz Leist und dem Mediziner Willi Graf befreundet, über die er in Verbindung zur Widerstandsgruppe der Weißen Rose um die Geschwister Scholl stand. Aus dieser Perspektive beobachtete und beurteilte er die zunehmende Politisierung der Philosophie während des Nationalsozialismus.

Nicht zur Sprache im Interview kam ein Ereignis, das durch den späteren Inhaber des Konkordatslehrstuhls Max Müller und seine Sekretärin Fräulein Ries verbürgt ist. Hermann Krings wohnte nach der Verhaftung von Willi Graf im Februar 1943 in dessen Schwabinger Wohnung in der Mandlstraße. Dort entdeckte im Schlafzimmer unter dem Bett das Gerät, mit dem Hans und Sophie Scholl die Flugblätter gedruckt hatten, die zu ihrer Verhaftung und schnellen Hinrichtung führten. Die Hinrichtung von Willi Graf, der in Gefängnis Stadelheim einsaß, wurde dagegen noch Monate hinausgeschoben, da die Gestapo hoffte, Geständnisse und Hinweise auf die Widerstandsbewegung herauspressen zu können. In dieser Situation ließ Krings das corpus delicti verschwinden: Er zerlegte die Druckerpresse in Einzelteile und versenkte sie im nahegelegenen Eisbach, einem Seitenarm der Isar.

Die Philosophie zwischen Anpassung und Selbstbehauptung. Gespräch mit Prof. Hermann Krings

Widerspruch: Herr Prof. Krings, Sie sind 1936 an die Münchner Universität gekommen. Was war der Grund, dass sie von der Bonner Universität nach München wechselten?

Krings: Der Wechsel von Bonn beruhte darauf, dass Fritz-Joachim von Rintelen, der schon in Bonn den Konkordatslehrstuhl innehatte, hier auf auf den Lehrstuhl von Joseph Geyser berufen wurde, unter anderem aufgrund seines Buches über den Wertbegriff im Mittelalter und auch, weil er auf diesem Lehrstuhl für die Nazis akzeptabel war. Das hatte auch einen familiären Hintergrund bei von Rintelen. Sein Vater war General gewesen; einer seiner Brüder war Leiter der außenpolitischen Abteilung im Auswärtigen Amt, ein anderer Militärattaché in Rom. Dieser familiäre Hintergrund war sicher auch ein Moment, warum man ihn damals noch akzeptierte. (Das hat dann drei Jahre gedauert.) Ich hatte schon in Bonn in meinen ersten vier Semestern Philosophie bei ihm gehört; wir hatten auch persönlich Kontakt, und er fragte mich dann, ob ich nicht später bei ihm promovieren wolle. So bin ich dann mit ihm hierher gekommen und begann gleich mit der Arbeit an meiner Dissertation.

Hier traf ich eine Gruppe, die sich aus ehemaligen Quickbornern und ehemaligen Mitgliedern des Bundes ,,Neudeutschlands“ zusammensetzte. Der Wortführer dieser Gruppe war Fritz Leist. Im WS 1936/37 haben wir uns kennengelernt. Wir saßen im Bibliotheksraum des philosophischen Seminars I, ich hinter einem Packen von Thomas-Bänden, er hinter einem Packen von Thomas-Bänden, die wir austauschten. Auf diese Weise lernten wir uns kennen.

Widerspruch: War die Möglichkeit, in solch einen schon bestehenden Kreis zu kommen, damals so einfach?

Krings: Das war kein Problem, da gab‘s eine gemeinsame Sprache, das war innerhalb von zehn Minuten klar. Wir kriegten dann hier auch noch Kontakt mit einer Gruppe aus der Kaulbachstraße, aus einer der aufgelösten Gruppen des Bundes „Neudeutschland“. Die Gruppe um Leist rekrutierte sich im großen und ganzen aus dem Saarland und München. Fritz Leist war vorher in Freiburg gewesen, und dieses Dreieck Saarland-Freiburg-München bildete den Rahmen. Innerhalb der Leute aus dem Saarland war auch Willi Graf. Kennengelernt habe ich ihn bei einem Treffen um die Jahreswende 1936/7 auf einer Burg im Odenwald, sie war eine Art Jugendburg; das ging damals noch. (Übrigens der spiritus rector war damals Aloys Goergen.)

Widerspruch: Gab es damals nicht auch die Gruppe „Hochland“?

Krings: Ja, aber das ist ein ganz anderer Zweig. Von Rintelen war gut bekannt mit Franz Joseph Schöningh, dem damaligen Herausgeber von „Hochland“, und der Hochlandkreis traf sich an zwei oder drei Mittagen um 2 Uhr in einem Café am Odeonsplatz. Dahin kamen auch Theodor Haecker, Joseph Bernhart und einige andere Literaten.

Widerspruch: Wie stark wirkte der Hochlandkreis denn auf die Ideenbildung an der Universität?

Krings: Praktisch nicht. „Hochland“ wirkte in die katholischen Akademikerkreise hinein, aber für die Universität ist er kein Faktor gewesen.

Widerspruch: Können Sie über die damalige Situation an der Universität etwas sagen? Sie hatten einmal angedeutet, dass sie für die jüngere Generation nicht mehr recht nachvollziehbar sei.

Krings: Die Universität ist erst durch den NS-Studentenbund politisiert worden. Das hatte ich schon 1935 in Bonn erlebt, wo, wenn sich mal irgendwo ein Protest meldete, der betreffende Student gleich rausgeschmissen wurde. Das waren Massenveranstaltungen; in der Universität selbst war für politische Diskussionen kein Raum. In München bestand noch, und zwar durchaus aktiv, eine Gruppe des Älteren-Bundes ,,Neudeutschland“.

Widerspruch: Hat sich das Lehrangebot an der Universität geändert?

Krings: Praktisch nicht. Von Rintelen hat einmal eine Mittelalter-Vorlesung unter dem Titel ,,Albert der Deutsche“ angekündigt, anstatt ,,Albert der Große“; aber er hat dort mittelalterliche Philosophie vorgetragen. Aloys Wenzl ist ja schon 1936, soviel ich weiß, von der Uni geflogen, wurde dann wieder Studienrat, war dann zuerst in Schwabing am Gymnasium, wurde dann aber auch aus München verwiesen und war dann Lehrer in Ingolstadt. Insofem erscheint sein Name natürlich nicht mehr in den Vorlesungsverzeichnissen.

Widerspruch: Haben Sie noch in Erinnerung, wie von Rintelen ,,beurlaubt“ wurde? Wie hat er das aufgenommen?

Krings: Das wird ein Roman, wenn ich Ihnen das erzähle. Also: von Rintelen hatte gute Beziehungen nach Berlin, und zwar weniger über seine Familie als über eine KV-Verbindung. Da waren ein paar gute Leute in Berlin in höheren Stellungen im Kultusministerium, im Wirtschaftsministerium und so. Er setzte dann seine Verbindungen in Bewegung, um eine Wiederbesetzung seines Lehrstuhls zu verhindern. Es bestanden hier Bestrebungen, aus dem Konkordatslehrstuhl einen Lehrstuhl für nationalsozialistische Weltanschauung zu machen. Ich bin zweimal mit ihm nach Berlin gefahren. Er hat den Gegensatz Preußen – Bayern ausgespielt und den Preußen gesagt, die Bayern wollen da jetzt etwas eigenes machen. Und er hat es tatsächlich fertiggebracht, dass der Lehrstuhl nicht wieder besetzt wurde.

Widerspruch: Eine Frage zur Bibliothek im Institut. Welche Literatur wurde damals angeschafft?

Krings: Da der Lehrstuhl vakant war, mussten die Rechnungen vom Dekan unterschrieben werden. Das war damals der Altphilologe Dirlmeier. Es ist möglich, dass er der Partei angehörte; aber er war ein fabelhafter Mann, der alles gedeckt hat. Darauf war völliger Verlass, auch auf die Sekretärin; das ging prima.

Widerspruch: Gab es keine „Reinigung“ der Bibliothek?

Krings: Nein. Baeumler wurde angeschafft, Rosenberg wurde nicht angeschafft. Die Naziliteratur wurde bei uns nicht angeschafft.

Widerspruch: Trotz Hans Grunsky?

Krings: Das war das andere Seminar und der andere Lehrstuhl; wir waren Konkordatslehrstuhl. Wir haben praktisch nur mittelalterliche Literatur angeschafft. Ich weiß, dass damals die Leibniz-Ausgabe anlief; solche Sachen kosteten schon den halben Etat. Da war überhaupt kein Raum für Nazizeug.

Widerspruch: Haben Sie Grunsky gehört?

Krings: Ja, bei ihm habe ich mehrere Lehrveranstaltungen mitgemacht. Er hat mich auch im Rigorosum geprüft. Grunsky war nicht habilitiert; ob er promoviert war, galt nicht als sicher. Mit der Philosophie hatte er seine Probleme. Übrigens war er behindert, wurde im Rollstuhl gefahren, auch ins Seminar und in sein Zimmer. Er hatte sich zunächst auf Jakob Böhme geworfen und hat dann eine abenteuerliche Vorlesung über Platon gehalten, der im Sinne des Nazi-Führertums interpretiert wurde: der Archont war der Führer, und die Phylakes waren die SS und die SA; dann kam noch der Reichsnährstand. Das trug er in der Vorlesung vor, und so wurde aus Platon der große Philosoph des ,.Dritten Reichs“.

Widerspruch: War das für sie damals schon abenteuerlich?

Krings: Ja, sicher.

Widerspruch; Gab es nicht Äußerungen, dass das nichts mit Platon zu tun hat – wenigstens nach der Vorlesung?

Krings: Ja, unter uns haben wir darüber gesprochen. Ich hatte das große Glück, dass Grunsky, als ich ins Rigorosum kam, gerade dabei war, sich Kant anzueignen. Ich habe Kant dann auch vorgeschlagen und brachte sehr schnell die Rede auf die transzendentale Deduktion. Er ließ mir 20 Minuten Zeit, und ich habe ihm dann die transzendentale Deduktion erläutert. Er hat sich das angehört und mir dann, glaube ich, auch ein ,,sehr gut“ gegeben.

Widerspruch: Es bestand doch ein sehr starkes Interesse, die deutsche Tradition der Philosophie aufzuarbeiten und darzustellen. Haben Sie etwas davon mitbekommen, dass an der Universität mehr und mehr die nicht-deutschen Traditionen, z B. die französische, ausgeblendet wurden, und die deutsche von Meister Eckhardt über Böhme bis zum deutschen Idealismus betont wurde?

Krings: Ja, bei Grunsky war das ganz deutlich, bei den anderen nicht. Kurt Schilling hat eine Vorsokratiker-Vorlesung gehalten, die ganz normal war wie auch die über den deutschen Idealismus. Ich weiß nicht, ob Schilling Parteigenosse war, Es könnte gewesen sein, aber er galt bei uns nicht als Nazi.

Widerspruch: Gab es eigentlich irgendwelche Formen der Auseinandersetzung?

Krings: Nein, die gab’s nicht, sondern es gab eine große Technik der Tarnung.

Widerspruch: Gerade das kann man sich heute nur schlecht vorstellen.

Krings: Ja, aber in dem Moment, wo Sie in irgendeiner Form in eine Auseinandersetzung traten, konnte es sein, dass sie am nächsten Tag schon im KZ waren. – Nun war schon Krieg. Während des Krieges hörten wir ausländische Sender. Es war bekannt, dass Leute wegen Abhörens denunziert worden waren, selbst von Nachbarn, wenn es während der Sendezeiten in den Wohnungen still geworden war. Bei von Rintelen hatten wir einen ganz guten Apparat. Da waren wir zu dritt oder viert, und zwei wurden dann abgeordnet, Krach zu machen, zu streiten, laut zu reden; die anderen saßen unter einer Decke am Apparat und hörten die Nachrichten.

Widerspruch: War das, was die Nazis, was Grunsky oder vielleicht auch Schilling an die Universität bringen wollten, für Sie überhaupt diskussionswürdig?

Krings: Was Grunsky sagte, nicht. Das war nicht diskussionswürdig, das galt bei uns als weltanschaulich nationalsozialistisch. In den Vorlesungen anderer Dozenten kam das Weltanschauliche inhaltlich nicht zur Geltung.

Widerspruch: Hatten Sie Kontakt zu Prof. Kurt Huber?

Krings: Ja. Der Umgang mit ihm war nicht ungefährlich, weil Huber sehr temperamentvoll war. Nach der Vorlesung kam er häufiger ins Seminar, und da gingen dann auch die Diskussionen los, die zum Teil sehr heftig waren. Wir stimmten natürlich mit ihm überein, aber er war dann oft laut. Es gab ja nur eine Tür zum Seminarraum, und wir wussten nie so genau, wer da saß. Es war immer etwas schwierig, ihn auf die Lautstärke herunterzubringen, die nicht gefährlich war. Zum Teil war es auch sehr schwierig, weil er nach unserer Meinung sehr phantastische, irreale Vorstellungen hatte.

Widerspruch: Deutschnationale, idealistische?

Krings: Nein, sondern in Hinblick auf die Möglichkeiten, eine politische Wende herbeizuführen.

Widerspruch: Eine daran anschließende Frage: Heute wird oft gesagt, die Kirchen hätten sich deutlicher angesichts der Judenverfolgungen und anderer Verbrechen zu Wort melden müssen. Hatten Sie damals auch die Vorstellung, dass die noch bestehenden Organisationen Widerstand hätten leisten müssen?

Krings: Organisationen bestanden damals ja nicht mehr. Ich bin einmal beim Katholikentag 1982 gefragt worden – es ging um eine Sache 1940/41 –, warum die Kirchen und die SPD sich denn nicht zusammengetan hätten. Da habe ich gesagt, weil die SPD seit acht Jahren nicht mehr bestand. Ja, aber solche Vorstellungen bestehen heute. Es gab keine Organisation; es gab im Untergrund Kontakte mit Gleichgesinnten. Auch in anderen Schichten bestanden solche Kontakte, in der Arbeiterschaft, auch beim Militär.

Was die Kirche angeht, so kann man zweierlei sagen: erstens, einen lautstarken Protest hätten wir für wenig wirksam gehalten, abgesehen davon, dass solche Proteste sich immer nur auf Gerüchte stützen konnten, außer bei den Euthanasiemaßnahmen. Wichtiger war aber zweitens, dass durch die Hierarchie Kleriker, aber auch Laien zurückgehalten wurden, oder dass es gar als moraltheologisch bedenklich angesehen wurde, Widerstand zu leisten. Das hat uns mehr irritiert, als dass da keine großen Geschichten passierten. Von Aktionen der Kirchen hätten wir uns nichts versprochen. Es wären dann fünfhundert Leute mehr ins KZ gekommen, und die Sache wäre erledigt gewesen. Das ist ja alles für die Nazis kein Problem gewesen. Die Taktik der Kirche war wohl, die Zahl der Opfer in Grenzen zu halten.

Wann man gegen die Judenvernichtung wirklich etwas hätte sagen und machen können oder sollen, ist außerordentlich schwer zu sagen. Ich gehörte zu denen, die, soweit es möglich war, Informationen suchten. Aber die ersten Informationen über Erschießungen von Juden habe ich erst durch Willi Graf erhalten, nachdem er aus Russland zurückgekehrt war. Aber auch er hat nur andeutungsweise davon gesprochen.

Widerspruch: Gab es in den Kreisen, zu denen Sie Zugang hatten, nicht auch Diskussionen über die moralische oder theoretische Begründung von Widerstand?

Krings: Ja, doch muss die Frage wohl für verschiedene Kreise verschieden beantwortet werden. Innerhalb des kleinen Umkreises bei mir in der Siegfriedstraße – das war meine Bude –, war die Diskussion religiös bestimmt. Wir hatten regelmäßige Abende, an denen wir Schriftlesungen machten, das Alte Testament vor allem. Wir haben uns aber auch intensiv mit Literatur beschäftigt; das ist ja auch von Willi Graf und den Geschwister Scholl bekannt. Diese Beschäftigung war auch durch Guardini angeregt worden; sein Hölderlin-Buch war eine wichtige Sache für uns. Dann spielten auch die Sonette von Reinhold Schneider eine Rolle. Sie wurden vervielfältigt herumgereicht, da sie ja damals im Druck nicht erscheinen durften. Jeder hatte sie; es war erstaunlich. Wir haben viele gemeinsame – heute würde man sagen – interne Seminare gemacht.

Widerspruch: Da gab es doch sicher Auslegungs- und Interpretationsfragen …

Krings: Nein, die Texte wurden nicht aktualisiert ( – wie heute allenthalben). Sie waren ein Bollwerk gegen den aktuellen Ungeist. Der Nationalsozialismus war kein Partner für eine geistige Auseinandersetzung.

Widerspruch: Wie kam es eigentlich dazu, dass man dem Nationalsozialismus so freie Hand ließ?

Krings: Dass es keine geistige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gab, hat mehrere Gründe. Zunächst: Es lag uns fern, den Nationalsozialismus auf eine ähnliche Basis zu stellen wie den Sozialismus, obwohl er ja viele sozialistische Züge gehabt hat. Aber man konnte ihn nicht auf die geistigen Grundlagen der sozialistischen Bewegung Anfang des Jahrhunderts zurückführen. – Ferner: Die ganze politische Schubkraft kam aus der negativen Entwicklung der Republik in den zwanziger Jahren. Der Versailler Friedensvertrag galt als das nationale Ärgernis, und die Weimarer Republik war eine Folge dieses Vertrages etc. In den dreißiger Jahren kamen zu den negativen nationalen Emotionen durch die Weltwirtschaftskrise und die riesige Arbeitslosigkeit die wirtschaftliche Not hinzu. Die Auseinandersetzungen fanden zunächst in den Straßenkämpfen zwischen SA und Rotfront statt. Später gingen sie im Massenrausch der Aufmärsche und in der Massenfaszination unter, die von den Reden ausgingen, die unsereiner ohnehin nur mit Qualen anhörte. – Rosenberg spielte in der politischen Bewegung nur eine Randrolle.

Widerspruch: Auch in München?

Krings: Ich habe keine Erinnerung an eine öffentliche Veranstaltung hier mit Rosenberg.

Widerspruch: Es ist ja doch erstaunlich, wie viele Philosophen im Dritten Reich sich den Nazis anschlossen. Wie konnte man dem entgehen? Von Rintelen etwa hat es ja geschafft.

Krings: von Rintelen war von einem nahezu krankhaften Hass auf die Nazis beseelt. Dieser Hass konnte auch gefährlich werden.

Widerspruch: Hat von Rintelen – ebenso wie Sie – damals den Versuch gemacht, den Nationalsozialismus als ,,Herrschaft des Bösen“ zu begreifen?

Krings: Ich kann mich nicht erinnern, dass ich damals die Kategorie des Bösen gebraucht hätte. Das ist ein Interpretationsbegriff, den ich heute im Rückblick auf damals gebraucht habe.

Widerspruch: … aber die Geschwister Scholl hatten in ihren Flugblättern die Nazi-Diktatur mit der ,,Herrschaft des Bösen“ verglichen.

Krings: Ja, das ist schon ein Stück weiter; und es beruhte, wenn ich das recht sehe, auf ihren Erfahrungen im Sommer 1942 in Russland. Ich war nicht in Russland.

Widerspruch: Also gründete ihr Widerstand mehr auf der direkten Erfahrung als auf theoretischer Reflexion …

Krings: Dafür fehlten damals auch Informationen. Man war sich über das Ausmaß von Verbrechertum nicht im Klaren, – das wusste man nicht.

Widerspruch: Und als es bekannt wurde, war die Hauptaufgabe nicht die philosophische Bewältigung.

Krings: Da ging alles schon dem katastrophalen Ende zu: Bombenangriffe, tausendfacher Tod, Hunger … Das Ausmaß der Verbrechen kam erst 1944 heraus, nach dem 20. Juli. Aber dann wusste man auch schon, dass das Ganze in absehbarer Zeit zu Ende sein würde. Und das war das einzige, was einen dann noch beschäftigte.

Widerspruch; Das heißt also, die Frage nach der moralischen oder religiösen Legitimation des Widerstandes wurde nicht gestellt?

Krings: Die Legitimationsfrage spielte in dem Umkreis, in dem ich war, keine Rolle. – Aber abgesehen davon waren wir – hier meine ich wieder den Kreis um Fritz Leist, Emst Müller u. a. – der Meinung, dass jede Aktion sinnlos ist. Ich habe zusammen mit Fritz Leist im Januar 1943 noch ein abendliches Gespräch mit Willi Graf gehabt. Wohlgemerkt: die Flugblätter waren schon da; wir hatten sie auch und wir wussten, woher sie kamen, obwohl es uns niemand gesagt hatte. Auch Willi Graf hatte es uns nicht gesagt, aber er wusste, dass wir es wussten, und wir wussten, dass er es wusste … Dieses Gespräch ist in Schweigen übergegangen, weil er zu der Aktion schon entschlossen war, ja schon mitten in ihr stand. Er hatte ja die bekannte Flugblatt-Reise schon hinter sich, was wir nicht wussten. Wir haben ihm dringend geraten, von diesen Dingen Abstand zu nehmen. Ein Argument war auch, dass wir das Gefühl hatten, dass die Scholls zu wenig Erfahrung mit der Gestapo gehabt hatten. Fritz Leist und auch Willi Graf waren schon 1936 verhaftet gewesen. Es hat einen Prozess in Mannheim gegeben; einige sind verurteilt worden. Durch die Amnestie anlässlich der Besetzung Österreichs kamen sie wieder frei.

Widerspruch: Haben Sie etwas von dem Scholl-Prozess erfahren? Er lief ja innerhalb einer Woche ab.

Krings: Nein. Ich habe nur indirekt etwas mitbekommen, da ich um diese Zeit aus dem Lazarett entlassen wurde und nur sporadisch Kontakt hatte.

Widerspruch: Nach 1945 waren Sie wieder in München. Eine ganze Reihe von Leuten, die an der Universität gelehrt hatten, wie etwa Hans Grunsky, waren wieder da. Empfanden Sie das als selbstverständlich?

Krings: Grunsky war 1946 meines Wissens nicht an der Universität. Einen ausgesprochen ärgerlichen Fall habe ich nicht erlebt. Nun habe ich nur einen relativ kleinen Sektor gesehen. Ich glaube, die auffälligen und gefährlichen Nazis waren weg – also z. B. ein Typ wie Spindler, der Anglist, und auch Wüst, der Nordist. Sie waren nicht mehr da.

Widcrspruch: Fanden Sie Grunsky gefährlich?

Krings: Ja, insofern er ein rückhaltloser Parteigänger gewesen ist. Aber ich glaube nicht, dass er sich die Denunziation zu einer Aufgabe gemacht hat. Das war wohl auch bei seiner körperlichen Verfassung sehr schwierig; er war darauf angewiesen, dass ihm etwas zugetragen wurde. Ich kenne keinen Fall einer Denunziation durch Grunsky.

Widerspruch: Auch von Rintelen hatte Schwierigkeiten, nach München zurückzukehren …

Krings: … das ist ein sehr trauriges Kapitel. Ich habe von Rintelen ja gut gekannt, und er ist wirklich alles andere als ein Nazi gewesen. Aber er hat damals, als er beurlaubt wurde, an das Kultusministerium Verteidigungsschreiben gerichtet und darin auch behauptet, man könne ihm gar nichts vorwerfen, er habe nie etwas gegen den Nationalsozialismus gesagt. Diese Akten wurden dann später herausgeholt. Ich habe noch, ebenso wie auch Fritz Leist, eine eidesstattliche Erklärung für ihn abgegeben. Aber dann kamen unglückliche Umstände dazu, so dass aus seiner Rückkehr nach München nichts wurde. Er war inzwischen Professor der Philosophie an der Universität Mainz geworden.

Widerspruch: Ein Rätsel sind Leute wie Nicolai Hartmann, der bis zum Schluss auf seinem Lehrstuhl in Berlin geblieben war, obwohl aus seinen Schriften nicht erkennbar ist, dass er sich angepasst hätte. Wissen Sie, wie Hartmann das gemacht hat, oder was die Nazis sich davon versprochen hatten, ihn auf dem Lehrstuhl zu belassen?

Krings: Was ich hier geschildert habe, hat sich alles im Umkreis eines Konkordatslehrstuhls abgespielt. An den anderen Lehrstühlen wurde, wenn auch unter starken kriegsbedingten Einschränkungen, weiter gearbeitet, so lange keine antinazistischen Aktivitäten beobachtet wurden. Wenn Kurt Huber nicht in die Aufdeckung des Widerstandes der „Weißen Rose“ hineingekommen wäre, hätte auch er bis zum Ende des Krieges gelesen. Seine Leibniz-Vorlesungen waren qualitative, gute philosophische Vorlesungen ohne irgendeine politische Tendenz, und die hätte er auch noch zwei oder drei Jahre weiter machen können. Für das Militär kam er ohnehin nicht in Betracht. Und so hat es viele gegeben, die einfach dageblieben sind, weil sie nicht aufgefallen sind. Die Berliner Situation habe ich nicht gekannt. Aber Nicolai Hartmann ist sogleich nach dem Krieg Ordinarius in Göttingen geworden; also kann er sich nicht den Nazis angepasst haben.

Widerspruch: Aber was haben sich die Nazis davon versprochen, dass sie ihn oder auch Prof. Huber haben weiterlehren lassen? Sie haben doch auch andere Bereiche der Gesellschaft rigoros auf ihre Linie gebracht.

Krings: Das liegt genau an dem Defizit, warum auch keine Auseinandersetzung mit den Nazis möglich war. Sie hielten diese Art von Philosophie für absolut belanglos und für politisch völlig uninteressant. Wenn die Professoren da von ihrer Metaphysik und Ontologie redeten, so galt das gar nichts. Es musste erst in irgendeiner Form ein anderer, politischer oder weltanschaulicher Faktor da sein, wenn es zu einem Vorgehen kam.

Widerspruch: Heißt das, dass das ursprüngliche Interesse der Nationalsozialisten, die Universitäten in den Griff zu bekommen, scheiterte?

Krings: Ja, aber nicht, weil die Universitäten einen nennenswerten Widerstand geleistet hätten, sondern weil die Universität überhaupt kein Instrument des Nationalsozialismus gewesen ist und auch nicht sein konnte. Nochmals: Der Nationalsozialismus war anders als der Sozialismus. In den sozialistischen Staaten sind die Universitäten und Akademien ein wichtiger Faktor. Für den Nationalsozialismus spielten sie keine Rolle. Sie mussten natürlich ,,gleichgeschaltet“ werden; es kamen nur Leute in Führungspositionen, die Nationalsozialisten waren, und da, wo Weltanschauung hineinspielte, wurde versucht, die nationalsozialistische Weltanschauung zur Geltung zu bringen. Aber auch die Verweisung von Rintelens von der Münchner Universität geschah im Grunde nicht wegen seiner Philosophie, sondern weil er einen Konkordats-Lehrstuhl innehatte.

Widerspruch: Wenn Sie damals eine Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Ideologie nicht für sinnvoll gehalten haben, würden Sie das heute ebenfalls sagen?

Krings: Für eine philosophische Auseinandersetzung sehe ich nach wie vor keinen Ansatzpunkt. Ich wüsste nicht, auf welche Texte ich mich beziehen sollte. Nennen Sie mir irgendwelche halbwegs ernstzunehmende Texte, die diese absurden Positionen zu begründen versuchen. Das Ganze ist ein historisches Phänomen, mit dem man sich sicher auseinandersetzen muss, auch im Hinblick auf seine politischen, sozialen, auch sozialpsychologischen Gründe. Handelte es sich vielleicht um die Folge einer nicht stattgefundenen Revolution, um den Rückschlag einer Revolutionsbewegung in einer völligen Verquerung? Auch die Hypertrophie des nationalstaatlichen Denkens ist inzwischen ein historisches Phänomen, – wenigstens für Europa.

Widerspruch: Sind Sie also dagegen, philosophiegeschichtliche Traditionslinien in den Nationalsozialismus hineinzuziehen, nach dem Motto: ,,von Hegel bis Hitler“?

Krings: Gewiss gibt es ,,Linien“; das zeigt schon der Name ,,Drittes Reich“. Aber man kann den Nationalsozialismus weder auf Hegel noch auf Nietzsche zurückführen, noch gar einen Kausalzusammenhang herstellen. Der Nationalsozialismus war eine politische Emotion, nicht eine politische Philosophie. – Eine andere Sache ist, dass auch bedeutende Zeitgenossen für diese Emotionen anfällig gewesen sind. Heidegger ist ein Fall und in der Dichtung etwa Gottfried Benn. Doch mit philosophischer Tradition hat das nicht viel zu tun.

Widerspruch: Sind Sie also der Auffassung, die Philosophie habe als geistige Institution die Zeit des Nationalsozialismus passiert, ohne inhaltlich tangiert worden zu sein, – als ,,Philosophia perennis“, die geblieben ist, was sie war?

Krings: Ja, das würde ich schon meinen. Die philosophischen Traditionen, die kantische, nachkantische und neukantianische wie auch die der klassischen Philosophie, sind vom Nationalsozialismus wenig tangiert worden. Der Einbruch in die philosophische Tradition in Deutschland ist nicht von den Nazis gekommen, sondern aus dem angelsächsischen Bereich.

Widerspruch: Nun, wenn man mit geschärftem Auge hinsieht, merkt man doch eine Menge Anpassung und Assimilation.

Krings: Gewiss, da hat sich eine bestimmte Art von Vortrag der Philosophie an den Nationalsozialismus angepasst. Aber es ist nicht so, dass der Nationalsozialismus eine Philosophie im Sinne der europäischen Tradition hervorgebracht oder ihm eine Philosophie zugrunde gelegen hätte.

Widerspruch: Herr Prof. Krings, wir danken für dieses Gespräch.

Für den Widerspruch nahmen an dem Gespräch teil: Wolfhart Henckmann, Alexander von Pechmann und Elmar Treptow.

Ernesto Grassi – Reisen ohne anzukommen

ein Gespräch

Ernesto Grassi (1902-1991) studierte Philosophie an der Universität Mailand, wo er 1925 promovierte. 1928 ging er zu Heidegger nach Freiburg, wo er bis 1938 als Lektor für Italienisch und Lehrbeauftragter für Philosophie lehrte. 1938 ging er nach Berlin und gründete dort 1942 das Institut studia humanitatis. Nach dem Weltkrieg war er 1947 für das Erscheinen von Heideggers Humanismusbrief verantwortlich und gründete 1948 in München das Centro italiano di studi umanistici e filosofici. Ab 1965 leitete er bis zu seiner Emeritierung 1973 das Seminar für Philosophie und Geistesgeschichte des Humanismus an der LMU. – Ab 1955 war Grassi bis 1980 Herausgeber der einflussreichen Taschenbuchreihe Rowohlts deutsche Enzyklopädie.

Widerspruch: Herr Grassi, Sie sind Italiener. Ist es richtig, dass Sie schon vor 1933 nach Deutschland gekommen sind?

Grassi: Ja, es war 1928. Vorher war ich allerdings in Frankreich. Kurz nachdem ich meinen Doktor gemacht habe, bin ich zu Maurice Blondel gegangen, der damals durch sein Buch „L’action“ in Italien berühmt geworden war.

Widerspruch: Ihr Studium haben Sie also noch in Italien beendet?

Grassi: Ja. Nach dem Gymnasium war ich 1924 einer der drei einzigen Studenten der katholischen Universität in Mailand, die im selben Jahr von Pater Gemelli gegründet worden war. Gemelli war eine höchst zweifelhafte Figur: ein Franziskaner, der erst Sozialist war, sich dann bekehrte und die katholische Universität gegründet hat. Mein Vater hatte in Pavia Medizin studiert, und mit ihm zur gleichen Zeit Gemelli; damals war er noch sozialistischer Revolutionär. Als mein Vater erfuhr, dass ich mit ihm in Beziehung stand, warnte er mich: „Hüte Dich vor dem, der ist ein großer Gauner. Der hat bei Golgi, dem großen Gehirnpathologen, den Spiritus für die anatomischen Präparate geklaut und verkauft, um an Geld zu kommen.“ Gemelli war ein unglaubliches organisatorisches Talent.

Widerspruch: Bei wem haben Sie hauptsächlich studiert? Welche philosophische Richtung?

Grassi: Mit Gemelli habe ich schnell Krach bekommen. Von der katholischen Universität bin ich dann auf die öffentliche in Mailand gewechselt. Dort hatte ich einen großartigen Lehrer, namens Martinetti. Martinetti war ein merkwürdiger Mensch. Er war katholisch und ein entschiedener Gegner von Croce und Gentile, den damaligen Vertretern des deutschen Idealismus. Er war sonst sehr sanft, aber wenn drei Namen fielen, Gentile, Croce und Gemelli, dann wurde er rot; also wirklich wie ein Huhn. Er unterbrach dann einfach seine Vorlesungen, die er über Kant gehalten hatte. Leider war er so vertieft in seine Philosophie, dass er sich um uns Studenten wenig kümmerte, auch nicht um meine Doktorarbeit. Er las immer schon um 7 Uhr morgens, weil er nur wenig Studenten haben wollte.

Widerspruch: Mussolini und der italienische Faschismus sind ja schon 1923 an die Macht gekommen. Welche Einflüsse hatte der Faschismus auf die italienische Universität?

Grassi: Alle Professoren mussten einen Treueeid auf den Faschismus schwören. Martinelli war einer der vier einzigen Professoren, die sich geweigert haben, zu schwören. Überhaupt wollte er mit der Institution der Universität nichts zu tun haben. Er ging immer mit einer kleinen Mappe herum. Und als ich ihn eines Tages danach fragte, machte er sie auf, und da waren Krawatten darin. „Was soll das?“ fragte ich. Und er sagte: „Ich werde nie zugeben, dass ich ein Universitätsprofessor bin. Wenn ich gefragt werde, dann sage ich, ich bin Krawattenverkäufer.“

Widerspruch: Sie kommen also aus einer katholischen Tradition?

Grassi: Ja, aber ich wandte mich bald von der katholischen Tradition ab und studierte den italienischen Idealismus, d.h. vor allem Gentile und Croce. Der Idealismus war in Italien eine Philosophie, die mit dem Katholizismus nichts zu tun hatte.

Widerspruch: Nach dem Abschluss Ihres Studiums gingen Sie nach Frankreich zu Maurice Blondel?

Grassi: Blondel war ein großartiger, rührender Mann, aber wieder so katholisch. Er las nicht mehr, weil er schon fast blind war, und so ging ich privat zu ihm für ein paar Stunden, um ihn wenigstens zu hören. Nach drei Monaten ging das nicht mehr. Später kam einmal jemand nach einem Vortrag zu mir und sagte, er habe einen Brief von Blondel, in dem er schreibt, ich sei zu einem gewissen Heidegger nach Deutschland gegangen, der wohl so eine Art Gentile sei.

Widerspruch: Von Frankreich aus sind Sie nach Deutschland gekommen?

Grassi: Zuerst bin ich zurück nach Italien und habe eine Zeit am Gymnasium unterrichtet. Nach Deutschland bin ich 1928 gekommen. Ich war damals 26 Jahre alt. Anfangs habe ich unter anderen Max Scheler gehört, aber gemerkt, dass mir das nicht zusagte. Ich war nur ein einziges Mal in Marburg bei Heidegger im Seminar gewesen – „Sein und Zeit“ war gerade erschienen –, aber ich habe gemerkt, dass für mich seine Philosophie die entscheidende Herausforderung war. Heidegger sagte zu mir jedoch, es habe gar keinen Sinn, jetzt in Marburg zu bleiben, ich solle doch gleich nach Freiburg kommen, was ich dann tat.

Widerspruch: Wie war Ihr Verhältnis zu Heidegger?

Grassi: Heidegger war ein unglaublicher Pädagoge, erbarmungslos gegen uns Schüler. Wir interpretierten bei ihm damals das IV. Buch der ‚Metaphysik‘; und er forderte immer: „Ja, lest doch, was im Buch steht, und fangt nicht an, selbst zu philosophieren.“ Also, ich habe mir gesagt, nur mit ihm. Von 1929 bis 1931 habe ich an seinen Seminaren teilgenommen. Bei den Vorlesungen war auch der Spanier Ortega y Gasset und sein Schüler Zubiri. Der war ein sehr schöner Mann, und alle Mädchen haben sofort auf ihn reagiert; und er war Jesuit, was aber niemand wusste. Ich fragte einmal Heidegger, ob er Zubiri kenne. Ja, meinte er. ,,Wissen Sie, was er ist?“ „Nein, wieso?“ Ich sagte: „Er ist Jesuit.“ „Herrgott“, rief er, ,und ich glaubte immer, doch eine Nase für Jesuiten zu haben. Das hätte ich nie vermutet!“ Jesuitisch jedenfalls war Heidegger, der ja ursprünglich auch vom Katholizismus herkommt, keineswegs. – Zudem war Heidegger keineswegs altprofessoral, wie etwa noch Husserl, dessen letzte Vorlesung über Descartes ich noch gehört habe. Heidegger war gegenüber den Studenten gar nicht hochnäsig, sondern immer neugierig. Aber er war unglaublich sensibel gegenüber öffentlicher Kritik. Damals war kurz zuvor sein Buch über Kant erschienen, und er war nach Frankfurt zu einem Vortrag eingeladen worden. Die „Frankfurter Zeitung“ veröffentlichte eine scharfe Kritik, die ein dortiger Professor geschrieben hatte. Ich fragte ihn, wie es in Frankfurt war. „Ich werde dort niemals mehr lesen.“ „Warum?“ „Diese Kritik, bitte lesen Sie!“

Widerspruch: Wie haben Sie Heideggers Engagement für den Nationalsozialismus damals aufgenommen? Führte dieses Engagement zum Bruch zwischen Ihnen?

Grassi: Ich war in Freiburg zuerst italienischer Lektor, habe dann einen Lehrauftrag erhalten und wurde Honorarprofessor. Damals hatte ich mich mit einem Juden angefreundet, von dem Heidegger mir sagte, dass er der einzige sei, der wirklich etwas von ihm verstehe; die anderen seien noch zu sehr Schüler. Das war Werner Szilasi, ein Schüler Husserls. Eines Tages hat Heidegger wegen des Problems des Judentums im Nationalsozialismus mit Szilasi gebrochen. Wir Italiener hätten in dieser Situation im Faschismus wenigstens gesagt: „Verzeih mir, ich bin dazu verpflichtet; aber wir bleiben Freunde.“ Das war bei Heidegger gar nicht. Ich bin nicht mehr in seine Vorlesungen gegangen.

Widerspruch: Gab es für Sie nicht auch philosophische Gründe, sich von Heidegger zu trennen?

Grassi: Selbstverständlich, das war Heideggers Anti-Humanismus. Er lehnte die philosophische Bedeutung des Humanismus ab. Nicht nur in „Sein und Zeit“, sondern auch in seinem „Brief über den Humanismus“, wo er den Humanismus einfach mit dem römischen homo humanus gleichsetzte. Seiner Auffassung nach umfasst die humanistische Konzeption nicht das Problem des Seins, sondern reduziert sich nur auf eine Anthropologie.

Widerspruch: Aber Ihre Habilitationsschrift über die Platonische Metaphysik haben Sie trotzdem Heidegger gewidmet?

Grassi: Ich muss sagen, dass ich das Verständnis der Antike Heidegger verdanke. Die Italiener waren solche Hegelianer, dass sie sagten: „die Antike, schön; aber heute haben wir nichts mehr damit zu tun“. Hier hat Heidegger einen Zugang zur Antike eröffnet. Meine Habilitation, eine Neuinterpretation des „Menon“, war ein erstes Echo darauf, und ich habe diese Arbeit Heidegger gewidmet. Croce hat damals gewollt, dass das Buch bei ihm erscheint. Er wusste damals nichts von Heidegger, sonst hätte er das Angebot niemals gemacht.

Widerspruch: Haben Sie Heidegger nach 1945 noch einmal getroffen?

Grassi: Ich habe ihn gleich drei Wochen nach Kriegsende in seiner Hütte bei Todtnauberg besucht, wo er mir das Manuskript zur Veröffentlichung seines „Briefs über den Humanismus“ gegeben hat. Also, diese Beziehung war noch da.

Widerspruch: Überrascht Sie die öffentliche Diskussion heute über Heideggers Rolle im Nationalsozialismus?

Grassi: Nein, Heidegger war vielleicht der einzige wirkliche Nationalsozialist; darüber zu diskutieren ist sinnlos. Die eigentliche Frage – die heute so journalistisch abgehandelt wird – ist, warum dieser Mann von seinem spekulativen Standpunkt den Nationalsozialismus für richtig hielt. Es ist ein wissenschaftliches Problem, es hängt aber eben auch mit seinem Charakter zusammen. Ich erinnere mich, dass er einmal – er war schon Rektor gewesen und hatte sich zurückgezogen – sehr schlechter Laune war. Ich dachte, weil man ihn abgesetzt hatte. Es war aber, weil die Nazis ihn aus dem Komitee zur Herausgabe des Nietzsche-Werks entlassen hatten. Ich gratulierte ihm und meinte, dass es auch so gute Leute wie Walter Friedrich Otto und Karl Reinhardt getroffen hatte. Seine Antwort war buchstäblich: „Die Sache ist keineswegs so einfach. Heute morgen habe ich mich gegenüber der Nachwelt gerächt. Ich habe Aufzeichnungen verbrannt.“

Widerspruch: Nach Ihrer Habilitation, ab 1933, waren Sie in Berlin.

Grassi: Ja, ich habe dort als Honorarprofessor an der Universität Vorlesungen gehalten. Hauptsächlich aber arbeitete ich an der Gründung des italienischen Instituts „Studia humanitatis“ unter der Schirmherrschaft der „Italienischen Akademie“, da ich während der Nazi-Zeit den günstigen Moment sah, unsere humanistische Tradition gegen die Verbreitung des Nationalsozialismus einbringen zu können. Mit Guardini, auch Italiener und nach dem Krieg ebenfalls in München, arbeitete ich sehr eng in Berlin zusammen. Wir konnten seine Arbeiten, die hier nicht gedruckt werden durften, über das Institut, das ja italienisch war, in Italien drucken und den Lesern in Deutschland zukommen lassen. Ich selbst konnte frei arbeiten. Dann wurden die Jahrbücher des Instituts verboten, und ich bin nur durch Zufall lebendig aus Berlin herausgekommen.

Widerspruch: Wann war das?

Grassi: 1943. Nachdem Mussolini gestürzt war und Italien unter Badoglio das Bündnis mit dem Nationalsozialismus aufgekündigt hatte, bin ich aus Deutschland weggegangen. Zuerst war ich in Italien, dann in der Schweiz, wo ich 1945 in Zürich Vorlesungen gehalten und mit Szilasi die Reihe „Geistige Überlieferung“ herausgegeben habe.

Widerspruch: Wie kam es dann zur Berufung nach München?

Grassi: Ich kam zunächst von Zürich zu Gastvorlesungen nach München. 1945 fand in Rom der erste europäische Kongress für Philosophie nach dem Krieg statt, und wir hatten es zusammen mit den Amerikanern erreicht, daß drei Referenten aus Deutschland, die damals eigentlich noch nicht durften, kommen konnten. Einer davon war der bayerische Kultusminister Hundhammer. – Apropos, Rom. Ich kann eine komische Geschichte erzählen. Die drei Deutschen kamen also durch unsere Vermittlung. Der Kongress fand im Senat statt, und der Senat hatte Diener. Ich hörte, als die Deutschen in ihrer Sprache referierten, wie sich zwei Diener unterhielten und der eine zum anderen sagte: „Hast Du es gemerkt? Sie sind schon wieder da.“ – Nun, die anschließende Berufung und Ernennung als Ordinarius für Geistesgeschichte des Humanismus erfolgte durch den Nachfolger von Hundhammer, ein Kollege, der mich noch aus der Freiburger Zeit kannte.

Widerspruch: War die Errichtung dieses Ordinariats, das ja in München keine Tradition hatte, unproblematisch?

Grassi: Ja. Meine Aufgabe war es, all die wissenschaftlichen Beziehungen, die auf dem Gebiet des Humanismus abgebrochen waren, wiederherzustellen. Das Sekretariat war damals im Prinz-Carl-Palais, nicht in der Universität.

Widerspruch: Hatten Sie philosophische Kontakte zu den anderen Münchner Philosophen Aloys Wenzl, Alois Dempf oder Max Müller?

Grassi: Nein, Max Müller kannte ich noch von Freiburg her. Aber philosophisch konnte ich nicht viel mit ihm anfangen.

Widerspruch: Helmut Kuhn?

Grassi: Nein, ich hatte ihn aber früher einmal kennengelernt. – Stattdessen haben Sedlmayr und ich gemeinsame Vorlesungen gehalten. Ich kannte Wenzl.

Widerspruch: Romano Guardini?

Grassi: Die Beziehungen zu Guardini, die in Berlin sehr intim waren, bestanden, als ich hierher kam, kaum mehr.

Widerspruch: Henry Deku?

Grassi: Meines Wissens ist er mit den Amerikanern 1945 hierher gekommen und hatte durch sie hier in München eine Stelle erhalten. Er war ein ausgezeichneter Lehrer der Scholastik. Aber als ich ihn einmal fragte, ob ich ihm nicht helfen könnte, bürokratisch zu einer besseren Stelle zu gelangen, lehnte er ab. Er war in seiner Bescheidenheit ganz zufrieden.

Widerspruch: Die Institute waren also getrennt. Jeder konnte in seinem Institut frei schalten und walten und Kontakte oder Auseinandersetzungen gab es kaum?

Grassi: Ja, ich habe mich gehütet, bei einem anderen Institut irgendwie mitreden zu wollen. Und außerdem hatte ich nie irgendeinen Sinn für Bürokratie gehabt.

Widerspruch: Wissen Sie, wie in München „1945“ aufgearbeitet wurde?

Grassi: Das waren – wie es immer ist – interne Probleme der verschiedenen Fachseminare. Ich habe mich in den 50er Jahren schwerpunktmäßig bemüht, interdisziplinäre Veranstaltungen anzubieten und durchzuführen. Etwa über Kunst mit dem Kunsthistoriker Sedlmayr oder über modernes naturwissenschaftliches Denken mit dem Biologen und Mediziner Uexküll. In den 50er Jahren, aber auch später, habe ich daran gearbeitet, den italienischen Humanismus auf die antike Philosophie zu beziehen, also die antiken Voraussetzungen des modernen Humanismus herauszuarbeiten. Das habe ich als meine Aufgabe gesehen, auch die 22-jährige Herausgabe vor Rowohlts „Enzyklopädie und Klassiker“.

Widerspruch: Hatte die Philosophie, die nach 1945 in München gelehrt wurde, einen einheitlichen, hervorstechenden Charakter, so dass man von einer typisch „Münchner Philosophie“ sprechen könnte?

Grassi: Nein. Es gab die „Frankfurter Philosophie“, aber keine Münchner. Das Philosophieangebot in München war sehr katholisch.

Widerspruch: Wie war es damals mit den Studenten? Sie kamen ja nicht von den Gymnasien, sondern aus dem Krieg mit ganz eigenen Erfahrungen. Hat sich das nicht in den Seminaren niedergeschlagen?

Grassi: Das müssen Sie die damaligen Studenten fragen.

Widerspruch: Ende der 60er Jahre haben Sie die jugoslawischen “Praxis“-Philosophen eingeladen und mit ihnen eine Vorlesungsreihe über Humanismus und Marxismus veranstaltet.

Grassi: Mein Anliegen war es, den Humanismus der Renaissance nicht nur rückwärts zu seinen antiken Quellen hin zu verfolgen, sondern auch vorwärts hin zu Marx. Nach dem Krieg erschienen ja auch Sartres Abhandlungen über das Verhältnis von Existentialismus, Humanismus und Marxismus. Auf der anderen Seite sah ich meine Aufgabe darin, interessante, für die Studenten anregende Veranstaltungen durchzuführen. Und dazu geh6rte es auch, Leute nach München zu holen und ihnen Gehör zu verschaffen.

Widerspruch: War Ihre Haltung zum Marxismus Ausdruck der 60er Jahre oder hatte sie schon frühere Wurzeln?

Grassi: Ja, gewisse Ursprünge waren schon da, aber die eigentlich intensivere Beschäftigung stammt zweifellos aus den 60er Jahren im Zusammenhang mit der Studentenbewegung.

Widerspruch: Wie ist Ihre Öffnung zum Marxismus hin aufgenommen worden?

Grassi: Es gab viel Kritik, auch von Studenten, denen dieser Marxismus nicht gefallen hat. Aber auch von Seiten der Universität. Damals war die Situation so, dass ich Drohbriefe erhalten habe, als ich es wagte, die jugoslawischen Marxisten hierher einzuladen. Es war – trotz solch unschöner Ereignisse – jedenfalls für mein philosophisches Verständnis eine aufregende Zeit. Danach habe ich noch für den Fink-Verlag die Reihe ,Humanistische Bibliothek“ herausgegeben und Vorlesungen an der amerikanischen Universität in Columbia, N.Y. und Pennsylvania und in Südamerika gehalten.

Widerspruch: Lieber Herr Grassi, wir danken Ihnen für das interessante Gespräch.

(Das Gespräch führten: Konrad Lotter und Alexander von Pechmann)

Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität

Gespräch mit Hans Otto Seitschek

Hans Otto Seitschek (1974-2023) lehrte zuletzt als apl. Professor für Philosophie an der LMU. Im Jahre 2010 gab er den Sammelband
„Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität. Die philosophische Lehre an der Universität Ingolstadt-Landshut-München von 1472 bis zur
Gegenwart“ heraus. Darin waren Beiträge auch anderer Dozenten des philosophischen Seminars (Wolfhart Henckmann, Martin Mulsow, Peter Nickl
und Thomas Ricklin) enthalten. Die Veröffentlichung des Sammelbandes war der Anlass für das Gespräch, das einen guten Einblick in das „geistige Klima gibt“, in dem in München Philosophie gelehrt und studiert wird. 

Widerspruch: Herr Seitschek, im Vorwort zu dem von Ihnen herausgegebenen Buch über die „Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität“ schreiben Sie, dass die Herausgabe eine eigene Geschichte hat. Können Sie kurz erzählen?

Seitschek: Zum ersten Mal kam ich mit dem Projekt 2003 in Berührung, als ich eine Skizze über Rémi Brague anfertigte, der Nachfolger von Hans Maier auf dem Guardini-Lehrstuhl geworden war. Dabei sah ich, dass hinter dem Projekt einer „Institutsgeschichte“ mehr steckte. Sie lag in einer bislang letzten Fassung von 1998 vor. Eines Tages kam ich mit Fräulein Ries, der langjährigen Sekretärin und „Seele“ des Lehrstuhls I, eher zufällig im Café Schneller ins Gespräch, und sie sagte mir, dass die Institutsgeschichte nicht recht weitergebracht wird. Sie war durch verschiedene Hände gegangen, aber keiner hatte sich richtig zuständig gefühlt. Anfang 2009 fragte mich Fräulein Ries dann, ob ich das nicht in die Hand nehmen möchte. Ich habe mich daraufhin mit den an der Herausgabe Beteiligten abgesprochen, mit Herrn Henckmann vor allen Dingen sowie mit Herrn Mulsow, der auf dem Umweg über Amerika jetzt in Erfurt und Gotha, Herrn Nickl, der in Hannover gelandet ist, und mit Herrn Ricklin, der zwischenzeitlich auch an dem Projekt beteiligt war. Dabei kam die Frage auf, wo wir den Einschnitt machen: schon in den 1990er Jahren, oder ob wir das Projekt bis heute (2010) weiterführen sollten. Nach einigen Überlegungen kam ich zu dem Schluss, es bis in die Gegenwart zu führen. Weite Textpassagen waren schon in einem recht guten Zustand, so dass ich nur hie und da Lücken füllen und Veröffentlichungen aktualisieren musste. Ich habe dann noch einige Personenskizzen beigefügt, insbesondere für die Zeit nach 1945 bis heute. Diese Aufgabe war für mich nicht so leicht, weil ich sie über das Jahr 2009 hinweg parallel zu meiner Habilitation in Angriff genommen habe.

Widerspruch: Für wen ist das Buch denn gedacht, für Studenten?

Seitschek: Von Fräulein Ries war es anfangs tatsächlich als Handreichung für Studenten gedacht. Aber es ist dann immer mehr gewachsen, immer mehr Texte kamen hinzu, so dass es ein recht umfangreicher Band geworden ist. Ich würde sagen: Er ist für historisch Interessierte im weiten Sinn.

Widerspruch: Durch das Buch erfährt man, dass die Ludwig-Maximilians-Universität ihren Namen schon 1802 erhalten hat. Die Universität ist also nicht nach König Ludwig I. benannt, der sie erst 1826 von Landshut nach München geholt hat, sondern nach Herzog Ludwig IX., der sie 1472 in Ingolstadt gegründet hatte, bzw. nach Max I. Joseph (dem Vater Ludwigs I.), auf dessen Veranlassung sie 1800 von Ingolstadt nach Landshut verlegt wurde. Diese Wanderung der Universität, auf die ihr Name verweist, geschah ja nicht willkürlich, sondern hatte eine inhaltliche Bedeutung. Was, meinen Sie, waren die Motive und Gründe der …

Seitschek: … translatio universitatis? Zunächst ist festzustellen, dass die Universität immer mehr an die Residenzstadt München heranrückte – aber nicht zu nah. Am Anfang lag das Hauptgebäude der LMU, wie wir es heute kennen, nicht im Stadtkern, sondern am Rande der Stadt. Einerseits wollte man die universitas litterarum an die Residenz und damit ans Zentrum der Macht holen, andererseits die Studenten offenbar nicht zu sehr ins Zentrum der Residenzstadt vordringen lassen. Dabei muss man freilich sehen, dass mit dem Umzug nach München eine wissenschaftspolitisch wichtige Sache verbunden war: die Berufung von Schelling. Er hatte 1826 der Berufung an die nach München verlegte Universität zugestimmt und 1827 mit der Lehre begonnen. Das war sicher eine wichtige Zäsur, die auch im Buch zum Ausdruck kommt. Die beiden Stationen vorher, Ingolstadt und Landshut, waren noch stark durch die neuscholastische Philosophie geprägt gewesen.

Widerspruch: Für uns hat sich ein etwas anderes Bild ergeben. In Ingolstadt hatte es im 18. Jahrhundert heftige Auseinandersetzungen zwischen dem Jesuitenorden, dem die Lehre übertragen worden war, und den Aufklärern gegeben, der 1773 mit der Aufhebung des Jesuitenordens und 1800 mit der Verlagerung nach Landshut endete. Während dieser Landshuter Zeit hat man den Eindruck, dass es sich um eine Periode des Streits zwischen Anhängern Kants und Schellings, also den Aufklärern mit den, vereinfacht gesagt, Romantikern handelt. Dies passt ja auch gut in die Umbruchzeiten zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Es ging also nicht so sehr um die Scholastik.

Seitschek: Um die Scholastik schon gar nicht; wenn schon, dann um die scholastische Tradition oder Methode. Das hat sich vor allem institutionell gezeigt. Inhaltlich wirken – da haben Sie Recht – die Strömungen des, wenn man so sagen will, philosophischen „Sturm und Drangs“ des späten 18. Jahrhunderts in die Landshuter Zeit. Herr Henckmann hat darüber ein sehr schönes Kapitel geschrieben.

Widerspruch: Man gewinnt den Eindruck, dass Landshut im Zeichen einer katholisch geprägten Spät-Aufklärung stand. Diese Zeit war ja in Bayern von dem Reformer Graf Montgelas geprägt, der die Säkularisierung der Kirchengüter durchführte, und von Max I. Joseph, der mit Napoleon verbündet war. Die Nähe zu Frankreich drückte sich in der Philosophie so aus, dass man von der scholastisch geprägten Zeit in Ingolstadt (allerdings auch von dem radikalen Illuminatenorden von Adam Weißhaupt, der 1785 verboten wurde) abrückte und eine bescheidene Art von Volksaufklärung betrieb.

Seitschek: Vielleicht. Man kann aber schon damals gegenläufige Prozesse feststellen: Institutionell orientierte sich die Philosophie tatsächlich noch an älteren Strukturen; aber inhaltlich mussten natürlich die neuen Themen der Zeit – Stichwort: Aufklärung – verarbeitet werden. Das drückt sich in der Münchner Zeit dann in den verschiedenen Lehrstuhltraditionen aus. Ich habe für das Buch eine graphische Darstellung der Lehrstuhlgenealogie erstellt: zum einen der Lehrstuhl von Schelling, den später dann Jakob Frohschammer besetzen konnte; zum anderen gegenläufige Besetzungen, die eher an theologischem Philosophieren orientiert waren (Meilinger u. a.). Ich denke, das ist ein Prozess, den man schon in der Landshuter Zeit sehen kann. Die Philosophie lebt praktisch immer auch vom Antagonismus, von der Dialektik.

Widerspruch: Kurz nach der Verlegung der Universität nach Landshut wurde eine Verordnung erlassen, die es erstmals Nicht-Katholiken und Nicht-Bayern gestattete, an der Universität zu lehren. Es war ein wichtiges Moment der Aufklärung, sich für den protestantischen Norden zu öffnen und sich nicht mehr nur auf katholische Lehrbücher festzulegen, wie noch in der Ingolstädter Zeit.

Seitschek: Ja, sicher. 1801 erfolgte auch die erstmalige Verleihung des Bürgerrechts an einen Protestanten hier in München. Das sind natürlich Strömungen und Entwicklungen, die vor der Universität nicht Halt gemacht haben. Dazu gehören auch die so genannten „Nordlichter“, Intellektuelle und Professoren aus dem Norden Deutschlands, die insbesondere in der Münchner Zeit an der Universität gewirkt haben. Dieser Prozess beginnt schon in der Landshuter Zeit. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass die Institutionen – Studien- und Lehrstuhlstrukturen – in ihrer Entwicklung längere Zeit in Anspruch nehmen als das Denken selbst. Es dauert oft lange, bis etwas weitergeht. Das ist ja bis heute so.

Widerspruch: Für die schließliche Umsiedlung nach München war dann offenbar der Gedanke prägend, die Universität zu einem Bildungszentrum des deutschen Volkes werden zu lassen, dessen Repräsentant Schelling sein sollte, der es 20 Jahre lang dann auch war. König Ludwig I. wollte, dass München nicht nur in Kunst und Architektur, sondern auch in der Wissenschaft ausstrahlt: München als „geistige Hauptstadt des deutschen Reiches“.

Seitschek: So ist es. Es ist festzustellen, dass damit ein Schritt hin zur Öffnung für die philosophisch-wissenschaftliche Avantgarde geleistet wurde, und Schelling die prägende Gestalt war. Er hat zwar dann noch in Berlin eine Spätwirkung entfaltet, aber wesentliche Gedanken, insbesondere zu seiner Naturphilosophie, gehen auf die Münchner Zeit zurück. Und das war, denke ich, nicht nur für die Philosophie, sondern auch für die Universität als ganze prägend.

Widerspruch: Ludwig I. war ja Romantiker, der München nicht nur zur geistigen Hauptstadt machen, sondern auch in Konkurrenz zu Berlin bringen wollte. Schelling sollte den Gegenpol zu Hegel bilden. Die beiden Jugendfreunde waren zu diesem Zeitpunkt längst zerstritten. Später dominierten in Berlin die Hegelianer, die „Linken“, sag ich mal; während es in München die Konservativen mit Schelling an der Spitze waren. Schelling wurde dafür ja vom bayrischen Staat nicht schlecht bezahlt, sein Gehalt überstieg das anderer Professoren um ein Vielfaches.

Seitschek: Ja, Schelling hat gut verhandelt. Das ist richtig, auch der Antagonismus zu Berlin ist nicht zu vernachlässigen. Hinzukommt freilich, dass zu dieser Zeit das bayerische Königreich noch nicht so alt war und einen Selbststand in sich gesucht hat. Man hat daher versucht, in der Berufungspolitik ein eigenes Profil herauszubilden, und das ist mit Schelling ganz gut geglückt, auch wenn er schließlich vom Gang nach Berlin nicht zurückgehalten werden konnte. In dieser Zeit bilden sich jedoch zwei Lehrstühle heraus: Schelling und Meilinger, der selber Ordenschrist, Benediktiner, war und die gegenläufige Richtung vertreten hat, die nicht durch die Romantik, sondern von der Scholastik her geprägt war und eher ans Theologische anschloss. Auf diesen Lehrstuhl ist in der Folge zwar der Schelling-Schüler Beckers gekommen, in der weiteren Berufungsphase jedoch auch Johann Nepomuk Huber, der anfangs eher als ein konservatives Gegengewicht gesehen werden muss zu Beckers und zu Frohschammer, der zu der Zeit mit der Kirche schon im tiefen Clinch lag. Später schloss sich Huber der Bewegung der „Altkatholiken“ an.

Widerspruch: Wenn man diese Besetzungspolitik betrachtet, – lässt sich Ihrer Meinung nach so etwas wie eine „Grundlinie“ der Münchner Philosophie finden? Gibt es da bei allen syn- und diachronen Differenzen etwas Typisches?

Seitschek: Ja. Im Vorwort habe ich deshalb von der „Münchner Philosophie“ gesprochen. Aber was ist das Besondere? Es ist nicht verkehrt, wenn man sagt, dass in München viele philosophischen Strömungen zusammengekommen sind. Schaut man sich die Institutionen an, so gibt es heute drei Lehrstühle, die in der Tradition auf Schelling und Meilinger zurückgehen. Welche Denktraditionen wurden da genau weitergeführt? Die schellingsche, naturphilosophische Tradition ging weiter mit Karl von Prantl, der ursprünglich klassischer Philologe war. Dann waren die Lehrstuhlinhaber Carl Stumpf, Theodor Lipps, Oswald Külpe, Erich Becher, Richard Hönigswald und nach dem 2. Weltkrieg Aloys Wenzl. Mit ihnen bildete sich eine naturphilosophische Tradition aus, die das Naturdenken nicht im engeren Sinn des scholastischen „natura“-Begriffs, sondern in einem weiteren philosophischen Sinn entwickelt hat. Nach Wenzl teilt sich diese Linie: Sie geht einmal mit Wolfgang Stegmüller weiter, der die Wissenschaftstheorie in München etabliert hat, aber als ein breit angelegtes Projekt, das (Natur-)Wissenschaftler und Philosophen ganz unterschiedlicher Couleur einbezog. Auf der anderen Seite konnte sich der heutige Lehrstuhl II etablieren, auf den zuerst Helmut Kuhn kam, dann Hermann Krings, Dieter Henrich – dazwischen Eckart Förster – bis zu Axel Hutter. Die Linie, die von Schelling ausgeht, teilt sich heute also in den wissenschaftstheoretischen Lehrstuhl, den momentan Carlos Ulises Moulines – selbst ein Stegmüller-Schüler – inne hat, und in den Lehrstuhl II, mit dem Schwerpunkt der klassischen deutschen Philosophie. In beiden Lehrstühlen lebt das Erbe Schellings in unterschiedlicher Weise fort.

Die andere große Münchener Lehrstuhltradition ist die des heutigen Konkordatslehrstuhls, des Lehrstuhls I, der auf Meilinger zurückgeht. Dieser Lehrstuhl wurde mit verschiedenen Unterbrechungen und Umbesetzungen fortgeführt. 1882 kam Georg von Hertling, der später auch kurzzeitig von 1917 bis 1918 Reichskanzler war. Der Lehrstuhl von Hertlings wurde in den 1920er Jahren dann zum Konkordatslehrstuhl, den zunächst Clemens Baeumker, dann Joseph Geyser und Fritz-Joachim von Rintelen innehatten. Im Dritten Reich verödete der Lehrstuhl und blieb unbesetzt. Nach dem Krieg wurden Alois Dempf, Max Müller, Robert Spaemann und schließlich Wilhelm Vossenkuhl auf den heutigen Lehrstuhl I berufen.

Widerspruch: Es lässt sich noch eine andere Kontinuität erkennen. Betrachtet man die Münchner Philosophie auch im kulturellen Rahmen Münchens und Bayerns, so sieht man auf der einen Seite die Fortführung einer Tradition, die letztlich aus der Scholastik kommt. Auf der anderen Seite erkennt man aber immer auch den Versuch der Öffnung zum anderen, dem modernen und gegenwärtigen Denken. Was modernes Denken freilich jeweils ist, das musste immer wieder neu bestimmt werden. Wenn Sie von der naturphilosophischen Tradition des Lehrstuhls II reden, dann muss man bedenken, dass sie einen jeweils anderen Charakter hatte: erst der Psychologismus von Theodor Lipps, dann die eher erkenntnistheoretischen Bemühungen von Erich Becher, ab den 1950er Jahren dann die Wissenschaftstheorie und analytische Philosophie. Dabei scheint es bei der „Münchner Philosophie“ um ein Austarieren zwischen Tradition und Gegenwart gegangen zu sein, so dass man nicht zu konservativ blieb und sich nicht zu sehr von den modernen Entwicklungen abschottete. Dabei entstanden freilich immer wieder Konflikte. Johann Nepomuk Huber etwa hat den Antimodernismus des Papstes nicht mitgemacht; Graf von Hertling sehr wohl. Als die katholische Lehre auf die Antimoderne eingeschworen wurde, war das für die Münchner Philosophie wohl eine recht schwierige Situation, weil man sich ja zugleich den modernen Entwicklungen nicht verschließen wollte. Da kam es beim Austarieren notwendigerweise immer wieder zu Reibereien.

Seitschek: Ja, sicher. Die Philosophie lebt ja von Reibereien. Der Antimodernisten-Eid, der von den Priestern geleistet wurde, nicht aber von jedem Katholiken, drückt in besonderer Weise aus, dass es hier einen Widerstand gegen das gab, was man mit „Moderne“ bezeichnete. Die Frage ist natürlich, ob das nicht eine denkerische Herausforderung ist, die die Moderne für sich einfordert. Die Moderne braucht also einen kritischen Widerpart, um sich selbst, vielleicht auch ausgelagert, zu reflektieren. Das wird, denke ich, gerade an den genannten zwei Traditionslinien deutlich.

Da Sie den „Psychologismus“ genannt haben, möchte ich noch erwähnen, dass die Psychologie sehr eng zur Geschichte unserer Fakultät bis ins 20. Jahrhundert hinein gehörte. Kurt Huber etwa, Mitglied der „Weißen Rose“, hatte am Psychologischen Institut angefangen, wo schon früh empirische Studien geleistet wurden. Dort war von 8 bis 20 Uhr Geschäftszeit, während der Klienten getestet wurden. Es war der moderne Aufschwung der Psychologie, bevor sie sich dann als eigenes Fach verselbständigt hat. Noch immer sind Fakultät 10 (Philosophie) und Fakultät 11 (Psychologie und Pädagogik) institutionell benachbart. Die eine wuchs sozusagen aus der anderen heraus.

Widerspruch: Die Modernisierung nach dem zweiten Weltkrieg durch Stegmüller, die Wissenschaftstheorie und die formale Logik scheint allerdings weniger geplant als ein Zufallsprodukt gewesen zu sein. Stegmüller war damals ja ein Kompromisskandidat. Die eine Gruppe wollte von Rintelen nach München zurückholen, die andere favorisierte Helmut Kuhn. Da man sich nicht einigen konnte, hatte man plötzlich jemanden berufen, der eigentlich nicht hineinpasste, weil er das scholastisch-metaphysische, katholische Klima durchbrach.

Seitschek: Ich würde das für Helmut Kuhn in gewisser Weise auch beanspruchen, der ebenfalls ein eigener Kopf war und zwischenzeitlich im amerikanistischen Institut war, bevor er den Lehrstuhl II besetzen konnte. Aber in der Tat, Stegmüller war von Haus aus promovierter Nationalökonom, der dann Philosophie studiert hatte und in diesem Fach ebenfalls promoviert wurde. Er bringt tatsächlich ein neues Denken: die strukturalistische Wissenschaftstheorie, die am von den Naturwissenschaften, besonders der Physik, herkommenden Paradigma orientiert ist. Die „Logistik“ jedoch, wie die Logik anfangs noch hieß, kam eigentlich nicht von Stegmüller, sondern von Wilhelm Britzelmayr, der beruflich im Bankwesen verankert gewesen war und die formale Logik an die Universität brachte. Sie hat sich dann durch viele Professuren etabliert bis hin zur aktuellen Berufung von Hannes Leitgeb, einem international renommierten Philosophen und Mathematiker, der als Nachfolger von Godehard Link auf einen eigenen Lehrstuhl für Sprachphilosophie und Logik berufen wurde. Auf diese jüngste Entwicklung konnte das Buch leider nur in Fußnoten eingehen.

Widerspruch: Zeitgenossen erinnern sich, dass in den 1960er und 70er Jahren die Vorstellung herrschte, dass die jeweils anderen gar keine Philosophen seien. Man hatte da nicht den Eindruck eines austarierten Zusammenspiels, sondern von zwei Lagern. Für die einen waren die anderen nicht Philosophen, sondern bloß Logiker; und für die anderen war es nur Geschwätz, kein exaktes Denken, was die einen da machten.

Seitschek: Sie meinen die Kontroverse zwischen Max Müller und Wolfgang Stegmüller, die anekdotisch überliefert ist und auch im Buch zitiert wird. Stegmüller zu Müller: „Ich halte das, was Sie machen, Herr Kollege, für die Universität für nützlich, auch wenn ich es nicht für Wissenschaft halte.“ Und Müller gegenüber Stegmüller: „Auch ich halte das, was Sie machen, für nützlich, auch wenn ich es nicht für Philosophie halte.“ Da wird diese Kontroverse zwischen den Lehrstühlen durchaus greifbar.

Widerspruch: Man gewinnt in der Tat den Eindruck, dass die Berufung Stegmüllers ungeplant war, und man die Auseinanderentwicklung der Lehrstühle nicht so vor Augen gehabt hatte. Ansonsten scheinen die entsprechenden Stellen doch immer darauf geachtet zu haben, einen gewissen Ausgleich herzustellen. Dieses Austarieren der Lager scheint, bei allen Veränderungen, doch etwas spezifisch Münchnerisches zu sein, das ja auch gut in die bayerische Tradition passt: nicht zuviel Moderne, aber auch nicht zu konservativ. Inhaltlich ist das natürlich immer ein Suchprozess.

Seitschek: … liberalitas bavariae …

Widerspruch: In Frankfurt oder Marburg, überhaupt in protestantischen Universitäten herrschte doch ein anderes Klima, das nicht durch diese Art der Traditionsbildung geprägt war.

Seitschek: Traditionsbildung gibt es woanders aber doch auch. Ich denke, dass die philosophische Denkbewegung sich nicht so leicht klassifizieren lässt: hie konservativ – da modern. Das ist doch ein lebhaftes Denken, das von fortwährenden Kontroversen lebt. Nicht umsonst geht es Robert Spaemann in einem seiner Essays um „Die kontroverse Natur der Philosophie“ (1983).

Widerspruch: Na ja, es geht doch um den Umgang mit der Tradition. Für von Hertling etwa, aber nicht nur für ihn, war der Gedanke einer philosophia perennis wesentlich. Das muss nicht konservativ im politischen Sinn sein, sondern besteht in der Auffassung, die Moderne und Gegenwart gewissermaßen in Dosen in einen großen Traditionszusammenhang einzubinden. Und das ist ein spezifisches Verständnis von Philosophie, das man so an protestantisch geprägten Universitäten wohl nicht findet.

Seitschek: So gesehen, ja.

Widerspruch: Bei aller Verschiedenheit zeichnet die „Münchner Philosophie“ doch auch aus, welche Berufungen nicht stattgefunden haben. Im Buch wird erwähnt, dass prominente Philosophen, mit denen man nichts anfangen konnte oder wollte, abgelehnt wurden. Das fing mit Fichte an, der nach Landshut kommen sollte, den man aber des Atheismusstreits wegen ablehnte. Dann kam Feuerbach, der Materialist, gegen den sich Schelling persönlich gestellt hatte. Auch Heinrich Heine konnte an der Münchner Universität nicht Fuß fassen. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts waren es dann Habermas und Blumenberg. Bestimmte Leute wollte man trotz der liberalitas bavariae offenbar draußen haben.

Seitschek: Es gehört zum Widerstreit verschiedener philosophischer Richtungen dazu, dass er eben auch ins Berufungspolitische hineinwirkt. Das lässt sich nicht vermeiden. Vielleicht wurde gerade durch diese Ablehnungen ein neuer Eros geweckt. Sie haben es ja alle woanders doch geschafft.

Widerspruch: Aber es geht nicht darum, ob sie es geschafft haben, sondern dass die Münchner sich offenbar hier mit ihnen nicht auseinandersetzen wollten.

Seitschek: Sie meinen, was München mit diesen Denkern hätte sein können? Im Buch geht Martin Mulsow kurz der Frage nach, wie man sich die philosophische Fakultät mit Blumenberg und Habermas hätte vorstellen können. Das wäre natürlich eine besondere Herausforderung gewesen. Aber der philosophische Richtungsstreit steckte offenbar so tief, dass er sich in der Berufungs- und Ernennungspolitik fortsetzte – nicht immer nur zum Wohl der Fakultät. Das muss man klar sagen.

Widerspruch: Welche Funktion hatte eigentlich die Philosophie während der verschiedenen Entwicklungsetappen des philosophischen Seminars? Kann man sagen, dass sie in Ingolstadt in erster Linie Teil der Priesterausbildung war, während später die Gymnasiallehrer im Zentrum der Ausbildung standen? Oft wurden ja auch Gymnasiallehrer zu Professoren. Nach 1945 scheint die Vermittlung einer „christlichen Weltanschauung“ im Zentrum des Interesses gestanden zu haben, auch beim „Studium generale“.

Seitschek: Das spielt alles jeweils eine eigene Rolle. Betrachten wir zunächst die alte Universität, die universitas als solche. Sie hatte die drei oberen Fakultäten, Theologie, Jurisprudenz und Medizin, und die untere, die Artistenfakultät, die ihren Namen von den artes liberales, den sieben freien Künsten, hat. Das Trivium, das am Anfang der Ausbildung stand, und das wir heute noch im Wort „trivial“ kennen, Grammatik, Rhetorik und Dialektik – wobei ich mich frage, ob Dialektik wirklich so trivial ist –, dann das Quadrivium mit Geometrie, Arithmetik, Musik (Harmonik) und Astronomie. Dies hat sich mit der Zeit immer mehr ausdifferenziert, so dass die untere, also die philosophische Fakultät, im Vergleich zu den drei anderen immer mehr aufstieg. Aber in der Tat war es so, dass die Philosophie den Status einer Grundausbildung für alle hatte, für Theologen, Juristen und Mediziner, für die es jeweils abgestimmte philosophische (Vor-)Studien gab.

Widerspruch: Das galt in der Ingolstädter Zeit. Mit den Umbrüchen im 19. Jahrhundert war damit aber Schluss. Mit der Aufklärung kam ja die Auffassung auf, die Philosophie sei nicht Magd der Theologen, sondern eine autonome Wissenschaft. Ich möchte nur an Schellings Rede über das akademische Studium von 1803 erinnern, in der er forderte, dass die Philosophie funktionslos Selbstzweck sein müsse, was er in seiner Münchener Zeit dann wohl auch weitgehend durchgesetzt hat. Das heißt, man wollte zu der Zeit keine Studenten haben, die Philosophie etwas anderes wegen studieren, sondern um der Philosophie willen. Erst danach kam die Frage auf: „Für wen machen wir das eigentlich?“ Und erst dann rückte die Ausbildung der Gymnasiallehrer in den Fokus. Da hatte die akademische Philosophie wieder eine Funktion.

Seitschek: Das gymnasiale Lehramt war in der Tat ein Anker, aber erst im beginnenden 20. Jahrhundert. Da gab es auch Überschneidungen, so dass Gymnasiallehrer auch Professoren wurden. Ein gutes Beispiel ist Aloys Wenzl, der Physiklehrer am Luitpold-Gymnasium gewesen war – und außerdem als Landtagsstenograf einen Weltrekord in Stenografie aufgestellt hatte. Er erhielt 1946 eine Berufung auf den späteren Lehrstuhl II, nachdem er sich bereits 1926 habilitiert hatte und 1938 von den Nazis aus der Uni vertrieben worden war. Was die Lehrerausbildung betrifft, so war in der Tat das Philosophicum lange Zeit Pflicht, und jeder Lehramtskandidat musste einmal eine mündliche Prüfung vor einem Philosophieprofessor ablegen. Von Adorno gibt es übrigens eine sehr schöne Frankfurter Rede, die an Lehramtskandidaten gerichtet ist: „Philosophie und Lehrer“ (1962).

In den 1970er Jahren wurde das Philosophicum dann abgeschafft und in das erziehungswissenschaftliche Studium (EWS) integriert. Das ist eigentlich schade, weil es schön wäre, wenn die Philosophie in der Lehrerausbildung wieder ein Standbein hätte.

Widerspruch: Das war auf die Ausbildung bezogen. Nach der Zeit des Faschismus kam jedoch hinzu, dass man der Philosophie wieder eine gesellschaftliche Aufgabe zusprach, nämlich Werte zu vermitteln, und dass sie in die Öffentlichkeit wirken müsse. Da herrschte das Verständnis, dass die Philosophie nicht nur Teil der Ausbildung ist, …

Seitschek: … sondern im Wesentlichen Bildung vermitteln, den Menschen zum Denken, zum Bedenken anregen soll. Dem Anspruch nach geht das, meine ich, schon auf die Landshuter Zeit zurück, auf die Auseinandersetzungen der Anhänger Kants, Jacobis oder Schellings. Parallel dazu gab es tatsächlich immer die institutionell verankerten Aufgaben der Priester- oder Lehrerausbildung bis in die 1970er Jahre hinein. Erst dann hat sich das Eigentliche der Philosophie entfalten können als einer Philosophie, die frei ist, keinen festen Lehrplan hat, und wo kein Lehrstuhlinhaber Rechenschaft ablegen muss, sondern einfach „drauf loslehrt“. Zu dieser Zeit herrschte der Gedanke vor, dass die Philosophie einen Denkraum gibt, und dass sie damit eine eminent wichtige Funktion für die Demokratie hat, die sich solche Denkräume leisten können muss, anders als in Systemen, wo „man regiert wird“. In der Demokratie spielt der Gedanke der Selbstbeteiligung eine zentrale Rolle, die allerdings eine gewisse Reflexionsfähigkeit voraussetzt und dazu Denkräume benötigt. Das war die Zeit, als die Philosophie tatsächlich eine große institutionelle Freiheit genoss, die sie auch gut genutzt hat: in München Spaemann, Henrich, Beierwaltes oder Hans Maier; da war einiges los. Es wurden hier viele spätere Professoren ausgebildet, die an anderen Orten die Philosophie wiederum stark geprägt haben.

Widerspruch: Und heute? Mit dem „Bologna-Prozess“ wird der Philosophie ja wieder eine ganz andere Rolle zugewiesen. Offenbar sollen Philosophen als Mediatoren, Wirtschaftsethiker, „Firmenphilosophen“, Vermittler etc. qualifiziert werden, also Fähigkeiten erwerben, durch die sie für die Industrie nützlich sein können.

Seitschek: Zuerst hat man angefangen zu zählen: Wie viele Studenten? Wie viele Abschlüsse? Das Ganze wurde wieder stark „verfunktionalisiert“ bis zum heutigen Bachelor/Master-Prozess. In München haben wir allerdings das Glück, einen sehr breiten Lehrkörper zu haben und verschiedene Richtungen abdecken zu können. Für die Philosophie ist und bleibt wichtig, wovon wir schon gesprochen haben, dass nicht nur eine Richtung, Spätidealismus oder was auch immer, vertreten wird, sondern dass es verschiedene Strömungen gibt, die untereinander streiten, aber auch miteinander reden und damit eine gute Grundlage für das Studium bilden.

Widerspruch: Wenn man diese gegenwärtige „Reform“ historisch zu verorten versucht, so erscheint sie uns als ein gewaltiger Bruch mit der Tradition von philosophischer Lehre und Studium. Wie sehen Sie das?

Seitschek: Ja, das ist ein Bruch. Reformen hat es immer gegeben. Die Studien- und Studentenordnungen wurden, wie im Buch dokumentiert, immer wieder umgeschrieben. Aber was wir heute als „Bologna-Prozess“ bezeichnen, ist schon ein sehr harter Einschnitt, weil die Struktur des Bachelorstudiums sich an Studiengängen orientiert, die erstens sehr anwendungsbezogen sind und zweitens nach dem „Baukastenprinzip“ funktionieren. Für die Philosophie erweist es sich als äußerst schwierig, das Studium in solche „Bausteine“ (Module) zu zergliedern. Dahinter steckt der Gedanke, das Studium für die Wirtschaft, wie es so schön heißt, „greifbarer“ zu machen. Der Personalchef, der die Leute einstellt, will wissen, was dahintersteckt, wenn einer mit der Bachelor-Urkunde daherkommt.

Was uns einigermaßen rettet, ist tatsächlich die Vielfalt der Münchner Philosophie, weil wir die verschiedenen „Bausteine“ für ein breit angelegtes Philosophiestudium liefern können. Wir haben beispielsweise praktische Philosophie, einmal mehr in Richtung politischer Philosophie (Julian Nida- Rümelin), einmal mehr in Richtung Ökonomie (Karl Homann); auch in der Antike stehen wir auf mehreren Beinen, der klassischen Metaphysik (Thomas Buchheim), aber auch der antiken Rhetorik (Christof Rapp) und anderen Richtungen. Wenn wir diese Vielfalt, die vor allem in den letzten Jahrzehnten entstanden ist, für den Bachelor nutzbar machen können, ist das ein Standortvorteil gegenüber anderen Universitäten.

Widerspruch: Halten wir fest: In Ingolstadt war es so, dass an der Universität nach kirchlichen Lehrbüchern indoktriniert wurde. Dann kam die Zeit der Reformen in der Landshuter Zeit, die Befreiung des Studiums, weil man sagte, gerade die Philosophie müsse frei sein. Diese Freiheit, haben wir gesagt, herrschte dann wieder von den 1970er bis in die 1990er Jahre, in denen die Münchner Philosophie eine gewisse Ausstrahlung besaß. Jetzt aber befinden wir uns in einer Phase, in der das Studium sich an den Personalchefs orientiert. In Ingolstadt musste man darauf achten, was der Herzog oder der Bischof über die Ausbildung sagt; im München des Jahres 2010 muss man darauf achten, was der künftige Personalchef dazu sagt. Erscheint das nicht nur als ein Einschnitt, sondern in historischer Sicht als ein großer Rückschritt?

Seitschek: Wenn man mutig ist, muss man sagen, das es der bisher größte Einschnitt in der philosophischen Lehre ist. Die Philosophie muss jetzt einem Studienschema Genüge leisten, das für ganz andere Fächerkulturen geschaffen wurde. Das ist wie die Quadratur des Kreises. Schaut man sich bei anderen Universitäten um, sieht man, wie schwer sich die Philosophie dort tut. In Eichstätt z.B. wird es vorerst keinen grundständigen Philosophiestudiengang mehr geben. Mag sein, dass wir die Freiheit zuvor zu sehr genossen, zu vollmundig genommen haben. Man konnte sich zu meiner Studienzeit im Magisterstudium mit drei Proseminarscheinen zur Zwischenprüfung anmelden – immerhin gab es schon eine Zwischenprüfung. Zuvor gab es teilweise nur die Lehramtsstudiengänge und die Promotion. Wie man dorthin kam, war sehr frei gestaltet. Vielleicht gab es zu wenig Strukturen, und die Freiräume wurden zu sehr ausgenutzt.

Was dann allerdings kam, war eine politische Überreaktion. Man spricht zwar vom gemeinsamen europäischen Hochschulraum, was sehr schön nach Freiheit klingt, wenn man in München anfängt, in Paris weitermacht und in London abschließt. Das sind tolle Ideen. Es steht aber sehr zu befürchten, dass sie Utopien bleiben. Der Grund dafür ist, dass auf der anderen Seite die massive Verschulung droht, die „Einkastelung“ des Studiums, um es so funktional zu gestalten, dass es wirklich jeder Personalchef kapiert. Früher hielt man Seminare, die zwei, drei Semester lang fortgesetzt wurden, weil sich eine Gruppe von Studenten zusammenfand, die an einem bestimmten, komplizierten Text, wie Hegels „Logik“, dranbleiben wollte. Das ist in der jetzigen Situation praktisch unmöglich. Man kann nur hoffen, dass sich kleinere und größere Schlupflöcher auftun, so dass die Philosophie den genuinen Eros des Denkens behält – auch im Bachelor.

Widerspruch: Kommen wir zum Schluss noch einmal auf das Buch zurück. An einigen Stellen scheint die Darstellung sehr harmonisierend zu sein, als handle es sich um eine Werbeschrift für die „Münchner Philosophie“. Zwei Punkte sind uns aufgefallen: zum einen schreiben einige Autoren über sich selbst; zum anderen passt einmal die Fußnote nicht recht zum Text. Im Text heißt es, der Lehrstuhl für Humanismus sei quasi als „Abrechnung“ mit dem Dritten Reich und mit dem Ziel, sich auf die humanistischen Werte der europäischen Tradition zurückzubesinnen, geschaffen worden; er sei dann mit Ernesto Grassi besetzt worden. In der Fußnote steht, dass Grassi mit dem Nationalsozialismus und dem Faschismus zusammenarbeitete, 1938 in Berlin Honorarprofessor war und bei Alfred Rosenberg veröffentlicht hatte.

Seitschek: Das ist wieder ein Beispiel für den Widerstreit in der Philosophie. Grassis Persönlichkeit ist nicht so leicht zu fassen und sehr schillernd. Seine Schüler, die sich auch um die Texte im Buch gekümmert haben, sehen das aus ihrer Erfahrung mit ihm oft anders. Man soll es aber nicht verschweigen: Er war zur Zeit des Dritten Reichs in Rom und in Berlin aktiv. Wollte er sich dort lediglich Möglichkeiten zur Veröffentlichung verschaffen, oder verstand er sich als eine Art Vordenker?

Widerspruch: Darüber hinaus scheint das Buch sehr aus Sicht der Ordinarien geschrieben zu sein. Die Darstellung ist von den Professoren her gedacht, von ihrer Sichtweise und Position, so dass man den Eindruck einer Darstellung von oben nach unten hat: erst die Ordinarien, dann die Ex- traordinarien usw. Studenten kommen eigentlich nur dann vor, wenn sie aufmüpfig waren. Sie scheinen eigentlich nicht zum Korpus zu gehören. Zudem erfährt man von Konflikten oft nur unterschwellig. Von Max Müller etwa heißt es, er habe sich aufgrund der Auseinandersetzungen in den 1960er Jahren enttäuscht zurückgezogen. Aber dass er selbst auch ordentlich zur Sache gegangen ist, erfährt man nicht. Auch über die Diskussionen am Ende der Weimarer Republik oder, gerade in München, über die Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Altkatholiken Mitte des 19. Jahrhunderts erfährt man wenig. Es gibt zwar Hinweise, aber manches erscheint als zu glatt.

Seitschek: Na ja. Das Buch ist zusammenführend, würde ich sagen. Die Darstellung ist gewiss nicht die von disiecta membra; eine gewisse innere Bezogenheit und Linienführung nehme ich für mich schon in Anspruch. Ob harmonisierend? Vielleicht an manchen Stellen. Man hätte da mehr schaffen können, wenn mehr persönliche Berichte vorhanden gewesen wären. Ich habe Max Müller nicht persönlich kennen gelernt, aber vieles aus anschaulichen Berichten erfahren. Ja, der konnte zur Sache gehen.

Widerspruch: Er wollte ja die Studenten mit dem Schlauch aus der Uni spritzen. Der „Widerspruch“ hat vor zwei Jahren zum 40. Jubiläum ein Heft zu „1968“ herausgegeben mit dem Erfahrungsbericht eines Philosophiestudenten, der das damalige Studium nicht von oben, sondern von unten schildert. Da sind schon einige interessante Dinge passiert.

Seitschek: Das ist sicher für eine weitere Auflage oder ein noch größeres Projekt interessant. Manche haben mir gesagt, man könne die Geschichte des Faches von 1472 bis heute nicht auf ein paar hundert Seiten zusammenfassen. Das ist richtig: Man könnte über jeden Lehrstuhl einen eigenen Band schreiben. Die Frage ist, was man als Habilitand mit einer halben Stelle leisten kann, der ein solches Projekt praktisch nebenher machen muss. Mit dem vorliegenden Buch ist jetzt jedenfalls ein Anfang gemacht. Sollte eine zweite Auflage möglich sein, müsste man solche Erfahrungsberichte einfügen. Ich habe auch schon gesehen, wo man tiefer bohren muss: die Weimarer Zeit oder 1968, wie Sie sagten, überhaupt die Schwellen- und Übergangszeiten. Man sollte sich auch das Verhältnis der Fakultät zur Bayerischen Akademie der Wissenschaften oder zur Görres-Gesellschaft anschauen. Sie sehen, das Projekt einer Geschichte der Philosophie an der LMU ist ein „work in progress“, dem wir wohl alle eine Fortführung und Erweiterung wünschen.

Widerspruch: Herr Seitschek, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Gespräch führten Konrad Lotter und Alexander von Pechmann

Einleitung

Panorama der an der Münchner Universität gelehrten Philosophie (1990 bis 2020)

Bei seiner Gründung im Jahr 1981 verstand sich der „Widerspruch – Münchner Zeitschrift für Philosophie“ als kritisches Organ und Alternative zur Philosophie, wie sie an der Ludwig-Maximilians-Universität gelehrt wurde. In Abgrenzung zur Wissenschaftstheorie (Neopositivismus) einerseits und zur christlich-orientierten Metaphysik andererseits orientierte er sich an Marx und der Tradition der Kritischen Theorie und Sozialphilosophie, die im offiziellen Lehrangebot der Universität höchst marginal vertreten waren. Unser Anliegen war es, die in München Philosophie Studierenden auch mit dieser Richtung bekannt zu machen.

Seinem Untertitel als „Münchner Zeitschrift“ trug der „Widerspruch“ allerdings auch insofern Rechnung, als er sich, darstellend oder kritisch, mit der an der Ludwig-Maximilians-Universität gelehrten Philosophie auseinandersetzte, sowohl mit ihrer Geschichte als auch mit ihren gegenwärtigen Repräsentanten. Dies geschah in unterschiedlicher Weise: in Round-table-Gesprächen, in Interviews zu Themen, die dem Interesse und der Programmatik der Zeitschrift entsprachen, aber auch in Form von Selbstdarstellungen Münchner Philosophen über ihren eigenen Entwicklungsgang und die von ihnen vertretene Position. Im Verlauf vieler Jahre entstand auf diese Weise ein umfassendes Panorama der in München zwischen 1990 und 2020 gelehrten Philosophie, das wir in einer Folge von Beiträgen hier erneut veröffentlichen und so auch über das Internet zugänglich machen.

Den Anfang macht ein Gespräch des „Widerspruch“ mit Hans Otto Seitschek, dem Herausgeber des Sammelbandes zur Geschichte der „Philosophie der Ludwig-Maximilians-Universität“, von ihren Anfängen in Ingolstadt und Landshut über ihren Umzug nach München (1826) bis in die Gegenwart. Anschließend werden zwei Gespräche folgen, die die Situation des philosophischen Seminars während des „Dritten Reichs“ (mit Hermann Krings) sowie der unmittelbaren Nachkriegszeit (mit dem Heidegger-Schüler und -Kritiker Ernesto Grassi) zum Thema haben.

Im Weiteren sind Gespräche und Interviews mit den Philosophen Julian Nida-Rümelin, Karl Homann, Wilhelm Vossenkuhl, Thomas Buchheim, Axel Hutter und vielen anderen vorgesehen, aber auch mit dem Sozialpsychologen Heiner Keupp und dem Sinologen Hans van Ess, die im Rahmen ihres Fachgebiets philosophische Fragen erörterten.