Heft 62: Solidarität
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36. Jahrgang, 2016, 206 Seiten, broschiert
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Zum Thema
Zwischen der Erfahrung von Krisen und Appellen zur Solidarität gibt es offensichtlich einen gesetzmäßigen Zusammenhang. Die Appelle werden immer dann laut, wenn die Bindekräfte des sozialen Systems schwinden, die durch sie zugleich gestärkt werden sollen. Und je komplexer und vielfältiger diese Krisen werden, desto unübersichtlicher wird, wer mit wem warum solidarisch zu sein habe, und was Solidarität eigentlich meint. War dieser Begriff jahrelang nur das Symbol, das die Feiern zum 1. Mai garnierte, und das in den Grundsatzkommissionen der Parteien traktiert wurde, kommt heute kaum mehr eine Talkshow ohne Beschwörung der Solidarität aus: mit Europa – gegen Europa, mit den Banken – gegen die Banker, mit den Griechen – gegen die Griechen, mit den Fremden – gegen die Fremden …
Das Heft möchte beitragen, dem Begriff der Solidarität wieder begriffliche Konturen zu geben. Meint Solidarität das Gefühl einer Zusammengehörigkeit, auf das folglich niemand verpflichtet werden kann; ist sie eine Art moralischer Bindekraft, der niemand sich entziehen darf; oder lässt sie sich gar als rechtliche Norm auffassen, die solidarisches Handeln erzwingen kann? Und was ist der Wirkungskreis des Solidarischen? Erstreckt er sich auf den sogenannten „Nahbereich“, auf die Familie, die Gemeinde, die Nation, das Volk – und schließt somit die Anderen von solidarischem Handeln aus? Oder richtet sich das Solidarische auf alle und damit darauf, diese gesetzten Grenzen einzuziehen und zu überwinden?
Das Ringen darum, was unter dem Begriff der Solidarität zu verstehen ist, ist Teil der politischen Auseinandersetzung zwischen widerstreitenden Interessen und um die Gestaltung der Zukunft. Nicht zuletzt die Beiträge dieses Hefts zeigen, dass bei der Klärung dieser Fragen der begrifflichtheoretische nicht vom praktisch-politischen Diskurs zu trennen ist.
Michael Reder unternimmt es in seinem Beitrag, Solidarität als notwendige Ergänzung des liberalen Gerechtigkeitsdiskurses zu betrachten. Gilt Gerechtigkeit als universelle, aber auch abstrakte Norm, hat Solidarität ihren Ort im Partikularen, aber auch Konkreten. Reder konzipiert den Begriff einer globalen Solidarität als die Instanz der Reflexion, die zwischen universeller Geltung und konkreten Handlungsweisen zu vermitteln vermag.
In seinem Beitrag geht Alexander von Pechmann der Entstehung des Solidaritätsbegriffs als revolutionärer Parole der Brüderlichkeit nach und möchte zeigen, dass andere Definitionen des Begriffs als restaurative Umdeutungen zu verstehen sind.
Den Kommunitarismus als Gegenpol des liberalen Gerechtigkeitsdiskurses behandelt der Beitrag von Bernhard Schindlbeck. Er zeigt auf, wie fließend im Solidaritätsverständnis der Kommunitaristen die Übergänge von einem ‚gesunden‘ Patriotismus zum nationalistischen, gar chauvinistischen Denken sind.
Robert Lembke setzt sich kritisch mit der Philosophie Richard Rortys auseinander, in der die Solidarität ein tragendes Element ist. Er zeichnet nach, dass und wie in Rortys Denken der ‚american way of life‘ einerseits als eine besondere Lebensform aufgefasst wird, er jedoch andererseits mit universellen Ansprüchen verbunden ist.
In seinem Beitrag geht Beat Dietschy der Rolle nach, die Solidarität im Denken von Ernst Bloch gespielt hat. Für Bloch, so sein Fazit, war Solidarität zeitlebens, wenn auch auf unterschiedliche Weise, das lebendige Gegengewicht zur Verknöcherung von sozialen und politischen Strukturen.
Stefan Wallaschek beschreibt die unterschiedlichen Solidaritätsdiskurse in und um die Europäische Union und entwirft das Programm einer erweiterten und vertiefenden Solidaritätsforschung im Kontext der Rechts-, Politik- und Sozialwissenschaft sowie der Philosophie. Sein Beitrag schließt ab mit einer umfangreichen Bibliographie zum Thema.
Den Artikeln folgen Besprechungen aktueller Büchern zum Schwerpunktthema des Hefts.
Anlässlich des Erstarkens völkischer Ideologien behandelt das Sonderthema die Entstehung und Rückkopplung von Stereotypen in Zeiten der sozialen Medien. In Anlehnung an Arbeiten der Frankfurter Schule fragt Fabian Schmidt nach den sozialpsychologischen Mechanismen dieses aktuellen Phänomens und bindet sie an die gegenwärtigen sozioökonomischen Verhältnisse neoliberaler Hegemonie zurück.
In der Rubrik „Münchner Philosophie“ stellt Konrad Lotter den Tagesablauf des emeritierten Ordinarius der Philosophie Hermann Krings (1913-2004) aus der Sicht seines Enkel vor, der einen ironisch-liebevollen Blick auf das Leben und Treiben seiner Großeltern wirft.
Rezensionen von Neuerscheinungen beschließen den Band.
Die Redaktion