Timothée Parrique
Wachstum bremsen oder untergehen. Wie wir mit Degrowth die Welt retten
aus dem Französischen von Andrea Hemminger
geb., 367 Seiten, 28.- €, Frankfurt/Main 2024 (S. Fischer-Verlag)
von Fritz Reheis
Der alte Deutsche Bundestag hat in seiner letzten Woche die wundersame Geldvermehrung beschlossen, ehe der neue beschließen wird, wofür das Geld genau gebraucht wird. Angesichts der Tatsache, dass ein Großteil des Geldes in die Aufrüstung gehen wird (angeblich unausweichlich angesichts einer „dramatisch verschärften“ Bedrohungslage), braucht es heute besonderen Mut, den seit Langem stattfindenden Selbstbetrug der weit fortgeschrittenen Moderne zu stoppen. Das Buch „Wachstum bremsen oder untergehen“ will Anstoß und zugleich Ratgeber auf diesem Weg sein. Der in Frankreich geborene Autor, Timothée Parrique, der als Ökonom an der School of Economics and Management der Universität Lund in Schweden arbeitet, gilt als einer der wichtigsten Kritiker des Wachstumsprinzips.
Der kompromisslose Titel und die Einleitung mit der Überschrift „Ökonomie, eine Frage von Leben und Tod“ wird durch die folgende Bestandsaufnahme voll gerechtfertigt. Der ökologische Kollaps ist für Parrique keine Krise, sondern eine „Misshandlung“ der Erde; die soziale Spaltung ist für ihn „globale Apartheid“; und statt vom Anthropozän spricht er vom „Kapitalozän, Ökonozän und BIPozän“ (11 f.). Degrowth, so Parrique, ist keine unfreiwillige Dauerrezession, sondern „eine demokratisch geplante Reduzierung der Produktion und des Konsums zur Verringerung des ökologischen Fußabdrucks im Geiste sozialer Gerechtigkeit und in der Sorge um Wohlstand“ (17). Zur Vollständigkeit der Definition gehört für ihn die Angabe der unteren Grenze dieser Reduzierung: Sie könne enden, wenn eine „statische Wirtschaft im Einklang mit der Natur“ erreicht ist, „in der Entscheidungen gemeinsam getroffen werden und der Reichtum gerecht verteilt wird, um ohne Wachstum prosperieren zu können.“ Diesen Zielzustand nennt der Autor „Postwachstum“ (ebd.). Das Buch will sich einer dreifachen Herausforderung stellen: Verstehen, warum die Wachstumswirtschaft eine Sackgasse ist, skizzieren, wie Postwachstum aussehen könnte, und einen Weg vorschlagen, der dorthin führen könnte (ebd.).
Im 1. Kapitel geht es um die Irreführung durch das BIP, im 2. um die Unmöglichkeit der Entkopplung, im 3. um den Gegensatz von Markt und Gesellschaft. Im 4. Kapitel werden falsche Versprechungen der Wachstumsbefürworter entzaubert (etwa zu Armut, Beschäftigung und Lebensqualität). Das 5. Kapitel erzählt die Geschichte des Degrowth. Im 6. Kapitel wird der Weg des Übergangs skizziert. Das 7. Kapitel beschreibt Postwachstum als gesellschaftliches Projekt. Im 8. Kapitel schließlich werden die wichtigsten Kontroversen abgehandelt, die um das Thema Wachstumsbegrenzung und Postwachstumsgesellschaft entstanden sind. Darin ist das Verhältnis von Wachstumsökonomie und Kapitalismus besonders interessant. Für Parrique ist zwar klar, dass die Überwindung des Wachstumszwangs mit dem Ausstieg aus dem Kapitalismus einhergehen muss. Jedoch müssten „ökomarxistische Kritiker des Degrowth“ einräumen, „dass Wachstum nicht nur die Frucht des Kapitalismus ist, sondern auch das Produkt einer Metaphysik der Grenzenlosigkeit, die den Imperialismus, Kolonialismus, Extraktivismus, Produktivismus, Konsumismus, Materialismus, Transhumanismus etc. überzieht.“ Daraus folgt für Parrique: „Eine echte anthropologische Metamorphose, die weitaus radikaler ist als der bloße Antikapitalismus, ist unverzichtbar.“ (303)
An dieser Stelle könnte man einwenden, dass die genannte „Metaphysik der Grenzenlosigkeit“ selbst als Konsequenz kapitalistischer Vergesellschaftung begriffen werden kann, wie seit Marx vielfach dargelegt wurde. Und der Rezensent vermisst auch einen systematischen Blick auf die Temporalität, die mit dem im Titel verwendeten Begriff des „Bremsens“ und der Forderung nach „Einklang“ mit der Natur implizit angedeutet ist. Eine genauere Marx-Lektüre hätte hier wichtige Einsichten zum Verhältnis von Wert, Geld, Kapital einerseits, Zeit, Mensch und Charaktermaske andererseits ermöglicht. Dennoch kann das Buch für Einsteiger in die Postwachstums- bzw. Degrowth-Diskussion uneingeschränkt empfohlen werden – wegen seiner argumentativen Stringenz, seiner thematischen Vielfalt, seiner didaktischen Durchdachtheit und seiner sprachlichen Eleganz.