Heft 50: Ideologiekritik
7,50 €
inkl. 7 % MwSt. zzgl. Versandkosten
29. Jahrgang, 2009, 208 Seiten, broschiert
Vorrätig
Zum Thema
Der „Widerspruch“ feiert ein Jubiläum: Es ist das 50. Heft, das nun seit der Gründung der Zeitschrift im Jahre 1981 erscheint. Aus diesem Grund hat sich die Redaktion zu einem Thema entschlossen, das sie und ihre langjährige Arbeit in besonderer Weise charakterisiert: das Thema Ideologiekritik.
Vor 30 Jahren, als die Zeitschrift gegründet wurde, gab es noch keinen Zweifel an der Notwendigkeit und Berechtigung von Ideologiekritik. Es bestand Konsens darüber, dass Ideologie darin besteht, dass jedes Bewusstsein, das aus bürgerlicher Sozialisation entstanden ist und am kapitalistischen „Verblendungszusammenhang“ teilhat, ein falsches Bewusstsein ist. Philosophie, Moral, Recht, Wissenschaft und andere Bewusstseinsformen wurden auf die uneingestandenen Interessen hin durchleuchtet, die ihnen zugrunde liegen und auf die Rechtfertigung und Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse gerichtet sind. Mit der Aufdeckung dieser Interessen sollten die herrschenden Ideen als die Ideen der Herrschenden kenntlich gemacht und diskreditiert werden. Zugleich sollte damit der Weg zu einem neuen und kritischen Bewusstsein gefördert werden, das einem universalistischen Anspruch genügt und das Universelle nicht nur für die eigenen, partikularen Zwecke funktionalisiert.
Heute ist der Begriff der Ideologie fast vollständig aus dem wissenschaftlichen Diskurs verschwunden. Philosophie und Soziologie, Politologie und Psychologie haben ihre eigenen Begriffe ausgebildet; doch gerade die Vielfalt und die Widersprüchlichkeit dessen, was darunter verstanden wird, schreckt viele ab, den Begriff überhaupt noch zu verwenden. Im täglichen Sprachgebrauch hat nur ein polemischer Begriff überlebt, mit dem sich politische Parteien oder philosophische Schulen gegenseitig bezichtigen und eine falsche Einordnung und Bewertung von Fakten vorwerfen. So spricht Wilhelm Vossenkuhl z.B. von der „Ideologie“ der (den Schöpfungsgedanken vernachlässigenden) Gehirnforschung oder Julian Nida-Rümelin von den „Ideologien“ des 68er-Marxismus oder des liberalen Marktradikalismus, die er durch sein Politik-Konzept überwinden will.
In den Wissenschaften gilt das Prinzip des „sine ira et studio“. Jürgen Habermas entwickelte das Ideal des „herrschaftsfreien Diskurses“, aus dem niemand ausgeschlossen sei und in dem allein das bessere Argument zähle, unabhängig von der Autorität oder Machtstellung dessen, der es vorträgt. Gleichzeitig scheint es zur Selbstverständlichkeit geworden zu sein, dass die Wissenschaft von der Finanzierung ihrer Auftraggeber abhängt und also von bestimmten Interessen geleitet ist. In der Politik spricht man vom „postideologischen Zeitalter“, was heißt, dass sich die großen Parteien mit ihren Programmen keinen bestimmten Gesellschaftsklassen mehr zuordnen lassen und den Gegensatz von „rechts“ und „links“ in einer pragmatischen „Realpolitik“ aufheben wollen.
Auf der anderen Seite verbreiten die Massenmedien nicht nur Aufklärung und Informationen, sondern arbeiten in einem bisher nicht gekannten Ausmaß auch daran, ein falsches Bewusstsein zu erzeugen. Sie bestärken Vorurteile, produzieren Illusionen, verfestigen verzerrte Perspektiven, verdinglichen das Bewusstsein und lassen (Lebens-)Lügen durch die Kraft endloser Wiederholungen als Wahrheit erscheinen. In Talkshows werden die „Meinungen“ von Interessenvertretern aus Politik und Verbänden kommuniziert, die das Ideologische ihres partikularen Standpunkts gar nicht verhehlen. In Kommentaren und Analysen wird die gegenwärtige Wirtschaftskrise personalisiert und auf die ungewöhnliche Gier von Managern zurückgeführt, statt sie aus den Mechanismen des gewöhnlichen Kapitalismus zu erklären. In Quizsendungen wird der Traum vom schnellen Reichtum zur Wirklichkeit, in Schlagern, Trivialliteratur und Seifenopern das Leben zur Romanze verkitscht.
Mit dem Thema der Ideologiekritik geht es der Redaktion des „Widerspruch“ um Selbstvergewisserung: Setzt Ideologiekritik eine Perspektive voraus, die die Grenzen des Kapitalismus überschreitet, oder macht es Sinn, auch innerhalb des Kapitalismus von Ideologiekritik zu sprechen? Kann man die Marxsche Form der Ideologiekritik noch mit dem Anspruch der Aufklärung betreiben, oder muss man sie unter den veränderten gesellschaftlichen und politischen Bedingungen selbst der Ideologiekritik unterziehen?
In einer Umfrage hat die Redaktion eine Reihe von Autoren, die in ihren Veröffentlichungen als Ideologiekritiker aufgetreten sind, nach der Rechtfertigung, der Aktualität und den möglichen Korrekturen künftiger Ideologiekritik befragt. Erstaunlich waren die Bereitschaft und Offenheit, mit der auf unsere Fragen geantwortet wurde. Noch erstaunlicher allerdings waren das breite Spektrum und die Vielfalt der Aspekte, die in den Antworten von Dietrich Böhler, Karl-Heinz Brodbeck, Helmut Dahmer, Alex Demirović, Erich Hahn, Gerhard Hauck, Herbert Hörz, Jan Rehmann, Christine Resch und Heinz Steinert, Hans Jörg Sandkühler, Burghart Schmidt, Friedrich Tomberg, Elmar Treptow, Christoph Türcke und Wolfgang Wippermann zutage getreten sind.
In seinem Artikel „Zwei Begriffe der Ideologie und Ideologiekritik“ stellt Konrad Lotter die Übereinstimmungen und Gegensätze von Marx’ und Nietzsches Begriff der Ideologie heraus. Neben dem negativen, kritischen Begriff wird darin ein positiver, affirmativer Begriff aufgezeigt: Ideologie als Orientierung, Sinnstiftung und Lebens-Stimulation.
Von einem Werbespot von „Burger-King“ nimmt der Gemeinschaftsartikel von Tobias Becker, Enrique Martino, Sabine Scheuring, Anne Ware und Anna Weicker über „Kommodifizierte Ironie – Humor im Spannungsfeld von Ideologie und Kritik“ seinen Ausgang. Er behandelt das – scheinbar aufgeklärte – ironische Spiel mit überlebten Clichées, das diese Clichées und die in ihnen enthaltene Ideologie aber doch letztlich affirmiert.
Einen Rückblick auf die Entwicklung des „Widerspruch“ entwirft der Artikel von Alexander v. Pechmann. Er zeigt die wechselnden ideologischen Frontstellungen und Umbrüche des „Widerspruch“ seit seinem Bestehen auf.
Das Thema wird durch eine Reihe einschlägiger Rezensionen fortgeführt und erweitert.
Anlässlich des Bildungsstreiks kommt in der Rubrik „Münchner Philosophie“ ein Teilnehmer zu Wort. Ben Kerste unternimmt es, die Forderung nach „freier Bildung für alle“ aus Sicht eines Studierenden zu begründen.
Das Sonderthema steht dem Thema des Hefts nahe. Zwischen den entgegen gesetzten Polen der Historiografie und der Ideologiekritik entfaltet Samuel Salzborn seine „Überlegungen zur Systematik von Hannah Arendts Antisemitismus-Theorie“.
Rezensionen interessanter Neuerscheinungen schließen das Heft ab.
Die Redaktion