Heft 42: Gesundheit

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24. Jahrgang, 2004, 212 Seiten, broschiert

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Gesundheit ist zur neuen Alltagsreligion geworden, stellen Soziologen und Psychologen fest, und ihre Priesterschaft rekrutiert sich aus der Medizin. Während die Kirchen und Bibliotheken sich leeren, die Gewerkschaften und Parteien den Schwund ihrer Mitgliederzahlen beklagen, füllen sich die Fitnesscenter in Städten und sprießen auf dem Land die Wellnessparks, strömt die Menge zu den alljährlichen Marathonläufen und sommerlichen Rollerbladeevents. Der Schönheitsberater hat den Seelsorger in den Schatten gestellt, der Trainer den Lehrer, der Körper-Designer den Hausarzt. Die alte Frage nach dem „rechten Tun“ wird zunehmend verdrängt durch die neue Frage nach dem „gut drauf sein“. Der wahre Reichtum, so die Botschaft, ist – Gesundheit: Health is Wealth. Und so fließt ein ständig wachsender Teil des Einkommens einer zudem älter werdenden Bevölkerung in das Gesundheitssystem, das aus seinen Nähten zu platzen droht und den Spaltpilz in die politischen Lager trägt.

Die Philosophie ist von diesem Werte- und Strukturwandel auf dem falschen Fuß erwischt worden. Gilt ihr in all ihren Varianten die Gesundheit doch nicht als „höchstes Gut“, sondern allenfalls als die psycho-physische Bedingung der Wahrheitssuche oder als Folge eines guten Lebens. Sie erhebt daher nur da kritisch das Wort, wo ihr der ,Körperkult‘, der ,Gesundheitswahn‘ und die ,Sorge ums Selbst‘ zu weit gehen, wo sie auf Grenzen der ,menschlichen Natur‘ und des ,Verantwortbaren‘ stoßen. In ihren Lexika findet man „Gesundheit“ bestenfalls eingeklemmt zwischen „gesundem Menschenverstand“ und „Gettier-Problem“.

Insofern betreten wir Neuland. Geht es hier doch nicht um die Wahrheit, die es den Ideologen und Sykophanten gegen ber zu verteidigen gilt, und nicht ums Gerechte, das um der Opfer und Armen willen einzuklagen ist, sondern schlicht ums Gesundsein und damit ums dauerhafte Wohlbefinden des Individuums. Doch die Ausgrenzung der Gesundheit aus dem Kanon der Philosophie ist selbst ein Problem der Philosophie. Es beginnt dort, wo im Namen der Gesundheit die Einheit von Körper, Seele und Geist eingeklagt wird, die von der Philosophie seit Platon allzu oft getrennt und unterschieden wurde. Es setzt sich in der Explikation dessen fort, was „Gesundheit“ im Spannungsfeld von Individuum, Gesellschaft und Umwelt eigentlich meint. Und es zwingt zur kritischen Reflexion auf die Maßstäbe ihrer Bewertung und provoziert die Frage, ob „Gesundheit“ bloß das „Utopiesurrogat einer götterlosen Welt“ ist, oder das Selbstverständlichste, weil der Mensch doch nichts hat als sein Leben.

In seinem Artikel über den „Gesundheitsimperativ“ stellt Pravu Mazumdar den Paradigmenwechsel dar, der in den 80er und 90er Jahren den Gesundheitsdiskurs von der bloßen Abwehr von Krankheiten zur Verknüpfung mit dem Glück und dem Glückversprechen geführt hat.

Dietrich von Engelhardt gibt in seinem Beitrag einen Überblick über den „Gesundheitsbegriff im Wandel der Geschichte“. Er zeigt, wie unterschiedlich der Wert der Gesundheit interpretiert wurde und Gesundheit wie Krankheit erfahren worden sind.

Ihm folgt eine interdisziplinäre Umfrage des Widerspruch zum Thema „Körper und Gesundheit“, an der sich der Historiker Christian Holtorf, der Sozialpsychologe Heiner Keupp, die Literaturwissenschaftlerin Hannelore Schlaffer, die Philosophen Volker Schürmann und Michael Weingarten sowie der Medizinhistoriker Paul Unschuld beteiligt haben.

Gesundheit als ästhetische Kategorie thematisiert der Artikel von Konrad Lotter. Darin wird die physiologische Ästhetik der Spätphilosophie Friedrich Nietzsches dargestellt und kritisiert, die die Produktion und Rezeption von Kunstwerken gleichermaßen als Körperprozesse und die Schönheit als Stimulierung des Lebens begreift.

Der Beitrag von Matthias Koßler geht der aktuellen Diskussion um das Verhältnis von Leib und Körper nach und stellt in kritischer Absicht einen Zusammenhang zwischen dem herrschenden Körperkult und der darin implizierten Verachtung des Leibes her.

Marc Rölli untersucht das Verhältnis von „Biopolitik und Bioethik“. Er erkennt in der gegenwärtigen Debatte um den Wert des Lebens weniger die moralische Achtung vor dem Leben, als Fragen einer biopolitischen Verfügung und Kontrolle über das ‚Blut als Lebenssaft‘.

Abgeschlossen wird die Thematik durch Rezensionen einschlägiger Bücher zu Körper und Gesundheit.

Als Sonderthema enthält das Heft einen Artikel von Georg Jochum, der zwei Humanismusvarianten in der europäischen Kultur verfolgt: die hierarchische Variante, die von Natur aus bestehende Differenzen zwischen dem Menschsein annimmt, und die egalitäre, die die Gleichheit aller Menschen postuliert.

In unserer Reihe „Münchner Philosophie“ stellt diesmal Rainer E. Zimmermann im Gespräch seinen intellektuellen Werdegang sowie die Kernelemente seines philosophischen Konzepts eines „Transzendentalen Materialismus“ vor.

Das Heft beschließt ein umfangreicher Rezensionsteil von neu erschienenen Büchern.

Die Redaktion