Heft 65: Karl Marx. 1818 – 2018.
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36. Jahrgang, 2017, 180 Seiten, broschiert
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Im Brüsseler Exil schloss der damals 27-jährige promovierte Philosoph und Zeitungsredakteur Karl Marx seine Kritik an Feuerbach mit der These ab, die zum geflügelten Wort werden sollte und heute die Eingangshalle seiner Ausbildungsstätte, der Humboldt-Universität zu Berlin, ziert:
„Die Philosophen haben die Welt nur interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“[1]
Sie war das Motto, das sein Leben und seine Arbeit prägte. Seine Lebensleistung waren die drei Bände des „Kapitals“, in denen er, wie er schrieb, das „furchtbarste Missile“ erblickte, „das den Bürgern (Grundeigentümer eingeschlossen) noch an den Kopf geschleudert worden ist“ (MEW 31, 541).
Und in der Tat, zu seinem 100. Geburtstag im Jahre 1918 wurde der Marxsche Gedanke Wirklichkeit. Es waren „Tage, die die Welt veränderten“. Die Revolution in Russland erschien als der Beginn der von Marx vorhergesehenen, erhofften wie gefürchteten Weltrevolution. Sie wollte, vom Marxschen Gedanken inspiriert, Schluss machen mit der Jahrtausende alten Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und, nach dem verheerenden Krieg der alten kapitalistischen Mächte, einer leuchtenden Zukunft entgegenschreiten, die die Unterdrückten und Ausgebeuteten der Erde schon immer ersehnt hatten. Am 1. Mai 1918, dem „Tag der Arbeit“ wurde Marx in den europäischen Arbeiterzeitungen als der „Prophet der proletarischen Revolution“ gefeiert; in Moskau weihte Lenin das Marx-Engels-Denkmal mit den Worten ein: „Wir leben in einer glücklichen Zeit, in der sich das, was die großen Sozialisten vorausgesagt haben, zu erfüllen beginnt.“ Anlässlich seines 100. Geburtstags, dem 5. Mai 1918, beschloss das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Russlands, das Marxsche Gesamtwerk in 28 Bänden herauszugeben, und die Intellektuellen der ausgebeuteten Kolonien begannen in dieser Zeit, die Marxsche Lehre zu studieren, wandten sie auf ihre jeweilige Situation an und gründeten die marxistischen Parteien, die maßgebend in den antikolonialistischen Kämpfen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas werden sollten.
50 Jahre später, im Mai 1968, waren es dann die Studenten von Berkeley über Paris und Berlin bis nach Prag und Tokio, die vor allem den ,jungen Marx‘ wiederentdeckten. Mit ihren neuen und subversiven Aktionsformen der Provokation, der „Störung der öffentlichen Ordnung“ und unter dem Banner von Marx, Engels und Lenin wollten sie die bestehenden Verhältnisse umwerfen, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1, 385).
Heute, zu seinem 200. Geburtsjahr, erscheint die Situation völlig verändert. Nicht mehr die Sozialisierung oder die Demokratisierung der Produktionsmittel in den Händen des arbeitenden Volkes erscheint als der Schlüssel, um eine bessere Zukunft zu gestalten; im geraden Gegenteil die Privatisierung und Kommerzialisierung immer weiterer Lebensbereiche wird als das globale Allheilmittel zur Lösung der Probleme angesehen. Und die marxistischen Parteien haben sich Ostasien und Kuba ausgenommen seit 1989 von der Weltbühne verabschiedet und aufgelöst.
So zynisch es erscheinen mag: die „wahren Marxisten“ scheinen heutzutage die zu sein, die Marx‘ Lehre vom Kapital als sich verwertendem Wert am entschiedensten beherzigen: die kleiner werdende Clique der Super-Reichen, die unverhohlen und rücksichtslos seiner Einsicht folgt, dass der Sinn des vorhandenen Reichtums in seiner Vermehrung besteht, und die dadurch allt glich das in die Tat umsetzen, was Marx vom kapitalistischen Produktionsprozess gesagt hat, dass er „zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter“ (MEW 23, 530).
Ihnen stehen die Kritiker des Kapitalismus gegenüber, die, nach einer Phase der Abschiednahme und des Vergessens, heute Marx wieder als Interpreten und Analytiker der globalen Ökonomie entdecken. Da sich viele von ihnen in der fatalen Lage befinden, die Welt nicht verändern zu können, widmen sie sich umso eifriger dem Marxschen Werk, um in und mit ihm die Argumente dafür zu finden, wie jene kapitalistische Praxis angemessen zu interpretieren sei. Zu seinem 200. Geburtstag wird Marx von den Theoretikern und Intellektuellen als Interpret des Kapitals gefeiert; aber nur von den wenigsten als der Weltveränderer, der er doch ausdrücklich hatte sein wollen.
Die gegenwärtige Situation spiegeln auch die Antworten auf die Umfrage unter Philosophen zu Marx wider, die den Hauptteil dieses Hefts ausmachen. Im Vordergrund der Beiträge stehen die erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Methodenfragen des Materialismus und der Dialektik sowie die zentralen Aussagen von Marx über den Menschen, über die Rolle der Arbeit, des Werts und der Natur, deren Relevanz für die Gegenwart aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, pro und contra, behandelt und verhandelt wird. Sie geben dem Leser einen guten Überblick über die Bedeutung von Marx in der gegenwärtigen Theoriebildung. Die praktischen Fragen nach den Zukunftsperspektiven der Menschheit jedoch werden in den meisten Beiträgen zwangsläufig in anderen Kategorien formuliert als seinerzeit von Marx. Mit dem Marxschen Gedanken einer „Diktatur des Proletariats“ etwa kann heutigentags keiner der Autoren etwas anfangen.
So befinden wir uns heute, im Gegensatz zu seinem 100. Geburtstag, in der paradoxen Situation, dass verändernde Praxis und interpretierende Theorie auseinander klaffen, die Marx doch hatte verbinden wollen. Während die globale Praxis sich nach dem Verschwinden des realen Sozialismus so hemmungs- und reflexionslos wie nie dem Prinzip der Geldvermehrung verschrieben hat, verharren Theorie und Reflexion weitgehend praxislos in den Debatten um die rechte Beschreibung, Interpretation und Kritik dieser Praxis.
So bleibt die Hoffnung, dass womöglich zu seinem 250. Geburtstag ein „neuer Marx“ auftaucht, der in seinem Sinne und unter ganz veränderten Bedingungen erneut die theoretische Einsicht mit dem praktisch-politischen Handeln zu verbinden vermag.
Den Beiträgen zu der Umfrage schließt sich das Gespräch mit Stephan Lessenich unter dem Titel „Soziale Ungleichheit. Vom Wohlfahrtsstaat zur Weltgesellschaft“ an. In ihm stellt einer der einflussreichen deutschen Soziologen der Gegenwart seinen intellektuellen Werdegang von Marburg über Bremen und Jena nach München dar, der eng mit verschiedenen Marx-Rezeptionen verbunden war.
Der Umfrage und dem Gespräch schließen sich Rezensionen von Büchern zum Thema an.
In unserer Rubrik Münchner Philosophie zeichnet Alexander von Pechmann, Dozent und Mitbegründer des WIDERSPRUCH, seinen Weg zur Philosophie nach.
Rezensionen von Neuerscheinungen aus dem Bereich der Philosophie und Gesellschaftstheorie beschließen den Band.
Die Redaktion
[1] 11. der Thesen über Feuerbach, zitiert nach: Marx-Engels-Werke (MEW) Band 3, 7, Hervorhebung im Text. Das Zitat in der Humboldt-Universität ist eine spätere, von Friedrich Engels abgewandelte Version.