Heft 55: Das revolutionäre Subjekt

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32. Jahrgang, 2012, 150 Seiten, broschiert

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Weltweit regt sich der Protest. Auf dem Tahrirplatz in Kairo und dem Habima Square in Tel Aviv, auf dem Syntagmaplatz in Athen und der Puerta del Sol in Madrid, im Zucotti Park vor der Wall Street in New York wie vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt versammelten sich vergangenes Jahr keine Gruppen oder Parteien, sondern „das Volk“. Während die arabischen Revolutionäre freilich gewalttätige Regime stürzten und die Demokratie einfordern, haben die westlichen Protestbewegungen die Herrschaft des Finanzkapitals im Visier. Mit dem Schlachtruf „Wir sind die 99%“ besetzte

Occupy die großen Plätze vor den globalen Finanzzentren. Nicht ohne Grund musste das New Yorker TIME Magazine die Demonstranten als Symbolfigur und damit die globale Protestbewegung als bedeutendstes Ereignis des vergangenen Jahres anerkennen. Zur gleichen Zeit fanden weltweit Kongresse und Tagungen statt, die die alte Frage nach dem revolutionären Subjekt unter den gegenwärtigen Bedingungen neu diskutierten.

Auf die Frage nach dem revolutionären Subjekt hatten Marx und Engels im 19. Jahrhundert die klassische Antwort gegeben: „Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.“ Die Konstitution des revolutionären Subjekts erschien als ein objektiv notwendiger, durch die gesellschaftliche Produktion selbst erzeugter Prozess.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts trat dann die Frage nach den subjektiven Faktoren des revolutionären Subjekts, das Klassenbewusstsein und der revolutionäre Wille, und damit die Frage nach der revolutionären Partei hinzu. Dabei konnten Rosa Luxemburg („Sozialreform oder Revolution“), W.I. Lenin („Partei neuen Typs“), Georg Lukács („Geschichte und Klassenbewusstsein“) oder Antonio Gramsci (der „organische Intellektuelle“) an Marx und Engels anschließen: „Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.“

In der ersten Hälfte des Jahrhunderts vollzogen sich, unter der Führung kommunistischer Parteien, vor allem in Europa und Asien revolutionäre Umwälzungen, die jedoch in Bürokratien bzw. Diktaturen erstarrten und schließlich großenteils kollabierten. Damit war das Konzept der kommunistischer Partei als revolutionäres Subjekt diskreditiert.

In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts entstanden neue Phänomene und ein neuer Diskurs: Die weltweite Studentenbewegung der 60er Jahre erhob, zumindest kurzzeitig, einen revolutionären Führungsanspruch, der sich auf das „fortgeschrittene Bewusstsein“ gründete. In der Folge entstand eine Vielzahl lokaler und partikularer Protestbewegungen von Bürgern und revolutionären Gruppen, die sich in Auseinandersetzung mit der Globalisierung – locker – zu einem globalen Netzwerk verbanden.

Neue Aktualität hat die Frage nach dem revolutionären Subjekt nun durch den „Arabischen Frühling“ und die Occupy-Bewegung gefunden. Unter den zahlreichen Kongressen, Tagungen und Gesprächsforen, die diese neue geschichtliche Situation diskutierten, waren insbesondere zwei, die auch das Interesse der Philosophen auf sich zogen. Der eine Kongress fand vom 13. bis 15. März 2009 in London, der andere vom 25. bis 27. Juni 2010 in Berlin statt. Ihr Titel lautete: Die Idee des Kommunismus, und ihr Ziel war, die Idee des Kommunismus wieder als einen „positiven Wert“ darzustellen. Unter den Teilnehmern befanden sich Bruno Bosteels, Terry Eagleton, Michael Hardt, Toni Negri, Jacques Rancière, Gianni Vattimo, Cécile Winter, Glyn Daly und Frank Ruda. Organisiert wurden beide Veranstaltungen von den Philosophen Alain Badiou und Slavoj Žižek, die deshalb im Zentrum des vorliegenden Heftes stehen.

Eröffnet wird die Reihe der Beiträge mit Georg Fülberths Überlegungen zum Thema „Transformationssubjekte“. Am Beispiel der europäischen Revolutionen wird darin zwischen indirekten – den tatsächlich kämpfenden – und direkten – den profitierenden – Subjekten unterschieden: eine Unterscheidung, die den Blick auf die geschichtlichen Realitäten richtet.

Von Warlam Schalamows Erzählungen aus dem Gulag und ihrer Interpretation durch Alain Badiou handelt der nächste Beitrag. Jan Völker diskutiert darin die „kommunistische Hypothese“ als Möglichkeit, der geistlosen Welt des „demokratischen Materialismus“ zu entkommen und „politische Subjektivität“ auszubilden.

Als Gegenthese dazu kann die „Kritik des Neopaulinismus“ gelesen werden. Darin wendet sich Philipp Lenhard entschieden gegen Badiou, Agamben und Žižek, die in Paulus, seinem Universalismus und seinem doppelten Kampf gegen den römischen Imperialismus und die Enge des jüdischen Gesetzes das Urbild des revolutionären Subjekts erkennen wollen.

Von der Bedeutung des Subjekts als „autonomer Entscheidungs- und Handlungsinstanz“, die in den Lauf der Geschichte einzugreifen vermag, spricht der französische Philosoph Jean-Luc Nancy im Interview, das der „Widerspruch“ mit ihm geführt hat. Nancy begreift Revolutionen nicht als Verwirklichung, sondern als „Geburt“ neuer Subjekte.

In einer Reihe von Thesen stellt Christopher Knoll schließlich Slavoj Žižek als einen „öffentlichen Intellektuellen“ vor, der seine Denkbewegungen als eine Art von Performance vollzieht. Darin wird das „Ausgeschlossen-Sein vom politischen Agon“ als Voraussetzung (nicht als hinreichender Grund) für die Entstehung revolutionärer Subjekte bezeichnet.

Der Schwerpunkt des Hefts wird durch einen umfangreichen Rezensionsteil von Büchern zum Thema abgeschlossen.

Das Sonderthema, das seiner Länge wegen in diesem Heft mit der Rubrik „Münchner Philosophie“ zusammenfällt, bildet das Gespräch, das der „Widerspruch“ mit Mitgliedern der Münchner Piratenpartei, dem Politikwissenschaftler Jörg Blumtritt und dem Informatiker Roland ‚ValiDOM‘ Jungnickel, über die Vorstellungen und Ziele der Partei geführt hat.

Wie immer schließen Besprechungen von interessanten Neuerscheinungen das Heft ab.

Die Redaktion