Heft 52: Internet und digitale Gesellschaft

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30. Jahrgang, 2010, 172 Seiten, broschiert

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Mit dem World Wide Web beginnt eine neue Zeitrechnung. Wie der Buchdruck die europäische Aufklärung einläutete, so markiert das Internet den Übergang zur digitalen Weltgesellschaft.

Schnell akzeptiert wurde das neue Medium als Hort kollektiven Wissens und kollektiver Intelligenz, der es dem Einzelnen erlaubt, sich in einer komplexer werdenden Welt Informationen und Orientierung zu verschaffen; als Möglichkeit, den Alltag des Konsumenten durch Einkäufe, Leistungsvergleiche oder Bankgeschäfte zu erleichtern; als Produktivkraft, die Nachrichten überträgt, die Produktion und Zirkulation der Waren beschleunigt und Geldströme lenkt.

Doch das Internet ist mehr. Das Interesse der Philosophie an ihm setzt dort ein, wo seine politischen und ideologischen Konsequenzen und seine Auswirkungen auf die Kultur sichtbar werden: bei der Transformation der Schriftkultur in eine neue multimediale Einheit von Wort, Bild und Ton; bei der tendenziellen Aufhebung des Privateigentums auf dem Terrain wissenschaftlicher und künstlerischer Werke; bei neuen Formen des Kampfs gegen die „Verschwörungen“ autoritärer Herrschaft; bei der Frage, wo die Öffentlichkeit aufhört und die Privatsphäre beginnt; oder bei dem Problem der Identität angesichts von Virtual- und Cross-Identity.

Vor allem aber hat das World Wide Web der Vision einer Weltrepublik mit freier Kommunikation neue Nahrung gegeben, einer demokratischen Öffentlichkeit, bei der alle nationalen und sozialen Schranken fallen werden. Es ist die Vision einer neuen „Ordnung des Diskurses“, die Machtstrukturen bestehender Institutionen zerstört und keine missliebigen Themen, Argumente oder Personen ausschließt. Es ist zugleich die Vision eines „herrschaftsfreien Diskurses“, der nicht mehr von oben nach unten verläuft, sondern Sender und Empfänger in einer Person vereint.

Während die virtuelle Welt des Internet beginnt, die reale Welt des Kapitalismus zu unterminieren, schlägt diese zurück und versucht, die unbotmäßigen Entwicklungen wieder zu kanalisieren und ihren Gesetzen zu unterwerfen. Tim Berner-Lee, der vor genau zwanzig Jahren, im Dezember 1990, die erste Website und den ersten Browser erstellte, sieht seine Schöpfung heute von vier Seiten her bedroht: durch eine Fragmentierung des Netzes, die das freie Verlinken der Seiten über Hypertext unterbindet, so dass seine Universalität verloren geht; durch die Monopolisierung einzelner Fragmente, die sich nur noch über eigene Shop-Programme öffnen lassen, wodurch die Offenheit des Netzes zerstört wird; durch die Privilegierung zahlkräftiger Klienten beim Datenverkehr, die das Prinzip der Gleichheit und Neutralität aushebelt; durch autoritäre Staaten, die das Netz zensieren oder zur Überwachung der Bürger benutzen.

Eine andere Gefahr droht dem Internet durch die schiere Datenmenge. Wenn es, wie geschätzt wird, eines Jahrhunderts bedürfe, um die Daten eines einzigen Tages zur Kenntnis zu nehmen, könnte das Licht der Aufklärung schnell in die Finsternis geistiger Verwirrung und Desorientierung umschlagen und den Weg für religiöse oder politische Despoten freimachen.

Die Diskussion um das Internet eröffnen wir mit dem Beitrag „Das Internet als Medium“ von Alexander von Pechmann, der das Eigentümliche der digitalen Technik untersucht und die rechtlichen, ethischen und epistemischen Konfliktfelder zwischen digitaler und analoger Welt skizziert.

Der Beitrag von Michaela Homolka „Kant und der Cyberspace“ setzt sich mit der Vision eines ‚klinisch reinen‘ Raums der Daten auseinander und geht dem gegensätzlichen Verhältnis von digitalem Datenraum und analogem Lebensraum nach.

Christian Siefkes stellt in seinem Artikel den Begriff der Peer-Produktion sowie die verschiedenen, neu entstandenen Arten nicht-proprietärer Produktionsweisen vor.

In ihrem Beitrag „Zur Lage des Internet-Journalismus“ geht Katja Riefler dem derzeit spannungsreichen Verhältnis zwischen alter und neuer Medienwelt nach.

Petra Sitte, Mitglied der Enquetekommission des Bundestags „Internet und digitale Gesellschaft“, benennt in ihrem Beitrag „Digital ist überall“ die zentralen Probleme einer digitalen Gesellschaft und formuliert aus Sicht der „Linken“ die Aufgaben und Ziele für die Politik.

Rezensionen von Büchern zum Thema schließen den Schwerpunkt dieses Hefts ab.

Die Rubrik „Münchner Philosophie“ ist diesmal mit der Münchner Philosophie als solcher befasst. Das Gespräch mit Hans Otto Seitschek lotet im historischen Rückblick die Traditionen, Entwicklungen und Schwerpunkte der Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität aus.

Das Sonderthema des Hefts ist die Kritik der Vernunft. Wolf-A. Konrad und Diana Raufelder befragen in ihrem Artikel die innere Logik der Vernunft als der zentralen Begründungsinstanz in der Moderne.

Ein umfangreicher Rezensionsteil von ausgewählten Neuerscheinungen schließt das Heft ab.

Die Redaktion