Ypi – Die Architektonik der Vernunft

Lea Ypi

Die Architektonik der Vernunft. Zweckmäßigkeit und systematische Einheit in Kants „Kritik der reinen Vernunft“

br., 245 Seiten, 22,- €, Berlin 2024 (Suhrkamp-Verlag)

von Bernhard Schindlbeck

„Dieses Buch handelt von der Einheit der Vernunft in der Kritik der reinen Vernunft. Es versucht zu erklären, warum eine solche Einheit notwendig ist, wie Kant die Idee einer solchen Einheit verteidigt und warum das Projekt letztlich scheitert.“ So beginnt Lea Ypi ihre Einleitung, in der schon die Behauptung, dass Kants Projekt scheitere, auf jeden an Kant ernsthaft interessierten Leser wie ein Köder wirken muss. „Das Hauptargument ist“, fährt sie fort, „dass die Einheit der Vernunft in einem transzendentalen Prinzip der Zweckmäßigkeit begründet ist, das unabdingbar für die systematische Integration des theoretischen und praktischen Gebrauchs der Vernunft ist, zugleich aber die für Kants Projekt wesentliche Trennung von Kritik und Metaphysik bedroht.“ (20)

Mit diesem Programm wendet sich Ypi, wie der Buchtitel verrät, dem vorletzten Abschnitt in Kants erster Kritik zu, der „Architektonik der reinen Vernunft“, die Kant in der transzendentalen Methodenlehre nach der „Disziplin“ und dem „Kanon“ und vor der „Geschichte der reinen Vernunft“ platziert. Er sei „einer der dichtesten, rätselhaftesten, ja zuweilen gerade undurchdringlichen Texte in Kants gesamtem veröffentlichten Werk“ (ebd.). Ypis Buch „legt nahe, dass Kants Antwort auf diese Frage an eine bestimmte Darstellung der Vernunft gekoppelt ist, die deren zweckmäßigen Charakter betont. Doch wie die folgenden Seiten zeigen werden, ist das Konzept der Zweckmäßigkeit, das Kant in der ersten Kritik vertritt, ein Konzept der ‚Zweckmäßigkeit als Design‘, das sich von der ‚Zweckmäßigkeit als Normativität‘, das in seinen späteren Werken eine zentrale Rolle spielt, stark unterscheidet. Im ersten Fall, Zweckmäßigkeit als Design, ist die Beziehung zwischen Vernunft und Natur in der Idee Gottes verankert. Im zweiten Fall, Zweckmäßigkeit als Normativität, ist sie im Begriff der reflektierenden Urteilskraft verwurzelt und durch transzendentale Freiheit begründet. Gott bleibt zwar Teil des Systems, spielt aber eine zunehmend marginale Rolle, eine, die nachfolgenden Autoren wie Marx und Hegel den Weg zu einer Geschichtsphilosophie ebnete, die ihn schließlich gänzlich überflüssig werden ließ.“ (22)

Dass das letztere Argument eher schwach ist, erhellt schon daraus, dass die hegelianische und die marxistische Geschichtsteleologie im Grunde selbst nur als dogmatisch fundierte Ersatztheologien fungieren, die ihr jeweiliges Absolutes an ein entweder schon erreichtes oder noch immer erhofftes Ende einer vor-läufigen Zeit setzen. Die Behauptung historischer Notwendigkeiten und „das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte“ (Engels) sind ja auch „nur“ Metaphysik – und, solange sie ihren eigenen dogmatischen Charakter nicht reflektiert, eine schlechte obendrein.

Gott bleibt in allen drei Kritiken (in unterschiedlicher Weise) prominent. In der Postulatenlehre der Kritik der praktischen Vernunft markiert er die (als notwendig zu denkende) Funktionsstelle der Vergabe einer nach Tugend „proportionierten Glückseligkeit“ (AA 124), die ja an Aktualität bis heute nichts verloren hat. Wenn die weltliche Gerechtigkeit nicht gewillt ist, die superreichen Steuerhinterzieher, deren politisches Personal, die Kriegstreiber und Menschenrechtsverletzer aller Art zu bestrafen, wer dann? Außerdem wird Gott durch die reflektierende Urteilskraft keineswegs marginalisiert. Die letzten Paragraphen (87 bis 91) der Kritik der Urteilskraft , die sich an einem moralischen Gottesbeweis abarbeiten, widerlegen Ypis Behauptung von einer „zunehmend marginale[n] Rolle“. Wenn es schließlich im Opus postumum heißt „est Deus in nobis“ (XXII, 130), was manche Kant-Kenner, z.B. Eckart Förster, als Preisgabe des klassischen Theismus lesen, dann bedeutet das, dass man Kants Gottesbegriff möglicherweise ganz neu verstehen muss, statt ihn einfach als obsolet abzutun.

In sieben zwischen der Einleitung und einem Fazit angeordneten Kapiteln werden vor dem Hintergrund einer immensen Kenntnis der Sekundärliteratur und Kant-Exegese, deren größter Teil mit wenigen Ausnahmen (z.B. Henrich, mit seiner längst kanonisch gewordenen Erklärung des Begriffs der „Deduktion“ bei Kant) aus der analytischen Philosophie kommt, Schritt für Schritt die relevanten und problematischen Fragen zur Einheit der Aufgaben, Leistungen, Bedürfnisse, Interessen, Zwecke der Vernunft (sowie der anderen Vermögen wie Verstand und Urteilskraft) entfaltet, wobei in den letzten drei Kapiteln („Die Deduktion der transzendentalen Ideen“, „Die Rolle der Ideen aus praktischer Perspektive“ und „Das Reich der Zwecke“) die in der Einleitung vorgelegten Thesen ihre ausführliche Begründung erhalten. Als einer der wichtigsten Aspekte kristallisieren sich die Darstellungs- und Begründungsunterschiede zwischen der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft heraus. Schon in der Einleitung aber expliziert Ypi genauer, worum es ihr geht: „Mein Argument ist, dass in der Kritik der reinen Vernunft zwar die Einheit der Vernunft durch die zweckmäßige Funktion der Ideen der Vernunft erreicht wird, das Projekt aber gleichwohl letztlich daran scheitert, Kants eigenen kritischen Standards gerecht zu werden. Es scheitert, wie ich zu zeigen hoffe, weil die praktische Vernunft in der ersten Kritik kein eigenes Gebiet für ihre Gesetzgebung und keine notwendige Verbindung zur transzendentalen Freiheit hat: Dies ist etwas, das erstmals in der Grundlegung auftaucht, in der Kritik der praktischen Vernunft weiterentwickelt wird und Kants Analyse der Zweckmäßigkeit in der Kritik der Urteilskraft prägt. Es scheitert auch daran, dass Kant in Ermangelung dieser Verbindung das Prinzip der Zweckmäßigkeit weiterhin mit der Idee des ‚intelligenten Designs‘ statt mit der besonderen praktischen Normativität der Vernunft verbindet.“ (33)

Zweifelhaft ist, ob die Kritik der praktischen Vernunft wirklich eine „Weiterentwicklung“ der Grundlegung ist und nicht eher ein Neuansatz, zumal Kant in letzterer noch eine „Deduktion des kategorischen Imperativs“ versucht, was er in ersterer als unmöglich aufgibt und durch das „Faktum der Vernunft“ ersetzt, welches „an die Stelle dieser vergeblich gesuchten Deduction des moralischen Prinzips“ tritt (KpV, 47).

Am Ende der Einleitung wird weiter erklärt: „Ich schließe das Buch mit der These, dass der Preis, der für die architektonische Einheit der ursprünglich getrennten Systeme von Natur und Freiheit zu zahlen ist, eine transzendentale Theologie ist, die die Vernunft implizit zu metaphysischen Annahmen über die Ordnung der Natur verpflichtet, die ihr kritischer Teil ausdrücklich ausgeschlossen hat.“ (39)

Die These, eine „transzendentale Theologie“ verpflichte die Vernunft zu metaphysischen Annahmen über die Ordnung der Natur, ist schon sehr merkwürdig. Denn Gott (und daneben die Unsterblichkeit der Seele) sind eben nur Postulate und keine Theologie. Hat der „kritische Teil“ die Postulate wirklich „ausgeschlossen“, nur weil er Gottesbeweise als unmöglich erwiesen hat? Auch dass „Kant die Verteidigung der Physikotheologie zurückzog und sie in der Kritik der Urteilskraft in eine ethische Theologie umwandelte“ (39), ist eine seltsam überzogene Behauptung. Von einer „ethischen Theologie“ zu sprechen, ist schon angesichts der Tatsache, dass Kant in seiner Religionsschrift die Religion für die philosophische Ethik als bloß unterstützende pädagogische Hilfskraft in den Dienst nimmt, eine starke Verzerrung. Der Kant schon so oft gemachte Vorwurf einer Re-Theologisierung ist also auch hier verfehlt.

Die Annahme, dass Natur und Freiheit ursprünglich getrennte Systeme seien, ist nicht minder falsch, denn in uns Menschen selbst, die wir gleichzeitig Natur- und Freiheitswesen sind, sind sie a priori integriert. Wir können nur sinnvoll handeln, weil die Natur eine durchgehend kausal determinierte ist; wir müssen uns auf die Naturgesetzlichkeit verlassen können, um überhaupt Zwecke setzen und realisieren zu können. Und dennoch sind wir frei, können (qua Orientierung am kategorischen Imperativ) autonom handeln. Natur und Freiheit sind also keine „getrennten Systeme“, für deren architektonische Einheit ein Preis zu zahlen wäre.

Die Bedeutung der systematischen Einheit der Vernunft und damit der transzendentalen Ideen in der Vermittlung von Natur und Freiheit ist so unbestritten wie die Rolle der Zweckmäßigkeit als transzendentales Prinzip. In der Kritik der Urteilskraft, so Ypi, sei der Begriff der Zweckmäßigkeit anders als in der Kritik der reinen Vernunft „ein Begriff der Zweckmäßigkeit als Normativität“ (149). Diese sei in „Analogie zu unserem praktischen Vernunftgebrauch“ zu sehen: „Objekte in diesem Sinne als zweckmäßig zu beurteilen, ist gleichbedeutend damit, zu fragen, wie diese Objekte wären, wenn sie eine bestimmte Anzahl normativer Eigenschaften aufwiesen – oder zu fragen, wie ein Objekt sein sollte, wenn praktisch vernünftige Menschen für seine Planung zuständig wären“ (150). Zweckmäßigkeit in diesem Sinne habe nichts mit der in der Kritik der reinen Vernunft verwendeten „Zweckmäßigkeit als Design“ zu tun. Diese betrachte die „Ordnung der Natur und die Ordnung der Zwecke“ als „in einem zweckmäßigen System verbunden, das die Begriffe der Natur und der Freiheit in Bezug auf die Idee Gottes integriert“ (214). In Ypis Interpretation ist Gott der „Designer“, der in der Kritik der reinen Vernunft (im Unterschied zu den folgenden Kritiken) für den Begriff der Zweckmäßigkeit sorgt und verantwortlich ist – und der dafür nicht auf praktische Vernunft und Freiheit zurückgreifen muss. Zweckmäßigkeit als essentiell-integrales Element in der Architektonik (Einheit und Systematik) der Vernunft komme in der ersten Kritik also nicht ohne Gott aus, und darin sieht Ypi einen metaphysischen Rückfall hinter deren eigentlichen kritischen Anspruch, d.h. das Scheitern Kants. Jedoch ist die Unterscheidung zweier Zweckmäßigkeitsbegriffe künstlich; Kant muss sie nicht machen, denn die Antwort auf die Frage, wie ein Objekt wäre (oder sein sollte), wenn praktisch vernünftige Menschen für seine Planung zuständig wären, kann nur so ausfallen: Es wäre exakt so, wie es auch ein göttlicher Designer planen würde („est Deus in nobis“).

Dass der Preis für die architektonische Einheit ein Rückfall in eine transzendentale Theologie sei, die metaphysische Annahmen über die Natur beinhalte, die der kritische Teil dezidiert ausschließe, ist Ypis zentrale These, die auch erkläre, „warum die transzendentale Freiheit zum Hauptthema der Kritik der praktischen Vernunft wurde“, und warum Kant die Verteidigung der Physikotheologie in eine „ethische Theologie“ in der Urteilskraft „umwandelte“ (39). Abgesehen davon, dass von „ethischer Theologie“, wie gesagt, keine Rede sein kann, widerspricht zum Beispiel eine Passage in dem der „Architektonik“ vorhergehenden „Kanon der reinen Vernunft“, in der reine Vernunft, Moralität und zweckmäßige Einheit der Natur miteinander verbunden werden, dieser Darstellung deutlich: „Was können wir für einen Gebrauch von unserem Verstande machen, selbst in Ansehung der Erfahrung, wenn wir uns nicht Zwecke vorsetzen? Die höchsten Zwecke aber sind die der Moralität, und diese kann uns nur reine Vernunft zu erkennen geben. Mit diesen nun versehen, und an dem Leitfaden derselben, können wir von der Kenntnis der Natur selbst keinen zweckmäßigen Gebrauch in Ansehung der Erkenntnis machen, wo die Natur nicht selbst zweckmäßige Einheit hingelegt hat; denn ohne diese hätten wir sogar selbst keine Vernunft … Jene zweckmäßige Einheit ist aber notwendig und in dem Wesen der Willkür selbst gegründet, diese also, welche die Bedingung der Anwendung derselben in concreto enthält, muß es auch sein, und so würde die transzendentale Steigerung unserer Vernunfterkenntnis nicht die Ursache, sondern bloß die Wirkung von der praktischen Zweckmäßigkeit sein, die uns die reine Vernunft auferlegt“ (B 844 f.). Ein göttlicher Designer ist hier offensichtlich nicht erforderlich. Menschliche Praxis allein präsupponiert die zweckmäßige Einheit der Natur, ohne welche aussichtsreiche Zwecksetzungen gar nicht möglich wären.

Wenn man Zweckmäßigkeit in „normativer“ Perspektive betrachtet, genügt es also nicht zu fragen, „wie diese Objekte wären, wenn sie eine bestimmte Anzahl normativer Eigenschaften aufwiesen – oder zu fragen, wie ein Objekt sein sollte, wenn praktisch vernünftige Menschen für seine Planung zuständig wären.“ Man muss dann konsequenterweise auch danach fragen, wie die Verhältnisse und Zusammenhänge aller Objekte aussähen, wenn praktisch vernünftige – und d.h. nicht nur hypothetischen Imperativen (Klugheitsregeln) folgende, sondern sittlich handeln wollende – Menschen für die Planung dieser Zusammenhänge zuständig wären. Womit sich sofort (abermals im Konjunktiv) die Frage auftut, ob es dann überhaupt einen Unterschied zwischen der von einem göttlichen Designer entworfenen und der von praktischer Vernunft entworfenen Zweckmäßigkeit gäbe. Ein Grund für einen solchen Unterschied ist nicht sichtbar. Damit wird auch deutlich, dass –

anders als Ypi suggeriert – die praktische Vernunft gar kein „eigenes Gebiet für ihre Gesetzgebung“ (33) braucht.

Es fällt auf, dass das Sittengesetz (der kategorische Imperativ) in Ypis Buch kaum eine Rolle spielt, was möglicherweise mit ihrem eigenen, im empiristisch-naturalistischen Denken der analytischen Philosophie wurzelnden Verständnis von Freiheit (freedom of agency, Handlungsfreiheit) und einem daraus resultierenden gewissen Unverständnis für den kantischen Begriff zu tun hat. Im „Praktische und transzendentale Freiheit“ überschriebenen Abschnitt des 6. Kapitels schreibt sie: „Kant scheint davon auszugehen, dass die menschliche Vernunft nur durch die Freiheit zum Bestimmungsgrund für praktisches Handeln werden kann. Aber welche Art von Freiheit? Wie verhält sich die Freiheit zum zweckmäßigen Charakter der Vernunft?“ (185) Ganz nebenbei: Ernst Cassirer würde sagen, dass hier „zweckmäßig“ mit „zweckhaft“ verwechselt wird.

Dass es verschiedene Arten von Freiheit (die praktische und die transzendentale) gebe, ist in Kants Kritiken gar nicht möglich. In der ersten wird Freiheit als nicht widerlegbare Möglichkeit in einer durchgängig kausal determinierten Natur aufgewiesen, wobei „auf diese transzendentale Idee der Freiheit sich der praktische Begriff derselben“ gründet. (B 561) In der zweiten Kritik wird mit dem kategorischen Imperativ der praktische Begriff der Freiheit (Willensfreiheit) als Autonomie dargestellt und entfaltet. Nur wenn man Willensfreiheit gegen empirisch verstandene, d.h. bedingte Handlungsfreiheit setzt, gibt es Arten von Freiheit. Kant aber kennt nur eine Art von Freiheit, die sich als (eben unbedingte) Autonomie erweist. Heteronomie ist eben nicht Freiheit. „Die Freiheit im praktischen Verstande ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“ (B 562). – Eine Kant-Kritik könnte, wenn man von Arten der Freiheit spricht, am ehesten am Freiheitsbegriff der Metaphysik der Sitten ansetzen, wo Kant zu einem Begriff der Willkürfreiheit übergeht und diesen (man muss sagen: zweifelhafterweise) für in der Ethik begründet hält. Er nähert sich in seiner Rechts- und Tugendlehre also einem liberalistischen Freiheitsbegriff an, der eben nichts mit Sittlichkeit als Autonomie zu tun hat. Aber diese mögliche immanente Kant-Kritik kommt bei Ypi nicht vor. Sie trägt in ihrer Interpretation ihren eigenen liberalistischen Freiheitsbegriff in Kants Denken hinein und findet dann Probleme, die es in Kants kritischem Werk gar nicht gibt.

Es stimmt also nicht, wenn sie behauptet: „Kant ist es wichtig, zwischen der Realität praktischer und transzendentaler Freiheit zu unterscheiden, denn ohne diese Unterscheidung müsste er erklären, wie eine übersinnliche Ursache (die nur prinzipiell möglich oder als nichtwidersprüchlich anerkannt wird) empirische Phänomene begründen kann. Dies wird in der ersten Kritik jedoch ausdrücklich ausgeschlossen“ (185). Es geht bei Kant nicht um „übersinnliche“ Ursachen, wenn er in der dritten Antinomie von „Kausalität aus Freiheit“ spricht. Autonomie (Willensfreiheit) muss keine empirischen Phänomene „begründen“. Hier wird einmal mehr Ypis empiristischer Approach deutlich, mit dem man Kausalität aus Freiheit (die dann als „übersinnlich“ diskreditiert wird) und Autonomie natürlich nicht verstehen kann.

Auch eine andere exemplarische Stelle (aus dem zweiten Abschnitt des Kanons) zeigt, wie man mit dem empiristisch-analytischen Zugang zu einer Fehlinterpretation gelangt. Ypi schreibt: „Kant scheint unter moralischer Erfahrung ‚Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gemäß in der Geschichte des Menschen anzutreffen sein könnten‘ zu verstehen. Die menschliche Geschichte ist die Dimension der Erfahrung, in der die praktischen Ideen gesetzgebend sind: ‚Da sie gebietet, daß solche geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können.‘ Wie trägt dieses Verständnis von Erfahrung zur Vollendung der kritischen Aufgabe bei?“ (183)

Dass die Geschichte als Dimension der Erfahrung gebiete, was geschehen soll, ist eher eine hegelianisch-marxistisch inspirierte Interpretation, die durch eine Verkürzung der zitierten Passage zustande kommt, die als ganze gelesen ein völlig anderes Argument liefert: „Die reine Vernunft enthält also, zwar nicht in ihrem spekulativen, aber doch in einem gewissen praktischen, nämlich dem moralischen Gebrauche, Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung, nämlich solcher Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gemäß in der Geschichte des Menschen anzutreffen sein könnten. Denn da sie gebietet, daß solche geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können, und es muß also eine besondere Art von systematischer Einheit, nämlich die moralische möglich sein, …“ (B 835). Das Pronomen „sie“ (in „da sie gebietet“) bezieht sich also, anders als Ypi interpretiert, auf „die reine Vernunft“ und nicht auf die „Geschichte“.

Noch deutlicher zeigt sich Ypis empiristischer Zugang zu Kants Kritiken, wenn sie über das „Reich der Zwecke“ schreibt: „Moralische Zwecke werden in einer Welt gesetzt, die sowohl von moralischen Normen als auch von Naturgesetzen beherrscht wird. Das Mitglied des Reichs der Zwecke ist daher faktisch kein Souverän: Der Erfolg seines moralischen Handelns hängt nicht nur davon ab, was es tut, sondern auch von den Handlungen anderer Menschen, von den empirischen Kontingenzen und Beschränkungen, auf die es stößt. Daher ist es prinzipiell denkbar, dass die Welt mit dem moralischen Gebrauch der Vernunft nicht vereinbar ist oder ihn gar behindert“ (202 f.). Abgesehen davon, dass nur Handlungen als solche Erfolg haben, aber der Erfolg der Moralität einer Handlung empirisch gar nicht erkennbar wäre, geht Behauptung, dass die empirische Realität moralischem Handeln im Weg stehen kann, ins Leere. Denn nur weil die Realität so ist, wie sie ist, genau deshalb sind wir moralisch gefordert. Aber sie steht deshalb der Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und Zivilcourage nicht im Weg. Moralisch handeln heißt eben oft: sich gegen die Realität stellen.

Ganz ähnlich führt die empiristische Kant-Interpretation in die Irre, wo es um das Verhältnis „der Ordnung der Natur und der Ordnung der Zwecke“ geht, um die „Verbindung zwischen systematischer moralischer Einheit und der systematischen Einheit der Natur.“ Denn, so Ypi: „Ohne die systematische Integration des Reichs der Natur und des Reichs der Zwecke zu erklären, können wir auch nicht erklären, wie moralische Normen für Menschen bindend sein können, deren moralische Motive stets mit nichtmoralischen vermischt sind“ (201 f.). Dergleichen ist nur für empiristische Moralphilosophen ein Problem, nicht für Kant. Dass wir aus Neigungen (Präferenzen, Interessen etc.) handeln, die in das Reich der Natur gehören, ist klar. Aber ebenso klar ist, dass wir nicht die Sklaven unserer Neigungen sein müssen, sondern uns (aus moralischen Motiven) über sie hinwegsetzen können. Einer „systematischen Integration“ beider Reiche bedarf es nicht, um Normativität und deren Verbindlichkeit zu erklären. Wie oben erwähnt, sind Natur und Freiheit immer schon ineinander verschränkt.

Vermutlich steckt hinter Ypis Problemkonstruktion noch immer das sich seit Schiller bis heute durchziehende Missverständnis von der angeblichen Lustfeindlichkeit Kants und seiner Verachtung von Neigungen, das auf der falsch verstandenen Feststellung beruht, dass letztere als bloße (subjektiv kontingente) Gegebenheiten keinen moralischen Wert haben. Daran, dass wir auch Neigungen (eine Triebstruktur) haben, ist für Kant nichts falsch. Man muss sie nur richtig einordnen.

Wenn Kant die Differenz von Sinnlichkeit (Natur) und Sittlichkeit (Freiheit) betont, dann dramatisiert Ypi diese Differenz unnötig, um auch die Integration beider in der ersten Kritik als ein Drama, als scheiternd und als erst in der Kritik der Urteilskraft gelungen darstellen zu können. Aber allein unser Handeln, das auf Zwecksetzungen beruht, zeigt schon, dass Zwecke nur in einem integralen Verständnis von äußerer (erkannter und verstandener) Natur und menschlicher vernunftorientierter Praxis möglich sind. Fragt man nach dem sittlich fundierten Freiheitsanteil an dieser Praxis, dann kommt (mit der dritten Antinomie) der Zusammenhang der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft in den Blick. Unbestritten ist, dass in der ersten Kritik im Abschnitt über die Antinomien „Kausalität aus Freiheit“ nur als Möglichkeit, genauer: als nicht unmöglich – und noch nicht, wie in der zweiten Kritik, als „Wechselbegriff“ zum transzendentalen Prinzip der Sittlichkeit – erarbeitet wird. Somit bleibt der Freiheitsbegriff noch unentfaltet; er muss hier auch noch nicht elaboriert werden, sodass die praktische Vernunft in der ersten Kritik verständlicherweise „kein eigenes Gebiet für ihre Gesetzgebung“ hat. Sie braucht hier keines. Sie braucht überhaupt kein „eigenes Gebiet“, da sie immer und überall zugange ist.

Daraus ein Scheitern des Anspruchs der Vernunft zu konstruieren geht nur, wenn man das kritische Werk Kants nicht als fortgeschriebene und sich weiterentwickelnde Gesamtheit liest, sondern die Kritiken so einander gegenüberstellt, dass man in deren jeweiligen einzelnen Aspekten Unterschiede und Widersprüche entdeckt, die man dann gegeneinander ausspielen kann, wie etwa praktische Vernunft und transzendentale Freiheit.

Eine ganz andere Kant-Lektüre bietet (nur als ein Beispiel von vielen) etwa Axel Hutters Das Interesse der Vernunft (2003), dessen Untertitel Kants ursprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken schon andeutet, dass es um eine „Gesamtdeutung der Kantischen Vernunftkritik“ (Hutter, 23) geht und die Kritiken als ein einheitliches Werk zu verstehen sind.

Wenn Ypi den Vorwurf der Re-Theologisierung erneut erhebt, um an in ihr das Scheitern des kritischen Anspruchs festzumachen, dann müssten sich doch weitere Fragen anschließen, deren wichtigste wäre: Weshalb versucht Kant überhaupt in einem explizit kritischen Projekt traditionelle Metaphysikbestände wie Gott, Zweckmäßigkeit der Natur und Unsterblichkeit der Seele zu retten? Eine Antwort findet man beim späten Horkheimer. „Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel“, schreibt er in seinem Aufsatz Theismus – Atheismus (1963). Wobei zu ergänzen ist, dass Sinn ohne Unbedingtheit keiner wäre; ein „relativer“ Sinn ist bestenfalls nur eine Kette von kontingent gesetzten Zwecken und deren Verweisen aufeinander. Auf der Ebene bloß empirischen Wissens lässt sich kein Sinn erkennen, auffinden oder konstituieren. Die sog. exakten Wissenschaften sind nicht in der Lage, eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Existenz (sei es des individuellen Lebens oder, in holistischer Absicht, der Welt) zu generieren. Und sie machen die Frage nach einem letzten Grund nicht obsolet. Wiederholt weist Hutter darauf hin, dass es Kant um „das Unbedingte (um das es doch eigentlich zu tun ist)“ geht (KrV B 593), um die „Vernunft, die das Unbedingte fordert.“ (B 592) Nicht anders in der Kritik der Urteilskraft: „Die Vernunft ist ein Vermögen der Prinzipien, und geht in ihrer äußersten Forderung auf das Unbedingte, da hingegen der Verstand ihr immer nur unter einer gewissen Bedingung, die gegeben werden muß, zu Diensten steht.“ (B 339) Bei aller Gelehrtheit fasst Ypi, wenn sie vom „kritischen Projekt“ Kants spricht, den Ausdruck „Metaphysikkritik“ viel zu weit und nimmt den Titel von Kants erklärender Didaktik zur Kritik der reinen Vernunft nicht ernst und wörtlich genug, nämlich: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783). Dass Metaphysik und Wissenschaft einander ausschließen und unvereinbar sind, gilt heutzutage, da man sich zumeist einem vermeintlichen „nachmetaphysischen Denken“ (Habermas) verpflichtet weiß, als ausgemachte Sache, aber man übersieht dabei bereitwillig die ursprünglich dogmatischen, d.h. axiomatischen Voraussetzungen in jeder Wissenschaft.

„Kants Kritik“, schreibt Axel Hutter, „gilt also nur einer bestimmten Auffassung von Metaphysik, nämlich der, die die das ‚Unbedingte‘ in eine unvermittelte Opposition zur Erfahrung rückt. Eine solche Kritik ist in der Tat ein wichtiges Mittel, um ‚das Verfahren der bisherigen Metaphysik umzuändern‘. Der ‚wesentliche Zweck‘ der Transzendentalphilosophie ist demnach ein kritisch veränderter Metaphysikbegriff, nicht aber ein ‚Ersetzen‘ der Metaphysik durchexakte Wissenschaft“ (Hutter, 22). Ypis für ihre Interpretation vorausgesetzte Annahme einer „für Kants Projekt wesentliche(n) Trennung von Kritik und Metaphysik“ (20) ist also ein Missverständnis.

Ohne Unbedingtheit ist auch die von Ypi nur beiläufig behandelte Idee des „höchsten Gutes“ nicht verstehbar, die die Forderung enthält, „diejenige Realität, die nicht ist, aber sein soll, realisierte Sittlichkeit und eine dieser entsprechend gestaltete Welt“ zu verwirklichen. (So umschreibt es Wilhelm Jacobs 2014 in seinem Fichte-Buch.) Es ist egal, mit welchen Bezeichnungen man diese sein-sollende und zu verwirklichende Welt versieht (z.B. Sozialismus, Kommunismus oder nur gerechte Gesellschaft); ohne das Verständnis für „unbedingten Sinn“ kommt man ihr nicht näher. Dass so eine Gesellschaftsform der Rechtsphilosophie Kants von 1798 eklatant widerspricht, ist klar. Das liegt jedoch daran, dass letztere den Fehler enthält, dass sie selbst nicht mit Kants Ethik vereinbar ist, da Kant, wie oben erwähnt, in ihr Willkürfreiheit, die „tatsächlich gar keine Freiheit ist“ (Andrea Esser, Anti-imperiale Strukturen der Sittlichkeit), zugrunde legt und nicht, wie in der Kritik der praktischen Vernunft oder der Grundlegung, Freiheit als Autonomie. Was ein Großteil der Kant-Exegeten nicht (so wenig wie Kant selber) sehen will, ist also, dass Kant in den kritischen Schriften und in der Rechtsphilosophie zwei unterschiedliche Freiheitsbegriffe verwendet: zuerst Autonomie, später den liberalistischen Freiheitsbegriff, die beide unvereinbar sind. Freiheit ist ein Begriff, der die Unbedingtheit der Autonomie im ethischen Sinn meint. Der Liberalismus kennt keine Unbedingtheit.

Liest man Gott also sinnvollerweise als (personifizierte) Chiffre für Unbedingtheit, die verhindert, dass Vernunft materialistisch-instrumentell halbiert wird und dadurch zu einer beliebigen (machtorientierten) Zweckrationalität verkommt, die nichts mit Kants in der Vernunft angelegten „Zweckmäßigkeit“ zu tun hat, dann zeigt sich woran und weshalb Lea Ypi in ihrer Auseinandersetzung mit Kant scheitert. Als empiristisch orientierte Philosophin weiß sie mit Unbedingtheit, Absolutheit, Autonomie wenig anzufangen, denn all das gibt es im Empirismus nicht. (Adorno hat in seinen „Meditationen zur Metaphysik“ im letzten Abschnitt seiner Negativen Dialektik immerhin das absolut Falsche als solches benannt.)

In Ypis Kant-Rezeption ist – so ähnlich wie die „höchste Intelligenz“ – auch das „höchste Gut“ in erster Linie ein Beleg für die Re-Theologisierung und nicht ein ethisch unbedingt Gesolltes (ein Auftrag an die Menschheit), das man gerne „Sozialismus“ nennen darf (oder welche Bezeichnung man immer für eine „gerechte und gelungene Gesellschaft“ finden will). Auch in ihren Berliner Benjamin-Lectures vom Juni 2024 (mit dem Titel „What is moral socialism?“) legte sie charakteristischerweise nicht Kants Autonomie-Begriff, sondern die empiristisch verstandene Handlungsfreiheit des politischen Liberalismus (freedom of agency) zugrunde, mit der man Kant nicht gerecht werden kann. Damit wird verständlich und nachvollziehbar, warum sie trotz aller analytischen Subtilitäten und Differenzierungen in ihrem Architektonik-Buch letztlich immer an Kant vorbei argumentiert. Nicht Kant scheitert in seiner Kritik der reinen Vernunft mit seiner Systematisierung der Vernunft zu einer Einheit, sondern eher Lea Ypi mit ihrem Versuch, Kant ein solches Scheitern nachzuweisen.

Parrique – Wachstum bremsen oder untergehen

Timothée Parrique

Wachstum bremsen oder untergehen. Wie wir mit Degrowth die Welt retten

aus dem Französischen von Andrea Hemminger

geb., 367 Seiten, 28.- €, Frankfurt/Main 2024 (S. Fischer-Verlag)

von Fritz Reheis

Der alte Deutsche Bundestag hat in seiner letzten Woche die wundersame Geldvermehrung beschlossen, ehe der neue beschließen wird, wofür das Geld genau gebraucht wird. Angesichts der Tatsache, dass ein Großteil des Geldes in die Aufrüstung gehen wird (angeblich unausweichlich angesichts einer „dramatisch verschärften“ Bedrohungslage), braucht es heute besonderen Mut, den seit Langem stattfindenden Selbstbetrug der weit fortgeschrittenen Moderne zu stoppen. Das Buch „Wachstum bremsen oder untergehen“ will Anstoß und zugleich Ratgeber auf diesem Weg sein. Der in Frankreich geborene Autor, Timothée Parrique, der als Ökonom an der School of Economics and Management der Universität Lund in Schweden arbeitet, gilt als einer der wichtigsten Kritiker des Wachstumsprinzips.

Der kompromisslose Titel und die Einleitung mit der Überschrift „Ökonomie, eine Frage von Leben und Tod“ wird durch die folgende Bestandsaufnahme voll gerechtfertigt. Der ökologische Kollaps ist für Parrique keine Krise, sondern eine „Misshandlung“ der Erde; die soziale Spaltung ist für ihn „globale Apartheid“; und statt vom Anthropozän spricht er vom „Kapitalozän, Ökonozän und BIPozän“ (11 f.). Degrowth, so Parrique, ist keine unfreiwillige Dauerrezession, sondern „eine demokratisch geplante Reduzierung der Produktion und des Konsums zur Verringerung des ökologischen Fußabdrucks im Geiste sozialer Gerechtigkeit und in der Sorge um Wohlstand“ (17). Zur Vollständigkeit der Definition gehört für ihn die Angabe der unteren Grenze dieser Reduzierung: Sie könne enden, wenn eine „statische Wirtschaft im Einklang mit der Natur“ erreicht ist, „in der Entscheidungen gemeinsam getroffen werden und der Reichtum gerecht verteilt wird, um ohne Wachstum prosperieren zu können.“ Diesen Zielzustand nennt der Autor „Postwachstum“ (ebd.). Das Buch will sich einer dreifachen Herausforderung stellen: Verstehen, warum die Wachstumswirtschaft eine Sackgasse ist, skizzieren, wie Postwachstum aussehen könnte, und einen Weg vorschlagen, der dorthin führen könnte (ebd.).

Im 1. Kapitel geht es um die Irreführung durch das BIP, im 2. um die Unmöglichkeit der Entkopplung, im 3. um den Gegensatz von Markt und Gesellschaft. Im 4. Kapitel werden falsche Versprechungen der Wachstumsbefürworter entzaubert (etwa zu Armut, Beschäftigung und Lebensqualität). Das 5. Kapitel erzählt die Geschichte des Degrowth. Im 6. Kapitel wird der Weg des Übergangs skizziert. Das 7. Kapitel beschreibt Postwachstum als gesellschaftliches Projekt. Im 8. Kapitel schließlich werden die wichtigsten Kontroversen abgehandelt, die um das Thema Wachstumsbegrenzung und Postwachstumsgesellschaft entstanden sind. Darin ist das Verhältnis von Wachstumsökonomie und Kapitalismus besonders interessant. Für Parrique ist zwar klar, dass die Überwindung des Wachstumszwangs mit dem Ausstieg aus dem Kapitalismus einhergehen muss. Jedoch müssten „ökomarxistische Kritiker des Degrowth“ einräumen, „dass Wachstum nicht nur die Frucht des Kapitalismus ist, sondern auch das Produkt einer Metaphysik der Grenzenlosigkeit, die den Imperialismus, Kolonialismus, Extraktivismus, Produktivismus, Konsumismus, Materialismus, Transhumanismus etc. überzieht.“ Daraus folgt für Parrique: „Eine echte anthropologische Metamorphose, die weitaus radikaler ist als der bloße Antikapitalismus, ist unverzichtbar.“ (303)

An dieser Stelle könnte man einwenden, dass die genannte „Metaphysik der Grenzenlosigkeit“ selbst als Konsequenz kapitalistischer Vergesellschaftung begriffen werden kann, wie seit Marx vielfach dargelegt wurde. Und der Rezensent vermisst auch einen systematischen Blick auf die Temporalität, die mit dem im Titel verwendeten Begriff des „Bremsens“ und der Forderung nach „Einklang“ mit der Natur implizit angedeutet ist. Eine genauere Marx-Lektüre hätte hier wichtige Einsichten zum Verhältnis von Wert, Geld, Kapital einerseits, Zeit, Mensch und Charaktermaske andererseits ermöglicht. Dennoch kann das Buch für Einsteiger in die Postwachstums- bzw. Degrowth-Diskussion uneingeschränkt empfohlen werden – wegen seiner argumentativen Stringenz, seiner thematischen Vielfalt, seiner didaktischen Durchdachtheit und seiner sprachlichen Eleganz.

Stanley – Wie Faschismus funktioniert

Jason Stanley

Wie Faschismus funktioniert

kart., 216 Seiten, 22,- €, 2024 (Westend-Verlag)

von Bruno Heidlberger

Eine neue geopolitische Ära hat begonnen. Revisionistische Mächte zielen auf die Zerstörung der liberalen Weltordnung. Ihre Feinde haben die Initiative zurückerobert. Der reichste Mann der Welt, Elon Musk, hat sich zum „Chief-Verstärker des globalen Autoritarismus“ gemacht und Donald Trump geholfen die Präsidentschaftswahl 2024 zu gewinnen. „Der Autoritarismus setzt die Methoden der organisierten Kriminalität und des Rowdytums ein, um die Ordnung in der Partei aufrechtzuerhalten und sicherzustellen, dass die Autorität des Führers unangefochten bleibt“, erklärt die US-amerikanische Historikerin Ruth Ben-Ghiat.

„Ich kenne einige Leute, die Trump gewählt haben, Verwandte, Bekannte, Freunde – keine Ultrarechten, eher normale Leute. Viele von ihnen sind warmherzige Menschen, ohne viel politischen Durchblick, eher apolitisch“, sagt der US-Literaturwissenschaftler und Schriftsteller George Saunders. Für fast die Hälfte dieser ‚normalen’ Leute ist „offene Wertschätzung Hitlers akzeptabel“, berichtet die Washington Post.

Wie ist so etwas möglich? Warum wählen „normale, warmherzige Menschen“ diesen Präsidenten? „Was gestern noch arg verstörend war, wird durch stete Wiederholung irgendwann als normal empfunden“, beschreibt die Philosophin Petra Bahr den allmählichen Prozess der Normalisierung. Wiederholungen sind ein mächtiges Stilmittel nationalistischer Propaganda. Im Zeitalter von Social Media ist Propaganda vergleichbar mit der Invasion in Millionen von Gehirnen mit dem Ziel, Faktizität zu vernichten, Krisen zu produzieren, Emotionen zu manipulieren und Ungleichheit zu zementieren. Musk ist der erste globale Oligarch und der einflussreichste Agitator auf X. Er verbreitet Fake-News, antimigrantische Verschwörungstheorien, manipuliert Ängste und setzt Aggressionen frei, ist mit dem einflussreichen neofaschistischen Blogger und Vordenker Curtis Yarvin befreundet und interagiert mit dem britischen Rechtsextremisten Tommy Robinson auf X. Er hat sich „geschworen, den Wokeness-Virus zu zerstören“. Alt-Right beherrscht jetzt die sozialen Medien.

„Droht uns eine Wiederkehr des Faschismus? Befinden sich die liberalen Demokratien heute auf dem Weg in eine neue autoritäre Gesellschaftsform?“ Um diese Frage geht es in dem 2018 erschienen Buch How Fascism Works, das jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt. Jason Stanley, 1969 in Syracuse (New York) geboren, ist ein amerikanischer Philosoph, der bis vor kurzem an der Yale University in New Haven, Connecticut lehrte und schon lange vor dieser „Normalisierung“ warnt. In Wie Faschismus funktioniert analysiert er die Entstehung faschistischer Ideologien mit Bezug auf die USA, Indien und Europa. In einem Interview im polnischen Nachrichtenmagazin Polityka setzte er sich 2022 mit den Mechanismen der Entstehung und Verbreitung faschistischer Ideologien in Mittel- und Osteuropa und den Strategien der polnischen PiS-Partei auseinander.

Stanley kündigte jetzt an, die USA aufgrund des derzeitigen politischen Klimas zu verlassen. „Ich habe Angst, dass mich die Regierung ins Visier nimmt“. Stanley möchte seine schwarzen und schwarz-jüdischen Kinder schützen. Er sieht Angriffe auf DEI und die „Schwarze Geschichte“ als Angriffe auf schwarze Menschen und sagt: „Ich möchte, dass meine Kinder in Freiheit aufwachsen.“ Er folgt damit dem Ehepaar Timothy Snyder und Marci Shore, die beide in Yale Geschichte unterrichten nach Kanada, um an der ‚Munk School of Global Affairs and Public Policy’, zu arbeiten. Trotz seines Umzugs, so Stanley, werde „für die amerikanische Demokratie kämpfen, wo immer ich bin.“

Stanleys Forschung ist biographisch motiviert. Seine Mutter, Sara Stanley, und sein Vater, Manfred Stanley, kamen als Flüchtlinge in die USA. Sie hatten die Schrecken des Antisemitismus in West- und Osteuropa erlebt. Sein Vater ist in Berlin aufgewachsen. Sie waren Deutsche. Am Ende verlor seine Familie alles. „Mein Großvater, Magnus Davidsohn, war Oberkantor an der Synagoge in der Fasanenstraße; mein Vater sah das Haus abbrennen. In der Reichspogromnacht wurde mein Vater brutal zusammengeschlagen, in Folge dessen quälten ihn sein Leben lang epileptische Anfälle“, berichtet Stanley. „Meine Mutter stammt aus Ostpolen und überlebte in einem sibirischen Arbeitslager, bevor sie 1945 nach Warschau zurückgeschickt wurde, wo sie und ihre Eltern die Brutalität des polnischen Nachkriegsantisemitismus erfuhren.“

Faschismus ist für Stanley eine ständige Versuchung. Er sei nicht für Hitler und Mussolini reserviert. Wovor Stanley warnt, ist nicht die Wiederkehr des historischen Faschismus, aber vor „faschistischen Taktiken“. Das Buch handelt von den gemeinsamen Merkmalen faschistischer Bewegungen und Taktiken, von sich wiederholenden Mustern, Weichenstellungen, Tendenzen von Normalisierungen im öffentlichen Raum. Stanley geht es darum, dass wir diesen Sog frühzeitig erkennen – uns dem Sog seiner Normalisierung widersetzen. Normalisierung heißt für ihn, das Unsagbare sagbar, das Undenkbare denkbar zu machen. Die Abstimmung am 29.01.25 im deutschen Bundestag war womöglich so ein Tag der Normalisierung. Ein Tag, wo in autoritärer Anmaßung das Grundgesetz und die Menschenrechte nichts mehr gelten. „Mir ist es völlig gleichgültig, wer diesen Weg politisch mitgeht. Ich gehe keinen anderen“. Migration und Kriminalität bei Flüchtlingen sind die Lieblingsthemen einiger Medien und von Konservativen bis nach rechts außen. Damit zielt man direkt auf Affekte und Ressentiments der Wähler und kann Wahlen gewinnen. Was die Neue Rechte nie geschafft hat, das haben CDUCSU und FDP geschafft, die Spaltung der bürgerlichen Mitte. Die Probleme scheinen jetzt erst richtig anzufangen.

Im aktualisierten Vorwort, noch vor der erneuten Wahl Donald Trumps zum Präsidenten, meint Stanley, seine „Lehren von damals“ hätten heute „eine Dringlichkeit erreicht“, die er „selbst nicht vorhersehen konnte“. Die liberale Demokratie sei „selbst in ihren ehemaligen Bollwerken auf dem Rückzug – seit Mitte des 20. Jahrhunderts“ sei „sie nicht mehr dermaßen gefährdet.“ „Hinter dieser transnationalen, ultranationalistischen Bewegung“, so Stanley, stünden „die Kräfte des Kapitals“. Technologieriesen profitierten ebenso wie die Medien von dem dramatischen Aufeinandertreffen von „Freund und Feind“. Zudem freuten „sich Ölkonzerne, wenn ultranationalistische Bewegungen Klimaschutzvereinbarungen wie das Pariser Abkommen als Bedrohung der staatlichen Souveränität“ darstellten. „Je schwächer einzelne Länder und internationale Verträge werden, desto größer wächst die Macht multinationaler Unternehmen.“ Stanleys These lautet, dass der Faschismus „keine neue Bedrohung darstellt, sondern vielmehr eine ständige Versuchung ist“.

Wenn Stanley von „Faschismus“ spricht, meint er den „Ultranationalismus jeglicher Couleur (ethnisch, religiös, kulturell), … wobei die Nation durch einen autoritären Anführer vertreten wird, der in ihrem Namen spricht.“ „Faschistische Politik“ müsse auch „nicht zwangsläufig zu einem explizit faschistischen Staat führen“; gleichwohl sei sie „gefährlich“. Sie umfasse „eine Vielzahl unterschiedlicher Strategien: die mythische Vergangenheit, Propaganda, Anti-Intellektualismus, Unwirklichkeit, Hierarchie, Opferrollen, Recht und Ordnung, sexuelle Ängste, Appelle an das Vaterland und den Abbau von Gemeinwohl und Einheit.“ Einzelne Elemente auf dieser Liste seien „legitim und manchmal gerechtfertigt“; wenn sie aber in einer Partei oder politischen Bewegung zusammenkämen, seien sie gefährlich, vor allem dann, wenn sie Teile der Bevölkerung entmenschlichen. „Das berechnendste Symptom faschistischer Politik“ sei „die Spaltung“. Kommunisten setzten auf die „Klassenunterschiede, Faschisten auf ethnische oder religiöse Differenzen“. Letztendlich schaffe faschistische Politik mit Hilfe von Geschichtsrevisionismus, mythischer Erzählungen, Propaganda und Anti-Intellektualismus „einen Zustand der Unwirklichkeit, worin Verschwörungstheorien und Fake-News eine vernünftige Debatte“ ersetzten. Im weiteren Verlauf des Textes analysiert Stanley ausführlich diese faschistischen Strategien in Bezugnahme auf ihre Ausprägung in den Vereinigten Staaten, insbesondere vor und während Donald Trumps erster Präsidentschaft.

Epilog

Jason Stanley ist überzeugt, nur wenn wir faschistische Politik erkennen, können wir ihren schädlichen Auswirkungen entgegentreten und zu unseren demokratischen Idealen zurückfinden. Mit seiner Studie will uns Stanley auf die „Gefahr einer Normalisierung des faschistischen Mythos“ hinweisen. Sozialwissenschaftliche Forschungen zeigten, „dass Einschätzungen zur Normalität“ …]„von dem beeinflusst werden, was die Menschen für statistisch unauffällig halten“. Dabei spielen das soziale Umfeld und die Medien eine große Rolle. Der Yale-Philosoph Joshua Knobe und sein Psychologie-Kollege Adam lieferten „eine Erklärung für ein Phänomen, das diejenigen, die den Übergang von der Demokratie zum Faschismus miterlebt haben, regelmäßig aus eigener Erfahrung und mit großer Besorgnis betonen: die Tendenz von Bevölkerungen, das vormals Undenkbare zu normalisieren“. Dies sei auch, so Stanley, „ein zentrales Thema der 1957 erschienenen Memoiren meiner Großmutter Ilse Stanley, Die Unvergessenen.“„Sie blieb bis zum letztmöglichen Moment, im Juli 1939, in Berlin, um im Untergrund weiterarbeiten zu können. Von 1936 bis zur Reichskristallnacht wagte sie sich, als Nazi-Sozialarbeiterin verkleidet, in das Konzentrationslager Sachsenhausen und rettete dort, einen nach dem anderen, Hunderte von Juden (412 Menschen, d. Verf.) vor dem Tod. In ihrem Buch schildert sie das Missverhältnis zwischen den extremen Zuständen, die sie im Konzentrationslager erlebte, einerseits und der Leugnung des Ernstes der Lage und ihrer Normalisierung durch die jüdische Gemeinde in Berlin andererseits. Sie bemühte sich, ihre Nachbarn von der Wahrheit zu überzeugen“.

Stanley macht zum Schluss seiner Studie deutlich, wie weit die Normalisierung bereits vorangeschritten ist. Derzeit erlebten wir, „wie Regierungen weltweit die brutale Behandlung von Flüchtlingen und Arbeitern ohne Papiere zur gängigen Praxis erklären. … Mit der Normalisierung“ werde „das moralisch Außergewöhnliche in das Gewöhnliche verwandelt“. Diese kognitive Verzerrung wirkt höchst politisch. Was gestern noch verstörend war, wird durch immer wieder kehrende Wiederholung als normal empfunden. So würden Migranten „als Quelle von Terrorismus und Gefahr gezeichnet, statt Empathie zu erzeugen.“ Dass selbst die Hilfsbedürftigsten noch als „fundamentale Bedrohung“ dargestellt werden können, zeuge von der „irreführenden Macht des faschistischen Mythos.“ Stanley betont, dass wir trotz unserer Fehler und unterschiedlichen Perspektiven die Fähigkeit zur Empathie und zur Zusammenarbeit besitzen. Sein Buch ist ein Plädoyer für Menschlichkeit und Solidarität, das uns daran erinnert, dass wir nicht in den Extremismus und die Intoleranz verfallen, sondern uns bemühen sollten, Brücken zueinander zu bauen – „aber wir sind keine Teufel.“

Fazit

„Das, was die Trump-Regierung gerade macht, ist Faschismus“, erklärt Stanley. Die politische Entwicklung, insbesondere in den USA, hat Stanleys Befürchtungen bestätigt. Die von ihm untersuchten gemeinsamen Merkmale faschistischer Bewegungen und Strategien faschistischer Politik treffen auf das heutige Amerika weitgehend zu. Laut einer Umfrage von ABC News und Ipos vom Oktober 2024 betrachteten 49% der amerikanischen registrierten Wähler Trump als „Faschisten“, definiert in der Umfrage als „einen politischen Extremisten, der versucht, als Diktator zu agieren, individuelle Rechte missachtet und Gewalt gegen ihre Gegner bedroht oder Gewalt anwendet“. Die Trump-Regierung, die beschuldigt wird, Einwanderer entgegen gerichtlicher Anordnungen abzuschieben, könne nicht mehr, so Stanley, nur als „populistisch“ betrachtet werden. Zudem werde die freie Meinungsäußerung eingeschränkt, indem Universitäten und Bundesbehörden, die die ‚DIE’-Politik (Diversität, Gleichheit und Inklusion) unterstützen, die Finanzierung entzogen wird. Trump setze Antisemitismus ein, um die Hochschulen finanziell und politisch unter Druck zu setzen. Die Columbia University hat sich gefügt und ihre Fakultät für Nahoststudien praktisch unter Zwangsverwaltung gestellt, andere Universitäten haben sich weggeduckt.

„Das Unfassbare geschieht, und wenn wir zunächst nicht reagieren, wird das Unfassbare fassbar und dann normal“ (Saunders). Tatsächlich erscheinen die Reaktionen in den USA auf die Trumpschen Verfassungsbrüche bislang seltsam gedämpft. In der Psychologie gibt es dafür einen Begriff: ‚normalcy bias’, ‚Normalitätsverzerrung’, genauer ‚Drang zur Normalität’. Er beschreibt die Tendenz, angesichts einer Katastrophe deren Ausmaß zu unterschätzen und davon auszugehen, dass die Dinge wie gehabt weiterlaufen.

Auch in Deutschland findet seit Jahren eine Normalisierung rechtsextremen Gedankengutes statt. Dies zeigen die Leipziger Autoritarismus-Studien und die Mitte-Studie. Das gesellschaftliche Tabu, rechtsextreme Parteien zu wählen, ihre Narrative und Begriffe zu übernehmen oder in Talkshows einzuladen, wie es noch bei der NPD galt, ist längst weggefallen. Inzwischen ist es gängige Praxis, dass die Springer-Presse sowie konservative und rechte Medien gegen ‚Cancel culture’, ‚Wokisten’ und ‚Sozialtourismus’ wettern. Seit den Wahlen 2021übernehmen auch CSU und CDU im Rahmen ihres Kulturkampfes die aus Amerika importieren rechtextremistischen Narrative, die sie vor allem gegen die Grünen wenden. Einen Tag, nachdem die AfD eine Landratswahl in Sonneberg gewonnen hatte, erklärte Friedrich Merz die Grünen zum „Hauptgegner“. Am 29.01.24 bediente sich Merz einer faktenfreien Notstandsrhetorik: „Er wollte mit seinem Vorstoß in der Migrationspolitik ‚all in’ gehen“, wie er sagt. Was folgte, war ein gefährliches Pokerspiel mit der parlamentarischen Demokratie. Die AfD feierte das Ergebnis als historisch: jetzt und hier beginne eine neue Epoche. Ihr Parlamentsgeschäftsführer Bernd Baumann sagte, die Abstimmung sei „wahrlich ein historischer Moment“. Wie andere westliche Länder erlebe nun auch Deutschland „das Ende der rot-grünen Dominanz“ – und zwar „für immer“. Wer Rhetorik und Politik der AfD kopiert, zerstört die Demokratie. Zerbricht die CDU wie zuvor schon andere konservative Parteien in Europa, ist die AfD an der Macht. Unreflektierte Verbreitung rechtsextremistischer Begriffe und Narrative führt zur Normalisierung des Rechtsextremismus. Die AfD wird immer größer und immer radikaler. Im neuen Bundestag sitzt sie als zweitstärkste Fraktion mit 152 Abgeordneten, darunter bekennende Neonazis. Wo die AfD große Wahlerfolge feiert, bekennen sich Menschen öffentlich dazu, die Partei zu unterstützen. Zum anderen wirkt die globale Normalisierung von faschistischen oder rechtsextremen Ideen, insbesondere die erneute Präsidentschaft Trumps, auf Deutschland zurück. Die extreme Rechte fühlt sich in ihren Positionen bestätigt.

Jason Stanley warnt uns vor dem Prozess der Normalisierung faschistischer Taktiken, Dynamiken und Muster, dem ‚Es-wird-schon-nicht-so-schlimm werden’ oder ‚Es-war-schon-immer-so’-Modus. Statt sich selbst zu beruhigen, sollte man gegen die Normalisierung ankämpfen – sei es nur, um die eigene Resilienz zu stärken und den Wissens- und Erwartungshorizont zu erweitern. Der Verführungskraft des ‚Normalen’ können wir vor allem durch Wissen begegnen, auch durch die Verteidigung von demokratischen Werten und öffentlichen Protest. Durch den Mut zum Widerspruch. Die deutsche Geschichte lehrt uns: der Wähler hat nicht immer recht. Deshalb wird er von unserem Grundgesetz eingehegt. Über der Mehrheitsregel stehen die Menschenrechte und Art. 1 des Grundgesetzes.

Politik und Journalisten behandeln Bürger oft wie Kinder und nehmen ihnen die Verantwortung; auch aus der Angst, nicht gewählt zu werden. Wie nachsichtige Eltern behandeln wir AfD-Wähler mit unserem ‚Verständnis’, statt ihnen die Stirn zu bieten. Die Wahrheit ist zumutbar. Jeder hat für die Folgen seines Tuns Verantwortung zu tragen. Wir sollten mehr Verantwortung vom Wähler erwarten und den Aufstieg der Autoritären nicht allein auf das Versagen der Politik der demokratischen Parteien zurückführen.

Jason Stanley’s Wie Faschismus funktioniert bietet uns die Möglichkeit, moderne faschistische Tendenzen frühzeitig zu erkennen und ihrer Versuchung zu widerstehen. Dabei gehe es nicht darum, „ob der Begriff perfekt passt. Vielmehr hilft er uns, die Strategien dieser Bewegung zu verstehen.“ Wie Faschismus funktioniert ist das Buch der Stunde.

Govrin – Universalismus von unten

Jule Govrin

Universalismus von unten. Eine Theorie radikaler Gleichheit

br., 498 Seiten, 28,- €, Berlin 2025 (Suhrkamp-Verlag)

von Fritz Reheis

Der Begriff „Gleichheit“ wird üblicherweise entweder mehr „formal“ oder mehr „material“ verstanden. Formal verweist dabei auf den Bezug zu einer formalen Ordnung wie etwa einem System von Verträgen, einem formal gedachten Markt oder Staat. Material hingegen bezieht sich auf Substanzielles, also faktische Eigenheiten von Objekten oder Subjekten, wobei in der Kritischen Theorie in aller Regel soziale Aspekte wie die Verfügung über Ressourcen, vor allem Eigentum und Macht, im Zentrum stehen.

In „Universalismus von unten“ wird materiale Gleichheit nun auf eine andere Weise konkretisiert: Sie wird auf den menschlichen Körper bezogen, also gewissermaßen eine Stufe tiefer als in den üblichen Diskussionen zur materialen Gleichheit. Am Körper ist es seine Verwundbarkeit, aus der heraus Jule Govrin ihre Überlegungen zu Gleichheit und Ungleichheit entwickelt. Govrin ist Philosophin, hat derzeit eine Gastprofessur an der Universität Hildesheim und bekennt sich zu einem feministischen Ansatz in Philosophie und politischer Theorie. In „Universalismus von unten“ will sie hauptsächlich an Judith Butlers Körper-, Rancières Ungleichheits- und Bourdieus Habitusbegriff anknüpfen, um durch ein „lose verflochtenes Gewebe der Denkstränge“ zu einer „Theorie radikalrelationaler Gleichheit“ zu gelangen (378). Präsentiert wird allerdings streckenweise ein fast unübersehbares Geflecht, aus dem heraus Govrin immer wieder eigene theoretische Gedanken und empirische Belege aufblitzen lässt.

Die These des Buches lautet: Körper sind dadurch definiert, dass sie von Anfang an existenziell wechselseitig voneinander abhängig und insofern verwundbar sind. Ausgehend von Körpern muss Ungleichheit deshalb als ungleiche Verwundbarkeit verstanden werden, und zwar als eine Verwundbarkeit, die sozial gezielt hergestellt wird. Zum Beispiel sind es Schulden- und Austeritätspolitiken, die als Formen differentieller Ausbeutung begriffen werden müssen und Menschen ungleich machen. Auf der Suche nach einem Weg zur Gleichheit setzt Govrin nicht auf den Staat, klammert ihn aber auch nicht aus. Sie plädiert für körperliche Gleichheitspraktiken, die sie in Formen gelebter Sorgearbeit und gelebter Solidarität findet. Die „Herausforderung für solidarische Praktiken“ liege darin, „Bewusstsein über asymmetrische Beziehungen zu schaffen und den Blick für Ungleichheit zu schärfen“ (388). Gelebte Sorge und Solidarität, traditionellerweise Grundanliegen der christlichen und kommunistischen Moral, finde sich heute etwa in Streik-, Schuldnerbewegungen, in Initiativen gegen Zwangsräumungen oder für eine „Sorgende Stadt“ – die alle ganz wesentlich von Frauen getragen würden. Dort werde körperlich erfahren, wie es sich anfühlt, aufeinander zu achten, die unterschiedlichen individuellen Lebenssituationen zu berücksichtigen und sich dennoch die gleiche soziale Betroffenheit bewusst zu machen, für deren Überwindung man sich zusammengefunden hat. Versammlungen seien die konkreten Orte, „wo Worte nicht vom Körper getrennt werden können“, „wo die eigene Stimme zu erheben bedeutet, zu gestikulieren, zu atmen, zu schwitzen und zu spüren, dass die Worte gleiten und in den Körpern anderer aufgefangen werden“ (Verónica Gago; 400). Körperlich gelebte Gleichheit ermögliche die „Gegendressur“ (Bourdieu), aus der heraus ein „Universalismus von unten“ begründet werden könne.

Das Buch fasziniert durch seinen Ansatz beim Körper und seiner Verwundbarkeit. Es ist klar gegliedert in I. Körper, II. Ökonomie und III. Gleichheit. Aber die Lektüre der nahezu 500 Seiten lässt den Rezensenten angesichts der Quantität der Anknüpfungspunkte an andere Autoren bisweilen nicht nur den Überblick verlieren. Nicht immer wird klar, was nun eigentlich von der Autorin selbst stammt, und was in diesem Buch nur neu kombiniert wird. Eine etwas systematischere Herangehensweise, etwa an der Unterscheidung zwischen deskriptiven, analytischen und präskriptiven Aussagen zu Gleichheit/Ungleichheit orientiert, hätte die Überzeugungskraft der sozialphilosophischen Argumentation erhöht. Dennoch ist das Buch, wie in der „Süddeutschen Zeitung“ treffend formuliert, ein wirksames „Gegengift“ zum „libertären Autoritarismus“, der derzeit weltweit Konjunktur hat und mit dem Bild der „Kettensäge“ den Bezug zur körperlichen Dimension von Ausbeutung bestens veranschaulicht.

Saar – Was ist Sozialphilosophie?

Martin Saar

Was ist Sozialphilosophie?

br., 175 Seiten, 22,- €, Berlin 2025 (Suhrkamp-Verlag)

von Alexander von Pechmann

Was ist Sozialphilosophie? Eine berechtigte Frage. Denn zu ihr sind derzeit viele Antworten in Umlauf. Sie reichen von einer „Ethik der sozialen Normen“, die ihren Anfang schon in der griechischen Philosophie hatte, über eine „Metaphysik der Sitten“, wie sie exemplarisch von Kant ausgearbeitet wurde, bis hin zu dem, was man mit Ferdinand Tönnies und Max Weber als „Allgemeine Soziologie“ bezeichnen kann. Für Kritiker wie den gefürchteten Positivisten Ernst Topitsch hingegen bewegt Sozialphilosophie sich zwischen Ideologie und Wissenschaft, deren Grundsätze daher nur „Leerformeln“ enthalten.

Unabhängig vom Streit darüber, was Sozialphilosophie ist und was sie kann, erscheint es jedoch sinnvoll, wenn Martin Saar sie in historischer Sicht da beginnen lässt, als die dann so genannte „Gesellschaft“ sich in der frühen Neuzeit von dem vormals religiös-politischen Ordnungsrahmen zu emanzipieren begann und die Frage nach der Verfasstheit der Gesellschaft zu einem theoretischen wie praktischen Problem wurde. Sie provozierte seit Thomas Hobbes unterschiedliche Modelle eines „Gesellschaftsvertrags“.

Interessant aber wird Sozialphilosophie dann, wenn sie nicht nur über die Gesellschaft nachdenkt und ihre Modelle entwickelt, sondern wenn sie ihr Nachdenken selbst als Teil oder Moment der gesellschaftlichen Praxis begreift. Dieser Vorgang der Selbstreflexion setzte mit Hegel und dann explizit mit Marx ein, der der Philosophie nicht nur eine theoretische und interpretierende, sondern eine verändernde und praktische Rolle zuwies.

In dieser Tradition versteht Martin Saar „Sozialphilosophie“ nicht als eine Sparte innerhalb der akademischen Philosophie, die sich dem „Gedöns“ der sozialen Fragen annimmt, sondern als Reflexion darauf, dass die Fragen und Antworten der Philosophie nicht abseits im vermeintlichen „Elfenbeinturm“ gestellt und gegeben werden, sondern dass sie je schon, wie es so schön heißt, „gesellschaftlich vermittelt“ sind.

Saars Buch ist kein Lehrbuch, das schulmäßig abhandelt, was Sozialphilosophie ist und wozu sie gut und nützlich wäre. Es zeichnet vielmehr das weitgefächerte und facettenreiche Panorama dessen, was und wie gegenwärtig von Philosophen und glücklicherweise zunehmend auch von Philosophinnen und nicht-westlichen Philosoph:innen über die Gesellschaft in systematischer Absicht gedacht wird, und wie sich darin zugleich die gesellschaftlichen Konflikte widerspiegeln. Zusammengehalten wird dieses Panorama durch „zentrale Stichworte und Bausteine einer Sozialphilosophie“ (20), die in insgesamt sieben Kapiteln als Einzelbeiträgen verhandelt werden, die sich öfters überschneiden, aber sinnvoll ergänzen.

Das Buch beginnt naheliegenderweise mit der „Kunst, Abstand zu nehmen“. Denn wenn das Nachdenken über Gesellschaft, wie gesagt, je schon „gesellschaftlich vermittelt“ ist, dann besteht der Verdacht, dass dadurch das Bestehende eh nur bestätigt und affirmiert wird. Wie also lässt sich auf dieser Grundlage dennoch eine kritische Distanz zur Gesellschaft gewinnen?

Die entscheidende Technik der Abstandnahme sieht Saar in der Historisierung. Als klassischen Fall solcher Historisierung nennt er Rousseaus Discours über die Ungleichheit der Menschen, der erzählt, wie es zur Herrschaft von Menschen über Menschen gekommen ist. Solche Erzählungen relativieren und kontextualisieren die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse; sie schaffen dadurch einen „Abstand zu geltenden Werten und Einstellungen“ (25) und machen so Alternativen denkbar. Sie verweisen zugleich aber auch auf das Kritik-, Konflikt- und Veränderungspotential in der Gesellschaft und sind oft Symptome und Artikulationen ihrer Krise.

Die Instanz der Abstandnahme ist für Saar nicht die Gesellschaft, sondern „das Selbst“. Er nennt dieses „Selbst“ den Adressaten einer Sozialkritik, der aufgefordert wird, sich aus seinen Verstrickungen in die geltenden Werte und Normen zu lösen. Mir scheint jedoch, dass Saar über diese Adressierung hinaus grundsätzlich annehmen muss, dass ein solches „Selbst“ nicht allein durch die gesellschaftlichen Verhältnisse geprägt ist, sondern dass es in sich auch das Element des „Eigensinns“ und einer Autonomie enthält als Bedingung der Möglichkeit, sich überhaupt aus diesen sozialen Zwängen zu lösen. Auf diesen Doppelcharakter von sozialer Hetero- und individueller Autonomie wird Saar im Weiteren noch ausführlich eingehen.

Der daran anschließende Beitrag wendet sich der Macht und der Machtkritik als zentralen Bausteinen einer kritischen Sozialphilosophie zu. Denn das skizzierte Spannungsverhältnis von „Individuum und sozialer Ordnung (hat) einen eindeutigen Namen: „Macht“ (37). Allerdings habe der Begriff der Macht ein „Doppelgesicht“, das eine lange philosophische Tradition habe, und dem Saar im Folgenden nachgeht. Einmal wird Macht mit „Herrschaft“ identifiziert. Hier korrespondiert der Verfügung über Macht auf der einen Seite die Ohnmacht auf der anderen Seite. Träger der Macht können im sozialphilosophischen Rahmen Individuen oder Personen sein, wie etwa in Max Webers bekannter Definition; sie wird heute jedoch vor allem anonymen gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen zugeschrieben, die Macht über die dadurch Unterworfenen ausüben. Dieses Machtverständnis ordnet Saar der von Hegel, Marx und der Kritischen Theorie geprägten Tradition zu, die bis zu Habermas und Honneth reicht. Hier geht die Kritik der Macht darauf aus, die in den sozialen Beziehungen und Praktiken wirksamen Herrschaftsverhältnisse aufzudecken, um sie letztlich zugunsten dessen aufzulösen, was man als „Assoziation von Freien und Gleichen“ bezeichnet hat. In dieser Tradition wird also „die Macht als Abwesenheit von Freiheit gedacht“ (48) – und, umgekehrt, die Freiheit als Abwesenheit von Macht.

Das andere Verständnis lässt Saar mit Aristoteles und Spinoza beginnen. Die Macht wird hier nicht negativ als Verhinderungsgrund, sondern positiv als Ermöglichungsbedingung und Konstitutionsprinzip sozialen Handelns gedacht. In dieser Perspektive formiert die Macht, als dynamis oder potentia, den „Konstitutionsraum von interpersonalen Verhältnissen, sie ist das Medium des Sozialen“ (44). „Macht“, schreibt etwa Hannah Arendt, „besitzt eigentlich niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammenhandeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen“ (43).

Dieses „Doppelgesicht“ der Macht stellt freilich eine sich kritisch verstehende Sozialphilosophie „vor ein folgenreiches Problem“ (45). Denn wenn man der Linie von Spinoza bis Arendt folgt, so lässt sich die Macht nicht kritisieren, da sie ja als konstitutiv für einen zwanglosen Zusammenschluss von Menschen gilt. Hier gilt letztlich die Demokratie oder Republik als diejenige politische Ordnung, die den menschlichen Handlungsfähigkeiten am angemessensten ist. Saar wird darauf später zurückkommen. Zum anderen ist nach diesem Verständnis die Macht ubiquitär; es kennt keinen machtfreien sozialen Raum, kein „absolutes Außen der Macht“ (51). Was daher der Machtkritik bleibt, ist eine sorgfältige und detaillierte Beschreibung und Analyse der komplexen Machtstrukturen, wie sie vor allem Foucault vorgenommen hat. Hier ist es die Macht, die einerseits die gesellschaftlichen Diskurse prägt, formt und normiert, die andererseits jedoch damit zugleich die Subjekte zur Handlungsfähigkeit ermächtigt. Damit aber werde das, so formuliert Saar das Problem, was die Kritik der Macht evoziert, zu dem, was diese Kritik erst ermöglicht. „Was die Kritik nötig gemacht hat, hat sie zugleich erst möglich gemacht“ (53).

Eine solche Sozialphilosophie, so verstehe ich Saar, vermag zwar all die Machtverhältnisse in den sozialen Beziehungen und deren Verschiebungen gut beschreiben und erhellen, sie kann jedoch keine Alternative jenseits der Macht formulieren. Für sie ist Kritik letztlich die Kunst des erforderlichen Unterscheidens und Differenzierens, aber nicht des notwendigen Hinterfragens und Problematisierens.

Nach dem methodischen Problem der Abstandnahme und dem inhaltlichen Problem der Macht als Medium des Sozialen formuliert Saar im dritten Beitrag eine Systematik des Gesellschaftlichen. Er unterscheidet drei Ebenen: Ordnung – Praxis – Subjekt. Fragt man, was Gesellschaft ist, so wäre das erste, dass sie – im Unterschied zur bloßen Menge – eine „Form von Ordnung, ein Geordnetsein (ist), das sich aus der Vergesellschaftung ergibt.“ (57).

Auf der zweiten Ebene, der Praxis, wird diese Vergesellschaftung thematisch. Die Ordnung fußt auf sozialen Prozessen, auf Praktiken der Kommunikation und Kooperation, der Konfliktaustragung etc., die ihrerseits sozial sind. In diesem Sinne von Gesellschaft zu reden, heißt, über all die Formen und Widersprüchlichkeiten des „doing society“ (59) zu reden.

Auf der dritten (und kleinsten) Ebene schließlich fragt man nach den Agenten. Diese sind zwar die kleinsten Einheiten des Sozialen, aber sie sind – im sozialphilosophischen Rahmen – „nicht dessen Fundament; sie sind Selbst, aber vergesellschaftete Selbst“ (60). Ohne dieses „Selbst“ wäre Sozialphilosophie bloß Systemtheorie. Wie dieses „vergesellschaftete Selbst“ näher zu verstehen ist, thematisiert Saar im Weiteren da, wo es um Kritik und Widerstand gehen wird.

Diese drei Ebenen des Sozialen sind, in Übernahme des Vorigen, zugleich Felder der Macht. Hier nimmt die Ordnung die Form der Herrschaft an, in dem sie die Handlungsmöglichkeiten und -fähigkeiten der Subjekte systematisch strukturiert und eindeutig verteilt. Sie bildet den institutionellen Rahmen, innerhalb dessen sich die Gesellschaft bewegt. Auf der Ebene der Praxis drückt die Macht sich in Form der „Normalisierung“ aus, wie Saar dies mit Bezug auf Foucaults Diskursanalysen nennt. Und auf der untersten Ebene tritt sie im Vorgang der „Subjektivierung“ auf; hier ist, wie schon oben verhandelt, das Subjektwerden und die Entwicklung der Handlungsfähigkeiten auf Engste verzahnt mit der Unterordnung und Anpassung an die geltenden Normen.

Die sozialphilosophische Analyse dieser vorhandenen Machtstrukturen des Sozialen fragt nun nicht nur nach den Kosten und Opfern, die diese Formen der Vergesellschaftung erzeugen, sondern richtet den Blick zugleich auch auf die Potentiale einer Gegen-Macht, „man könnte auch sagen: von Momenten der Selbstbestimmung“ (66). Auf der Ebene der Ordnung formiert sich diese Gegen-Macht im Kampf um eine (radikale) Demokratie, die von der Fähigkeit „zur kollektiven Selbstverfassung“ lebt. Vielleicht, so Saar, sei dies „die fundamentale Prämisse noch der düstersten Zeitdiagnosen (von Marcuse bis Agamben): dass gesellschaftliche Selbstbestimmung trotz allem möglich sei“ (67). Auf der sozialen Ebene der Praxis richtet sie sich auf den Widerstand, der sich in den vielfältigsten Formen der Subversion und des Protestes, den kreativen Umdeutungen und Transformationen des Sozialen zeigt, sowie schließlich auf der kleinsten Ebene in Akten der Selbsttransformation, die sich aus denjenigen Abweichungen von sozialen Normen ergeben, die für das Selbst „existentielle Relevanz und soziale Sprengkraft“ (69) haben.

Dieser Verortung von Macht und Gegenmacht im sozialen Ganzen schließt sich nun eine nähere Untersuchung der Kritik und des Widerstands an. Eine Form der Kritik und des Widerstands lässt sich in der Formel Adornos zusammenfassen, wonach ein „richtiges Leben im falschen“ nicht möglich sei, die in jüngerer Zeit von Geoffrey de Lagasnerie in „Denken in einer schlechten Welt“ (2018) erneuert wurde. Nach ihr ist Kritik Totalkritik, und der Widerstand richtet sich letztlich auf den ‚Sturz des Systems’. Einem solchen fundamentalen theoretischen wie praktischen Nonkonformismus hält Saar, wenn ich recht sehe, entgegen, dass in diesem Fall der Ort der Kritik und der Widerständigkeit allein das existentielle Selbst ist, das sich jedoch nicht mehr im Sozialen verorten kann. „Der Verweis auf die Einzelnen und ihre gewissenhafte Selbstbefragung klingt dann nach genau dem politischen Existenzialismus, der ja gerade keine Gegenposition anbieten will“ (79).

So gesehen bewegt sich eine kritische Sozialphilosophie also in dem Dilemma, dass eine fundamentale Herrschaft- und Machtkritik diese Kritik nicht mehr im Sozialen verorten kann, dass aber umgekehrt eine Verortung der Kritik im sozialen Raum sich dem Verdikt der ‚Pseudokritik’ aussetzt, weil sie darin der Anpassung, Teilhabe und Affirmation der bestehenden Machtstrukturen unterliegt.

Dem setzt Saar das Konzept einer „demokratischen Widerständigkeit“ (80) als Ausweg entgegen, das er vor allem in Bezug auf Etienne Balibars Idee der „Gleichfreiheit“ entwickelt. Diese verankert die Kritik und den Widerstand im sozialen Raum selbst. Demnach ist die Demokratie weder das bloße Etikett einer herrschaftsdurchsetzten Ordnung noch ist sie ein herrschaftsfreier politischer Raum. Vielmehr existiere die Demokratie „von Beginn an“ in der Spannung zwischen „Aufstand“, der revolutionären Erkämpfung von Freiheit und Teilhabe, und der „Verfassung“ im Sinne einer nationalstaatlichen Rechtsordnung. Durch diese Kombination von „Konflikt und Institution“ sei der Demokratie ihre radikale Selbstkritik und Selbstdynamisierung eingeschrieben. Deshalb gehören sowohl die (wenigen) revolutionären Momente als auch die vielen Akte der Gehorsamverweigerung oder des zivilen Widerstands zum ‚Wesen’ der Demokratie. Sie ist daher als in sich widersprüchlich zu verstehen, da in diesem sozialen Raum die institutionellen Ungleichheiten und Diskriminierungen mit den entgegengesetzten emanzipatorischen Akten der Selbstbestimmung einher gehen.

Allerdings ist dieser aufgespannte Rahmen einer „demokratischen Widerständigkeit“ für Saar doch recht unterbestimmt. Es sei daher auf der einen Seite das „diagnostische Kerngeschäft einer Kritischen Theorie“, die prägenden Herrschaftsmuster genauer zu analysieren, nach denen die Gesellschaft in Gruppen und Klassen gespalten ist, ohne sich dabei freilich schon vorab festzulegen, ob diese Spaltungen „entlang von Besitz, Klasse, Identität, Geschlecht oder anderen Markierungen“ (90) verlaufen. Auf der anderen Seite aber ist festzustellen, dass es den so diskriminierten und marginalisierten Gruppen schwerfällt, sich im öffentlichen Raum zu artikulieren. Daher kommt der Kritischen Theorie neben der Diagnose die Aufgabe zu, den Platz „im Dickicht der oft unübersichtlichen, manchmal unsichtbaren Widersetzungen gegen das Unsichtbar- und Stummgemachtwerden“ (94) einzunehmen.

Diesen Überlegungen zur Verortung des Widerstands und einer kritischen Sozialphilosophie im sozialen Raum schließt sich ein Beitrag zu ihrer Verortung in der Zeit an. Die – zumindest akademische – Philosophie erscheine einerseits als „aus der Zeit gefallen“ (95), da sie vorwiegend mit ihrer eigenen Vergangenheit beschäftigt ist, und sich, oft selbstgefällig, als Erbin und Wahrerin einer langen und großen Tradition der Wahrheitssuche versteht. Andererseits aber bewegt sie sich faktisch durchaus in all den Abhängigkeiten, die sie mit den sozialen, politischen und wissenschaftlichen Mächten ihrer Gegenwart verbindet: das Gerangel um die Besetzung der Lehrstühle, die Erfordernisse des Arbeitsmarkts, die Mitwirkung in Kommissionen etc. In dieser Hinsicht ist sie völlig „Kind ihrer Zeit“, deren Besonderheit, so der ideologiekritische Verdacht böser Zungen, in ihrer „Harmlosigkeit“ (101) besteht, weil sie nichts bringt, was über ihre Zeit hinausgeht. Philosophie, so Saars Schlussfolgerung, muss sich in ihrer Zeit gegen ihre Zeit positionieren.

Ein solches „unzeitgemäßes“ Denken lässt Saar mit Nietzsche am Ende des 19. Jahrhunderts beginnen. Er verkörperte gleichsam den Ennui gegenüber einer steril und kraftlos gewordenen Philosophie, deren Traditionspflege sich häuslich und kritiklos im Machtgefüge ihrer Zeit eingerichtet hatte. Dem setzte Nietzsche ein wahrhaft freies Denken entgegen, das die ausgetretenen Pfade verlässt, sich aufs „offne Meer“ wagt und Neues denkt. Seine radikale Umwertung der Werte, seine Einsprüche gegen die starre und lebensfeindliche Moral seiner Zeit oder die erstarrten Gegensätze von Körper und Geist, von Natur und Kultur etc. deutet Saar als das „Herauswinden aus der eigenen Zeit“ (103), das Nietzsche freilich in einer allzu heroischen und selbstbezüglichen Sprache vorbrachte, und das nicht recht anschlussfähig war.

Diesem „Traum des Herausspringens aus der eigenen Geschichte“ (114) setzt Saar eine andere Option der philosophischen Kritik entgegen. Diese negiert nicht abstrakt und pauschal das gesamte Heute, sondern richtet sich, in Form der „bestimmten Negation“ (109), gegen die bestehenden Herrschaftsverhältnisse und verbündet sich „mit den bisher unterlegenen Elementen gegen diese Herrschaft“ (105). Ein solches Denken ist ideologiekritisch in dem Sinne, dass sie die herrschenden Gedanken, in Anknüpfung an Marx, zugleich als ideellen Ausdruck der materiellen Verhältnisse begreift. „An der Frage der Herrschaft entscheidet sich, was zu verwerfen ist, und was nicht“ (106).

Ein solches Denken, so mag man einwendet, ist nicht ‚frei’, sondern in der Gegenwart verankert; aber es zielt in den Kämpfen der Gegenwart „in Richtung Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts“ (107). Damit aber denken, so Saar, beide Optionen, sowohl jenes „unzeitgemäße“ als auch das herrschaftskritische Denken, die Probleme der Gegenwart von einer Zukunft her, die nicht nur die Verlängerung des Gegenwärtigen ist.

Im nächsten Schritt hält Saar nun freilich fest, dass „die Gegenwart“ eine falsche Abstraktion sei, dass es vielmehr „viele Gegenwarten“ gebe. Auch die Philosophie habe, „ganz in Übereinstimmung mit neueren Zeit- und Geschichtstheorien“ (112), die Gegenwart im Plural zu denken, als eine „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, wie sie schon Ernst Bloch gefasst hatte. Dem entsprechend ist aber auch das gesellschaftliche Machtgefüge vielfältig. Das heißt, dass die These vom Denken im „totalen Verblendungszusammenhang“ bestenfalls eine gezielte Übertreibung ist. Denn das tatsächliche Denken vollziehe sich nicht schlicht in eingefahrenen Gleisen, sondern in mehr oder weniger kleinen Abweichungen, in denen Unbefragtes hinterfragt wird oder subversive Gegenargumente formuliert werden. Zwar bestehe der Konformismusverdacht zu Recht; aber ebenso sehr auch das Vertrauen in die Kraft eines Denkens, das in den Abweichungen „Erweiterungen und Auswege sichtbar macht“ (113).

Ein solches Denken entspricht einem „Denken ohne Geländer“ (114), das aber nicht haltlos ist, sondern das das Bewusstsein von der Nichtabschließbarkeit und der Nichtnotwendigkeit hat, für das also die Idee der Kontingenz bestimmend ist. Die Gegenwart philosophisch zu denken, bedeute daher auch immer, die Offenheit der Zukunft zuzulassen.

Dem entsprechend könne aber auch die Herrschaft nicht als ein monolithischer Block aufgefasst, sondern müsse in ihrer Vielfalt gedacht und bestimmt werden. Welche Mächte dominieren und die Handlungsfähigkeiten ungleich und ungerecht verteilen, ergebe sich daher nur aus der Analyse der gegenwärtigen Machtverhältnisse. Denn eine Philosophie, die sich weder der Vergangenheit ausliefert noch die Gegenwart nur als „Durchgangsstation zu einer vorbestimmten Zukunft“ (116) versteht, habe die Aufgabe zu bestimmen, welche Mächte sich jeweils ballen und Zukünftiges verhindern.

Philosophie in ihrer Zeit, so Saars Fazit, ist der Raum, in dem die eigene Tradition durchaus ihren Platz hat, die im Denken aber der Komplizenschaft mit den herrschenden Mächten widersteht. „Sie träumt von Befreiungen und Loslösungen, aber ohne Illusion“ (117). Ihr Widerstand ist eine Unruhe im Denken, das, wie die Zeit auch, nicht stillsteht.

Woher aber nimmt eine solche kritische Philosophie die Normen ihrer Gesellschaftskritik? Von innen oder von außen? Der Ausgangspunkt von Saars Überlegungen zu solchen Normen im folgenden Kapitel ist zunächst die Differenz zwischen ihrer Genesis und ihrer Geltung. Gewönne man sie deskriptiv durch Beschreibung der gesellschaftlich geltenden Normen und ihrer Herkunft, so wäre ein solches Verfahren zwar immanent; aber man verfehlte so den normativen Gehalt, der ihnen zukommt. Versteht man das Normative hingegen als etwas, das ganz unabhängig von ihrer faktischen Geltung gilt, so wendet man auf die Gesellschaft gleichsam von außen wie ein unparteiischer Schiedsrichter normative Maßstäbe an. Da nun aber die Sozialphilosophie, wie gesehen, ausdrücklich kein soziales „Außen“ kennt, sie die soziale Ordnung aber dennoch der normativen Kritik unterzieht, stellt sich für sie notgedrungen die Frage nach Formen einer „immanenten Kritik“ (124).

Der Ausgangspunkt von Saars Überlegungen zu einer „immanenten Normativität“ ist zunächst die Feststellung, dass in modernen Gesellschaften der Rekurs auf außermenschliche Instanzen wie Gott oder die Natur keine allgemeine Verbindlichkeit mehr herstellen. „Eine Moral (oder Geltungsstruktur im Allgemeinen), die für Menschen gelten soll, sollte auch auf menschengemäße Autorisierungsquellen verweisen … der Grund der Autorität muss den Charakter eines intern Verbindlichen annehmen, sonst droht normative Heteronomie“ (122).

Die erste und wohl auch klassisch zu nennende Konzeption immanenter Normativität besteht in der Annahme, dass in der Gesellschaft je schon verbindliche Werte und Normen verankert sind als notwendige Bedingungen ihrer Reproduktion. Hier setzt eine immanente Kritik da an, „wo eine Lücke bleibt zwischen Norm und Realität“ (124). Die Kritik hält den gesellschaftlichen Realitäten gewissermaßen den eigenen Spiegel vor Augen.

Problematisch allerdings wird es, wenn man, wie etwa Foucault, annimmt, dass diese die Gesellschaft tragenden und verbindenden Werte und Normen ihrerseits machtvermittelt sind, so dass sie „zum Kriterium für die Unterteilung der Individuen“ (127) werden. Ein solches Normensystem konstituiert das Bild vom „guten Subjekt“, das auf vielfältige Weise den Ansprüchen auf Rationalität, Gesundheit, Leistungsbereitschaft etc. unterliegt. Erst die Einhaltung solcher sozialer Normen erlaubt es den Subjekten zwar zu leben; sie zwingt zugleich jedoch, so zu leben. Die Normen schaffen, paradox, subjektive Handlungsfähigkeit durch Unterwerfung. Hier erweist sich die zunächst moralisch konnotierte Normativität als soziologisch beschreib- und analysierbare „Normalität“.

Saar führt schließlich ein drittes und, wie mir scheint, das interessanteste Konzept einer „immanenten Normativität“ an, das die Immanenz der Normativität konsequent zu Ende denkt. Denn während man in der ersten Konzeption zur Normenbegründung gezwungen ist, kontrafaktisch an eine Apriori-Instanz der Vernunft zu appellieren, und in der zweiten Konzeption die Normengeltung letztlich auf Zwang und Heteronomie gründet, wird die Normengeltung in diesem Modell strikt immanent aus der Handlungsmacht der Subjekte selbst hergeleitet. Eine Norm ist in diesem Sinne die sowohl situationsabhängige als auch lebensdienliche Ausrichtung von Verhaltensweisen, die „sich allerdings immer wieder bewähren und als korrekturfähig erweisen muss“ (133). Normen haben hier nicht den Charakter von Verpflichtungen, sondern sind Regeln zur Realisierung der eigenen Natur, zur ‚Entfaltung der Persönlichkeit’. Hier konvergieren das Gute und Angemessene mit dem Nützlichen, weil „der Grund der Normgebung im Vollzug der menschlichen Existenz selbst liegt“ (137).

Diese auf den ersten Blick „biologistisch“ anmutende Normenbegründung erweist sich jedoch sozialphilosophisch dann als äußerst attraktiv, wenn man von der, schon von Spinoza formulierten, These ausgeht, dass „nichts dem Menschen nützlicher (ist) als ein (anderer) Mensch“ (138). Denn so wird erstens das sozial Normative weder als moralisch Allgemeines noch als eine fremde bestimmende Macht den einzelnen Handlungssubjekten entgegengesetzt, sondern wird aus der Existenzweise des Menschen selbst hergeleitet. Und zum zweiten wird hier die Existenzweise des Menschen nicht individualistisch gedacht, sodass er der Normen als Ge- oder Verbote bedarf, sondern sie wird von Haus aus als sozial, als „strikt relational oder transindividuell“ (158) gedacht. Das philosophische Unterfangen, solche Normen aufzufinden und zu konstruieren, in denen das individuell Nützliche mit dem allgemein Guten zusammenfällt, wäre, so schließt Saar, die „Erforschung der Bedingungen dessen, heute menschlich zu sein“ (139).

Nach Saars Ausblick auf ein solches sozialphilosophisches Unterfangen habe ich allerdings mit dem letzten Kapitel seines Buches große Schwierigkeiten. In ihm wird nicht der sozialphilosophische Diskurs expliziert, sondern auf die Kritik eingegangen, die am „Anthropo-“ oder „Soziozentrismus“ einer solchen Philosophie des Sozialen geübt wird. Denn angesichts der ökologischen Gegenwarts- wie Zukunftsprobleme sei, wie Saar einräumt, ein „Neuansatz, der den Blick vom Menschen weg in die ihn umgebende Welt richtet, wo es noch vieles andere Seiende gibt, unmittelbar einleuchtend“ (141). Die Aufmerksamkeit darauf könne eine „sinnvolle Ergänzung, vielleicht sogar Ersetzung (!?) des fast exklusiven Fokus auf die menschliche Gesellschaft sein“ (141). Doch wenn es ein, vielleicht der Kerngedanke der bislang dargelegten Sozialphilosophie ist, dass alles Denken und Reden „gesellschaftlich vermittelt“ ist, und sie daher kein „Außen“ kennt, wie soll dann über das geredet werden, das außerhalb des Gesellschaftlichen, als Nicht-Gesellschaftliches existiert? Saar beschreibt diese Problemlage als: „Kritische Theorie nach der ontologischen Wende“.

Zunächst stellt Saar fest, dass sich die Kritische Theorie mit der ontologischen Rede vom „Sein“ und von der „Existenz“ der Dinge nicht nur recht schwer getan hat, sondern dass sie sich in großem Maße auch in der Gegnerschaft zu ihr konstituiert hat. Er geht ausführlich auf Adornos Kritik an Heideggers Ontologie und dessen vermeintlich unmittelbarem Zugang zum Sein der Dinge ein. Er erwähnt jedoch nicht die vorausgegangene Frontstellung der Kritischen Theorie zum so genannten „dialektischen Materialismus“, die sich an der Frage nach einer „Dialektik der Natur“ festgemacht, und der Georg Lukacs in „Geschichte und Klassenbewusstsein“ widersprochen hatte. Die Ablehnung eines solch ontologischen Redens über Natur und Materie sollte ja verbindlich für den „westlichen Marxismus“ in Absetzung zum „östlichen“ werden.

Was Saar nun unter den Stichworten „Ontologie“ und „Materialismus“ versammelt, scheint mir höchst disparat zu sein, was wohl auch aus dem vielfältigen Gebrauch dieser Wörter in der gegenwärtigen Diskussion herrührt. Jedenfalls ist es sein Anliegen, die Kritische Theorie bzw. die dargelegte kritische Sozialphilosophie in diesen Kontroversen stark zu machen.

Er unternimmt es zu zeigen, dass die Kritische Theorie schon immer auch eine Ontologie des Sozialen war, die die gesellschaftlichen Phänomene nicht nur wahrgenommen, analysiert und kritisiert hat, sondern die Aufmerksamkeit gerade auf die dahinterliegenden und bleibenden, festen und harten Machtstrukturen gelenkt hat, die eben nicht dadurch verschwinden, dass sie der Kritik und dem Widerstand ausgesetzt werden. Was Saar hier unter dem Stichwort einer „Ontologie des Sozialen“ versammelt, erinnert mich an das, was Hegel unter dem Begriff des „objektiven Geistes“ zusammengefasst hatte und in der „Neuen Marx-Lektüre“ dann als „Realabstraktion“ diskutiert wurde. In diesem Sinne kann ich Saar problemlos folgen, wenn er der Kritischen Theorie auch eine Ontologie des Sozialen zuschreibt.

Die eigentliche Herausforderung an die kritische Sozialphilosophie richtet sich allerdings nicht auf die „Seinsstruktur“ des Sozialen, sondern auf das Verhältnis der Gesellschaft zur äußeren Natur oder, in allgemeinerer Weise, des Geistigen zum Materiellen. Angesichts dieser klassischen philosophischen Frage regiert bei Saar, soweit ich sehe, das bloße „Auch“: Dass Gesellschaften funktionieren, hängt auch davon ab, „welche materiellen Eigenschaften ihre Elemente haben“ (152); „Reflexionen des Sozialen sind darin ontologisch, dass sie die Realität oder Wirklichkeit des Sozialen betreffen als eine Sphäre, die sich immer auch auf Materialität und Verkörperung beziehen lassen muss“ (153). Adornos bekannte Formel vom „Vorrang des Objekts“ deutet Saar dahingehend aus, „bei allem Interesse an Subjekten nicht davon abzusehen, dass es sie nur in einer Welt gibt, die auch von (sehr viel) Objekthaftigkeit und Materialität konstituiert und geprägt ist“ (154 f.). Während für Hegel allerdings das bloße „Auch“ der Tod der Philosophie war, erhebt Saar dieses plurale Auch umgekehrt zu einer „postfundamentalistischen“ Tugend, weil man über das Verhältnis von Geistigem und Materiellen gar nichts genaueres wissen kann oder will. Er beruhigt sich schließlich bei der neo-spinozistischen (und letztlich pantheistischen) Theorie, wonach Geist und Materie eben „zwei irreduzible und heterogene Seiten oder Ansichten desselben, derselben Wirklichkeit oder Immanenzebene“ (155 f.) sind. Ob freilich dieses beziehungslose Auch hinreicht, um der Herausforderung der ökologischen Probleme philosophisch gerecht zu werden, erscheint mir mehr als fraglich.

Saar erwähnt denn auch nirgends, dass in Marx’ Theorie, die ihm doch als „das Urbild einer Kritischen Theorie“ (160) gilt, der Begriff der Arbeit, den Marx in Auseinandersetzung sowohl mit Hegels ‚Geistphilosophie’ als auch mit Feuerbachs Materialismus gewonnen hatte, von zentraler Bedeutung war. In ihm stehen das zweckhaft Geistige und das materiell Natürliche nicht unverbunden nebeneinander, sondern bilden eine innere Einheit und Verbindung. Seel belässt es denn auch beim bloßen Hinweis auf eine „solche dialektische Perspektive auf die Beziehung zwischen Natur und Geist oder Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte“ (162). Bei dieser Dialektik der Beziehung sei freilich zu bedenken, fügt er hinzu, „dass das Naturverhältnis immer auch Herrschaftsverhältnis bleibt“, dass allerdings das Bedenken der vom Menschen geschlagenen Wunden in der Natur zu keinem verklärenden Traum von natürlicher Ganzheit führen sollte“ (164).

In einer so gefassten, letztlich doch anthropozentrisch als Täter-Opfer-Verhältnis gedachten Beziehung von Mensch und Natur hat freilich der sich aufdrängende ketzerische Gedanke keinen Platz, dass die Natur oder, näher, der Planet Erde keineswegs unter „den vom Menschen geschlagenen Wunden“ leidet, sondern dass es ihm völlig egal ist, ob die Menschen die Vielfalt der Arten vernichten oder sie die Erdtemperatur erhöhen. Die Erde wird, ganz stoisch, weiterhin ihre Bahn um die Sonne zieht. Ließe man diesen Gedanken zu, müsste man jedoch in der Tat ontologisch, wie Adorno, vom „Vorrang des Objekts“ sprechen, was Saar jedoch, wie gesehen, abweist.

Fasse ich abschließend die Besprechung von Martins Saars Buch „Was ist Sozialphilosophie?“ zusammen, so gibt es meines Erachtens einen ausgezeichneten Über- und Einblick in die gegenwärtigen und weit vernetzten Diskurse der Macht- und der Herrschaftskritik; was freilich fehlt, ist, wie denn der von der Kritischen Theorie so angestrebte Freiheitsraum unter den Bedingungen der planetaren Grenzen – über das bloße Auch hinaus – zu denken wäre.