Zima – Kritische Theorie zwischen Spätmoderne und Postmoderne

Peter V. Zima

Die Kritische Theorie zwischen Spätmoderne und Postmoderne

Nostalgie als Kritik

br., 295 Seiten, 39,- €.

Tübingen 2024 (Narr Franck Attempto Verlag)

von Konrad Lotter

Zwei bereits im Vorwort zitierte Aussagen geben dem Buch die Richtung vor. Die eine stammt von Adorno und lautet: das „Maß des neuen Schlechten ist einzig das Frühere“ (und Bessere); die andere stammt von Marcuse: „Die kritische Theorie hat es in bisher nicht gekanntem Maße mit der Vergangenheit zu tun, gerade sofern es um die Zukunft geht“.

In beiden Aussagen, so Zima, kommt der Wandel der Kritischen Theorie zu einer Theorie der Spätmoderne zum Ausdruck. Unter dem Eindruck des konsolidierten Kapitalismus und der Schrecken des Stalinismus verabschieden sich die Vertreter der Kritischen Theorie in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts von Marx und der Hoffnung auf eine proletarische Revolution und schwenken auf eine Argumentationslinie ein, die von den spätmodernen Soziologen und Philosophen Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Max Weber vorgezeichnet ist: radikale Kritik an den Missständen, Entfremdungen und Fehlentwicklungen des kapitalistischen Systems, verbunden mit der Erinnerung an das Positive, das im Prozess des gesellschaftlichen Fortschritts verloren gegangen ist. Dabei handelt es sich um keinen romantischen Antikapitalismus, der in eine idealisierte Vergangenheit zurückkehren will, sondern um die Forderung, die einmal verwirklichten Errungenschaften an Humanität nicht preiszugeben, sondern in die fortgeschrittene Form der Gesellschaft aufzuheben.

In diesem Sinne sind für Horkheimer, Adorno oder Marcuse, die gleichermaßen dem Großbürgertum entstammen, der liberale Individualismus und die damit verbundene Bildung, Kritikfähigkeit und Autonomie des Individuums ein Wert, hinter den nicht zurückgefallen werden darf. Hatte die Kritische Theorie in ihren Anfängen noch mit Marx das Proletariat als „Subjekt“ der Geschichte begriffen, so ist jetzt das autonome Individuum an seine Stelle getreten. Bei Habermas, in der zweiten Generation der Kritischen Theorie, ist daraus die „herrschaftsfreie Kommunikation“ der vernunftbegabten, autonomen Individuen geworden, die sich vom „besseren Argument“ leiten lassen.

Der Schwerpunkt des Buches liegt allerdings nicht auf der skizzierten Entwicklung der Kritischen Theorie hin zu einer Theorie der Spätmoderne, sondern im Übergang (oder eigentlich Verfall) der Spätmoderne zur Postmoderne. Trotz ihrer Abkehr von Marx bleiben „Utopie“, „Revolution“ oder „Überwindung“ (des Kapitalismus) Themen der zur „Frankfurter Schule“ gewandelten Kritischen Theorie, wenn auch nicht mehr im Sinne von Marx, sondern mit der vagen Perspektive auf ein „ganz Anderes“. Bei den Postmodernen ist die Abkehr von Marx noch viel entschiedener, so dass selbst diese Themen als überholt, anachronistisch und sogar als gefährlich angesehen werden. An die Stelle der Kritik der naturwüchsigen (kapitalistischen) Verhältnisse treten ein „Living Without an Alternative“ (Zygmund Baumann) und die rückhaltlose Anerkennung der bestehenden Verhältnisse. An die Stelle des (Gebrauchs-)Werts der Dinge tritt die Universalität des Tauschwerts, der alle Wert-Differenzen einebnet (Jean Baudrillard). An die Stelle des Versuchs, die Selbstbestimmung der Individuen zu fördern, tritt deren Gleichschaltung innerhalb der Massengesellschaft (Jean-François Lyotard). Die Reduktion der Vernunft auf die Zweckrationalität und die „Eindimensionalität“ des Menschen werden als Faktum hingenommen und akzeptiert (Gianni Vattimo). Als positiv wertet Zima dagegen die „Vielfalt“ der postmodernen Theoretiker, ihr Interesse für das Einzelne; darin sieht er einerseits eine Verwandtschaft mit Adornos „Akzentuierung des Partikularen“, andererseits einen Gegensatz zum Universalismus der „großen Erzählungen“ von Hegel oder Marx.

Bemerkenswerterweise sehen sich die Theoretiker der Postmoderne selbst oftmals in völliger Übereinstimmung mit der Frankfurter Schule (Michel Foucault) oder knüpfen ausdrücklich an deren Gedanken an. Tatsächlich aber, so die Kritik Zimas, treiben sie deren Gedanken nur „auf die Spitze“ und verkürzen sie, um sie dann als „Argumente gegen sie zu wenden“. So kehrt Lyotard das „Erhabene“ Adornos, das „die Kritikfähigkeit der Kunst und des Einzelnen stärken sollte, gegen das Subjekt“. Der französische Soziologe Michel Maffesoli analysiert (in Übereinstimmung mit Horkheimer und Adorno) zwar den Niedergang der individuellen Autonomie, feiert deren Unterordnung unter die Masse aber als „postmodernen Fortschritt“. Baudrillard erinnert zwar an die Kritik des Tauschwerts, vertritt aber die Auffassung, dessen Herrschaft über den Gebrauchswert sei so total, dass er als „Archimedischer Punkt der Kritik“ ausgedient hat. Grundsätzlich hatte die Kritische Theorie (mit Walter Benjamin) zwischen dem Fortschritt der Naturbeherrschung und dem der Gesellschaft und der in ihr verwirklichten Humanität unterschieden. Dieser Unterschied ist in der Postmoderne, die allein den Fortschritt der Naturbeherrschung thematisiert, verschwunden. Adorno und Horkheimer kritisierten zwar die rücksichtslose Beherrschung der Natur, deren Methoden auf die Beherrschung des Menschen übertragen werden; gleichzeitig widmen sie dem Individualismus des Liberalismus eine „rettende Kritik“. Diese Dialektik kommt in den postmodernen Theorien nicht mehr vor. Gezeigt wird stattdessen nur, wie das Netz der Disziplinierung und der Angleichung der Individuen immer enger wird, so dass sie zuletzt vollständig verschwinden „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ (Foucault).

Als Literaturwissenschaftler verweist Zima oftmals auf Parallelen zwischen Philosophie und Literatur und macht auf Selbstreflexionen der Moderne aufmerksam, wie sie auch bei Baudelaire, Valery, Kafka oder Broch anzutreffen sind. Wiederholt zitiert er den bezeichnenden Satz von Robert Musil: „Der Individualismus geht zu Ende … aber das Richtige (an ihm) wäre hinüberzuretten.“ Was wäre aber das Richtige? Zimas Antwort (im Sinne der Frankfurter Schule) lautet: die individuelle Autonomie des liberalen Zeitalters, die Fähigkeit zur Kritik und zum Widerstand, die Fähigkeit, dem ideologischen und kommerzialistischen Konformismus zu widerstehen, letztlich die Würde des Menschen.

Zimas Buch ist gut gegliedert, in seinen Argumenten (auch dank vieler Wiederholungen) gut nachvollziehbar. Es vermittelt ein breites Spektrum der weitgespannten Diskussion, in der Zima am Ende auch selbst Stellung bezieht. Er plädiert, wie schon in früheren Werken, für eine „dialogische Erneuerung der Kritischen Theorie, die postmoderne Kritiken an der (Spät-) Moderne ernst nimmt und den Universalismus der Kritischen Theorie mit dem Partikularismus der postmodernen Denker dialektisch zusammenführt“. Er wehrt sich vor allem gegen Habermas, der die Postmoderne als bloßen Konservativismus abtut, und möchte Horkheimer und Adorno „mit Hilfe des postmodernen Partikularismus … korrigieren und ergänzen“. Mit diesem Konzept versucht er, „unzeitgemäß gegen den Zeitgeist zu denken“. So unzeitgemäß, wie behauptet, erscheint dieses Konzept freilich nicht. Höchst zeitgemäß und dem Mainstream entsprechend ist vielmehr, was Zima mit beiden Ansätzen, deren Synthese er anstrebt, verbindet: die Ablehnung der Marxschen Theorie und der Mangel einer wirklichen, gesellschaftlichen (nicht bloß individuellen) Perspektive, die über die Grenzen des gegenwärtigen Kapitalismus hinausblickt.

Pineault – Die soziale Ökologie des Kapitals

Éric Pineault

Die soziale Ökologie des Kapitals

mit einem Vorwort von Simon Schaupp

br., 190 Seiten, 25.- €

Berlin 2025 (Karl Dietz Verlag)

von Fritz Reheis

Was der Kapitalismus genau ist, werden wir erst im Nachhinein voll begreifen, wenn er überwunden sein wird. Dieser Gedanke seines akademischen Lehrers, Murray Bookchin, US-amerikanischer Sozialist, Anarchist und Begründer des Institute for Social Ecology, dem das Buch gewidmet ist, habe ihn nicht mehr losgelassen, erzählt Éric Pineault. Der Gedanke sei für ihn „paradoxerweise ein Hoffnungsschimmer“. Er wolle mit seinem Buch, das teilweise bereits veröffentlichte Texte enthält („The ghosts of progress“ und „The Post Growth Condition“), „zum kollektiven Verständnis dieser sozialen und ökologischen Formation (des Kapitalismus, F.R.) und ihrer Grenzen“ beitragen (190). Pineault ist Professor am Department of Sociology und am Institute of Environmental Sciences an der Universität Quebec in Montréal. Außer durch Bookchin und Aktivisten aus Quebec sieht er sich hauptsächlich durch das Wiener Institut für Soziale Ökologie (Martina Fischer-Kowalski) und das Postwachstumskolleg an der Uni Jena (Hartmut Rosa, Klaus Dörre u.a.), wo er 2018 bis 2019 Gast war, inspiriert. Die Theorie der Sozialen Ökologie des Kapitals ist für Pineault ein „vorgeordnetes und begrenztes Unterfangen“, das einen theoretischen Rahmen für Degrowth (einschließlich Ökosozialismus) bereitzustellen versucht (170).

Es sei eine Illusion, so die Grundthese des Buches, die ökologische Transformation von einer Entkopplung der Wirtschaft vom Naturverbrauch zu erwarten und dabei auf einen Wandel der Werte mit einhergehendem Konsum- und Politikwandel zu hoffen. Nötig sei vielmehr die vollständige Überwindung der herrschenden „sozialen Ökologie des Kapitals“. Voraussetzung für diese Überwindung sei eine konsequent materialistische Analyse der energetischen und stofflichen Prozesse und der politischen Ökonomie, die sich mit ihnen in Wechselwirkung befindet. Im Zentrum der Analyse steht der Begriff des „sozialen Stoffwechsels“. Pineault unterscheidet drei Aspekte dieses sozialen Stoffwechsels: die durch Gesellschaften fließenden Ströme von Energie und Materie, die Akkumulation von materiellen Vorräten sowie die Kolonisierung von Ökosystemen durch menschliche Aktivitäten. Diese drei überhistorischen Momente des Mensch-Natur-Verhältnisses gelte es nun für kapitalistische Gesellschaften zu konkretisieren und zu „re-soziologisieren“ (28). Dabei zeige sich im Detail, wie die kapitalistische Dynamik und die sie exekutierenden globalen Konzerne in allen Phasen des menschlichen Eingriffs in die Natur – von der Extraktion über Produktion, Konsumtion und Reproduktion bis zur Dissipation – die Grenzen der Natur ignoriert und eine ökologisch verträgliche Form des Wirtschaftens und Lebens verhindert. Grund dafür seien nicht nur die systematisch erzeugten Rebound- und Verdrängungseffekte und die systematische Trennung von Produktion und Reproduktion (auch als Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land sowie Nord und Süd). Hinzu komme vor allem auch die Tatsache, dass diese Dynamik Investitionen in eine naturnahe Form des Wirtschaftens umgehend mit systematischer Entwertung des eingesetzten Kapitals bestraft.

Nach einem Vorwort von Simon Schaupp (Autor von „Stoffwechselpolitik“) über den deutschen Diskurs zum Thema, führt Pineault in das Buch ein, indem er den Begriff „sozialer Stoffwechsel“ erläutert. Das erste Kapitel behandelt den „Materialfluss“, das zweite die „Ökologie des Materialflusses“, quasi die „Arbeit der Natur“ einschließlich des Entropiegesetzes. Im dritten Kapitel geht es um „Stoffwechselregime in historischer Perspektive“, im vierten um den „fossil-basierten Metabolismus“. Das fünfte Kapitel thematisiert den „kapitalistischen Stoffwechsel“ generell, das sechste richtet den Fokus speziell auf die Zeit der „großen kapitalistischen Beschleunigung“, die Pineault zufolge die vergangenen sieben Jahrzehnte umfasst. Das Buch schließt mit einem „Anhang zur deutschen Ausgabe“ mit eindrucksvollen Daten und Grafiken zum Zusammenhang von biophysikalischen und politökonomischen Daten. Insgesamt will die Theorie der sozialen Ökologie des Kapitals eine doppelte Selbsttäuschung entlarven: „Die Versprechungen, privilegierte Lebensweisen im fortgeschrittenen kapitalistischen Kern und unter den Mittelschichten des globalen Südens beibehalten und verbessern zu können, haben ihre Entsprechung bei progressiven Kräften, die sich der Illusion hingeben, die Produktivkräfte und der Durchsatz könnten weiter gesteigert werden, weil reinere, dichtere und sauberere Energieformen im Überfluss in einem ‚dort draußen‘ vorhanden seien, das nur noch gefunden werden müsse.“ (171)

„Die soziale Ökologie des Kapitals“ ist zweifellos ein wichtiges Buch, weil es die naturwissenschaftlich-ökologische und die sozialwissenschaftlich-politökonomische Analyse überzeugend zusammenführt. Dennoch fragt sich der Rezensent, ob Pineault, der ja explizit einem dialektischen Erkenntnisinteresse folgt, nicht vorschnell über Marx hinausgegangen ist. Vielleicht sind die ökologischen Verwüstungen seit der Großen Beschleunigung ja nichts anderes als Zuspitzungen des kapitalistischen Grundwiderspruch zwischen der Gesellschaftlichkeit der Produktion und der Privatheit der Aneignung (einschließlich der Planung), nichts anderes also als weit fortgeschrittene Kollateralschäden eines Systems, von dem schon 1848 klar war, dass es „alles Stehende und Ständische“ verdampft. Vielleicht zeigt sich heute in aller Klarheit, dass Produktivkräfte in Destruktivkräfte umschlagen, solange sie durch überlebte Eigentums- und Konkurrenzbeziehungen gefesselt sind.

Snyder – Über Freiheit

Timothy Snyder

Über Freiheit

geb., 416 Seiten, 28,– €

C. H. Beck-Verlag, München 2024

von Helga Sporer

Der bekannte Historiker Timothy Snyder hat mit seiner Frau, der Osteuropaforscherin Marci Store, und dem Philosophen und Faschismusforscher Jason Stanley die Yale University verlassen. Ihre Migration nach Kanada ist das Zeichen für ihren Kampf gegen die Beschränkungen der Wissenschaft und des freiheitlichen Denkens in den USA seit Präsident Donald Trumps zweiter Amtszeit.

In seinem Buch „Über Freiheit“ , das mittlerweile in mehr als 40 Sprachen übersetzt wurde, fordert Snyder jeden auf, seinem Weckruf zu folgen und sich gegen die gewaltige Welle der weltweiten Unfreiheit zur Wehr zu setzen. Eine seiner Thesen lautet: „Wir werden nicht frei sein und auch nicht überleben, wenn wir die Grenzen unserer Erde ignorieren oder die Regeln unseres Universums leugnen“ (205). Unser Universum, so Snyder, ist ein Spiel von Materie und Energie, bei dem es hin- und hergeht, und das Leben ist eine besondere Form dieses Spiels. Wir sind eine spezielle Form des Lebens, die zur Würde des Wissens und zur Erkenntnis fähig ist. Als Interpret unserer düsteren Zeiten und zur Begründung seiner Aussagen schlägt er einen weiten intellektuellen Bogen von den Freiheitsdenkern der Antike und der Aufklärung bis zu den Autoren der Declaration of Independence und der amerikanischen Verfassung, von den Gründungsvätern der amerikanischen Demokratie bis zu den Gefährdern der modernen Freiheit durch populistische, rassistische und antisemitische Strömungen in den USA, Europa und in Ländern des globalen Südens.

Snyder wechselt auf den über 400 Seiten seines Buches immer wieder von philosophischen und theoretischen Aussagen zu alltäglichen Belegen, mit denen er seine Gedankengänge stützt. Dabei überwiegt sein Pragmatismus. Freiheit sei positiv und nicht negativ zu denken: „Wir sind nicht frei, wenn uns keine Beschränkungen auferlegt werden. Wenn ich Sie auffordere, Sie sollen jemanden vom Wählen abhalten. Übe ich dann Redefreiheit aus? Sicherlich nicht. Wenn ein bewaffneter Polizist vor einem Wahllokal steht und fragt, was Sie da tun, so ist das ein noch eindeutigerer Fall – das ist keine Redefreiheit“ (235). Wenn ein amerikanischer Präsident auffordert, eine demokratische Wahl zu kippen, dann ist das keine Ausübung von Redefreiheit. Darauf hinzuweisen heißt nicht, Trump das Recht auf Meinungsäußerung abzusprechen. Dies, so Snyder, sei nun wahrlich nicht in Gefahr.

Ein weiteres Bespiel: Wenn Putin Hunderttausende von Menschen schickt, um Hunderttausende von Morden zu begehen, sind seine Befehle dann freie Meinungsäußerung? Offensichtlich nicht. Wenn ein Diktator die Existenz einer Nation leugnet, dann handelt es sich nicht um Redefreiheit, sondern um eine völkermörderische Hassrede. Die Auffassung, Putins bizarre Geschichtsauffassung nicht zu teilen, sei Russophobie, haben russische Offizielle und Propagandisten selbst dann noch geteilt, als russische Soldaten in die Ukraine einmarschiert waren, Millionen von Menschen deportierten und rund einhunderttausend Einwohner von Mariopol töteten (236).

„Freiheit“, so Snyder, „bedeutet niemals, dass die Regierung uns in Ruhe lässt. Sie bedeutet aber auch nicht, dass wir die Regierung in Ruhe lassen. Die Formen der Freiheit müssen jeden Tag neu gelebt werden. Sie legitimieren die Regierung und leiten den Einzelnen“ (281). Doch für ein freies Zusammenleben von Individuen und Regierung sind nach Snyders Meinung fünf Voraussetzungen unabdingbar:

Die Souveränität ist in dieser Reihe die erste Form der Freiheit. Hierbei gehe darum, die Kinder zu unterstützen, Fähigkeiten zu erwerben, die es ihnen ermöglichen, sich in Freiheit zu entfalten. Diese, die Generationen übergreifende politische Arbeit, müsse von der Regierung wie den Individuen geleistet werden. Das Gleiche gelte für die Unberechenbarkeit als zweiter Form der Freiheit, die jedoch nach Strukturen verlangt. Wir können, so Snyder, nur frei sein, wenn wir die sozialen Medien immer wieder neu denken und neu gestalten. Deren Formen zu ändern, aber müsse auch Sache der Politik sein: „Wer auf Bildschirme starrt, ist leichter zu manipulieren“ (282). Die Aufrechterhaltung der Mobilität und die Sicherung der Faktizität sind weitere Voraussetzungen zur Entfaltung der Freiheit. Auch hier müssen politische Institutionen und moralisches Engagement ineinandergreifen. „Teilen Sie in den sozialen Medien Artikel, die aus menschlicher Feder stammen. Abonnieren Sie Medien mit investigativen Reportagen. Unterstützen Sie Kampagnen zur Besteuerung von Social-Media-Unternehmen, um damit die lokale Berichterstattung zu finanzieren … Technologie kann helfen, aber es muss die richtige Art von Technologie sein. Künstliche Intelligenz wird erst dann wirklich eine solche sein, wenn sie uns darauf hinweist, dass wir den Planeten verbrennen und damit aufhören sollten“ (213 f.). Die fünfte und höchste Form der Freiheit aber ist für Snyder die Solidarität. Denn ohne sie können wir die Mühsal anderer nicht als unsere eigene wahrnehmen und verlieren so die Fähigkeit, uns selbst zu sehen. „Wenn wir uns für die Möglichkeit entscheiden, Solidarität nicht für einige wenige, sondern für alle auszudrücken,“ so sein Fazit, „werden wir freier sein“ (282).

„Über Freiheit“ beschreibt in komprimierter Zusammenfassung die historischen Ereignisse und wissenschaftlichen Erkenntnisse, die zu den Herausforderungen in unserer Zeit geführt haben. Wenn wir unter diesen Bedingungen unsere Freiheit erhalten wollen, müssen wir die Demokratie, zu der diese „fünf Formen der Freiheit“ hinführen, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen. Die Lektüre und die Beschäftigung mit seinen Gedanken stimmen zuversichtlich: Nicht negative, sondern positive Freiheit, nicht für einige wenige, sondern für alle ist möglich.

Zizek – Die Paradoxien der Mehrlust

Slavoj Žižek

Die Paradoxien der Mehrlust. Ein Leitfaden für die Nichtverwirrten

Tb., 491 Seiten, 22,- €, Frankfurt/Main 2023 (S. Fischer-Verlag)

von Ottmar Mareis

Im ersten Teil seines Buches unternimmt Žižek den Versuch, den Kapitalismus durch das Theorem der Mehrlust, das auf Jacques Lacans Jouissance basiert, zu erklären. Der Kapitalismus, so Žižek, bestehe hauptsächlich aus dem Mehrwert, den die Kapitalisten aus der Arbeit der Proletarier und Angestellten pressen. Dieser fließe ihnen automatisch zu und sei das Wesen des profitorientierten Wirtschaftens. Der Kapitalismus sei mit dem Mehrwert in so essentieller Weise verbunden, dass alle Anstrengungen, den Kapitalismus abzuschaffen, an dieser unverwüstlichen Verflechtung gescheitert sind und daran scheitern werden. Diese Lust, aus der Arbeit anderer Mehrwert zu schöpfen, entspricht nach Žižek dem Konstrukt der Mehrlust in der Theorie Lacans. Doch dieser Vergleich von Mehrwert und Mehrlust hinkt ziemlich, wie sich zeigen wird. Er könnte erklären, warum Žižek sich einen lacanschen Marxisten nennt; aber mindestens die Hälfte der von ihm im Weiteren vorgestellten lacanschen Konstrukte belegen, dass sie nichts mit der Rationalität der Analysen von Marx gemein haben, sondern vielmehr in einen Obskurantismus münden.

In seinem Werk bemüht sich Žižek die Fortdauer des Kapitalismus anhand ausgewählter lacanscher Theoreme zu erklären und diese allgemein verständlich zu machen. Er unterschlägt jedoch, dass Lacan zu seiner Zeit der wohl größte Kritiker der französischen 68er wie der Linken war. Zudem würde Lacan es vehement ablehnen, mit Marx kurzgeschlossen zu werden, wie übrigens vice versa genauso Marx, was Lacan betrifft. Der Redlichkeit halber hätte Žižek eine Geschichte schreiben müssen, wie und mit welchen Theoremen Lacan die Linke in den 70ern so vehement angriff. Als notorischer Lacanverehrer versucht Žižek stattdessen, die lacanschen Konstrukte der Jouissance, der Erwartung der Mehrlust, der Jouissance des großen Anderen sowie der subjektiven Destitution für eine Gegenwartsanalyse fruchtbar zu machen. Die Frage stellt sich daher, ob und in welchen Teilen seines Werks ihm das gelingt.

Im Hauptteil des Buches wird Lacans Theorie, wie schon in anderen Büchern, vertieft und angewendet. Nach Lacan, der 1981 starb, leben wir seit den 70er Jahren in der Postmoderne, in der es, nach der 68er Studentenrevolte und ihrer “sexuellen Befreiung“ im Westen, kaum mehr Unterdrückung gebe. In Lacans Denken ist das (sexuelle) Begehren jedoch essentiell als Reaktanz auf die Unterdrückung angewiesen. Aus seiner Sicht begann daher mit dem Verschwinden der Unterdrückung auch das ‚Endspiel‘ des Begehrens. Das Begehren, der Eros, befinde sich sozusagen in einer profunden Agonie, die schwere psychische Folgen zeitige. Diese lassen sich an der enormen Zunahme, ja der Epidemie von Burnouts und Depressionserkrankungen seit dieser Zeit ablesen.

Žižek geht es im Folgenden darum aufzuzeigen, dass die Mehrlust, durch ihre Tücken und Paradoxien hindurch, auch gravierende repressive Konsequenzen birgt. Einen ersten Eindruck dieser Paradoxie vermittelt Žižek am Verhalten Lacans bei dessen öffentlichen oder privaten Diners, nicht nur im Kreis seiner Student:innen. Für ihn sei es bei solchen Anlässen völlig normal gewesen, lustvoll laut zu furzen, – ohne dass er darauf angesprochen wurde. Erschien Lacan das Gericht von Gästen als schmackhafter als das von ihm bestellte, tauschte er die Teller ungefragt aus, – ohne dass die Betroffenen sich wehrten. Auf diese Szenen folgend, lotet Žižek detailreich aus, warum wir uns nicht wehren, was wir von solcher Unterdrückung haben und mehr noch, „warum wir unsere Unterdrückung genießen.“ Er führt an Beispielen aus der Literatur, Musik und Filmen (Vikings, Solaris, Katla, Rammstein, Schostakowitsch) aus, warum vor allem das Genießen der Unterdrückung mit der Erwartung der Mehrlust des Begehrens verbunden ist, und wie diese am lacanschen Theorem vom großen Anderen andockt.

Plastisch wird dies anhand des ersten Finales von Bert Brechts „Dreigroschenoper“ veranschaulicht. In ihm wünscht sich Polly einen Mann, den sie wirklich lieben kann. Auch wenn Vater Peachum ihr mit der Bibel in der Hand Recht gibt, kommt unerwartet die Wende: „Das Recht des Menschen ist‘s auf dieser Erden, da er doch nur kurz lebt, glücklich zu sein, teilhaftig aller Lust der Welt zu werden, zum Essen Brot zu kriegen und nicht einen Stein. Das ist des Menschen nacktes Recht auf Erden, doch leider hat man bisher nie vernommen, dass etwas recht war und dann war’s auch so! Wer hätte nicht gern einmal Recht bekommen? Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so… Wir wären gut anstatt so roh. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.“

Žižek merkt an, dass dieser Text sich nur mit Weills raffinierter Musik deuten lässt. Die erste Hälfte mutet an wie eine getragene, langweilige religiöse Predigt. Die zweite jedoch weist eine fröhlich zynische, quirlige Intonation auf: „Die offensichtliche Freude, mit der das Unerfreuliche (die traurige Botschaft) überbracht wird, ist die Mehrlust in ihrer reinsten Form.“ Die letzten zwei Sätze nehmen gar einen ekstatischen Ton an. Žižek beobachtet parallel dazu, dass auch bei den Linken oft auf „die Verhältnisse“ verwiesen wird, die sie allein nicht ändern können. Er macht darin eine ähnlich heuchlerische Jouissance aus, dass man, um gegen sie zu kämpfen, selbst auch roh sein dürfe, dass man also das Rohsein gewissermaßen ausschweifend genieße.

Diesem zynischen Genießen geht Žižek noch weiter auf den Grund. Dass wir durch unsere Entfremdung hindurch genießen, bedeute, dass unser Genießen durch den großen Anderen vermittelt sei. Genauer gesagt: das für uns unzugängliche Genießen des Anderen, z.B. das dem Mann unzugängliche Genießen der Frau oder das imaginierte Genießen einer fremden Ethnie, wird projektiv sadomasochistisch verstärkt.

So gehe es auch bei der von Donald Trump bis heute aufrechterhaltenen Lüge „Stop the Steal“, mit der er seine Fans aufs Kapitol hetzte, nur oberflächlich um den vermeintlichen Klau der Wahl. Unbewusst skandierten sie vielmehr: „Stoppt den verrückten Genußklau, now!“ Im karnevalesken Charakter des Kapitolsturms plus dazugehörigem Schamanen agieren Trumps Fans eigentlich das Zurückerobern derjenigen Jouissance aus, die sie bei anderen ethnischen wie Gender-Gruppen (PoC, Mexikanern, Arabern, LGBTQ-Personen etc.) wirken wähnen. In Anlehnung an die slowenische Philosophin Alenka Zupancic weist Žižek darauf hin, dass es sich hierbei weniger um ein individuelles persönliches Genießen handelt, sondern – ähnlich einem unpersönlichen Gottesglauben – um ein unpersönliches Genießen durch das „Subjekt einer Gestalt des großen Anderen.“ Dieses unpersönliche Genießen definiere als eine Art monströser Befangenheit die Perversion. So ist auch nach Lacan der Perverse derjenige, der sich als Werkzeug des Genießens des Anderen begreift. Dass wir angeblich oft wegsehen oder den Blick abwenden, wenn Marginalisierte geopfert werden, zeigt nach Lacan, „dass wir im Objekt unserer Begierden die Bestätigung dafür suchen, dass ein Begehren jenes Anderen, den ich hier Deus obscurus nennen will, präsent ist.“ Der monströse Bann oder die Befangenheit, in der ein Perverser handele, spiegele wider, was er für das Genießen seines Abgotts tut. Der Perverse sei daher kein fieser Kretin, der es genieße, seine Opfer zu quälen, sondern „ein kalter Profi, der seine Pflicht auf unpersönliche Weise um der Pflicht willen tut.“

Nach der Erklärung solchen Genießens vertritt Žižek eine weitere gewagte These, die seine bisherige stützen soll. Nach Hannah Arendt basiere die Verwandlung eines „gewöhnlichen Sadisten zu einem richtigen Perversen“ auf einer bewussten, absichtlichen Reorganisation wie in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, als nämlich die SS die Lagerverwaltung von der SA übernahm.

„Hinter der blinden Vertiertheit jener SA-Leute war oft deutlich ein überwältigender Haß des Ressentiments zu spüren gegen alle sozial oder geistig oder körperlich besser Weggekommenen, die man nun, als Erfüllung unmöglich geglaubter Wunschträume, in seiner Macht hatte. Es ist bezeichnend, dass dieses Ressentiment, von dem auch noch später in den Konzentrationslagern einiges zu spüren war, auf uns wie ein letzter Rest menschlich verstehbaren Verhaltens wirkt. Das eigentlich Grauenhafte der Lager jedoch ist, dass diese spontane Vertiertheit in den deutschen Lagern mehr und mehr zurücktrat, nachdem die SS ihre Verwaltung übernommen hatte, und von einer absolut kalten, absolut berechnenden und systematischen Zerstörung der menschlichen Körper zum Zwecke der Zerstörung der menschlichen Würde abgelöst wurde, die sich genug in der Gewalt hatte, den Tod zu verhindern oder auf unabsehbar lange Zeit hinauszuschieben. Die Lager waren jetzt nicht mehr der Tummel- und Vergnügungsplatz von Bestien in Menschengestalt, das heißt von Menschen, die eigentlich in Schwachsinnigenheime, Irrenanstalten und Gefängnisse gehörten, sondern umgekehrt: sie wurden zu den Exerzierplätzen, auf denen vollkommen normale Menschen zu vollgültigen Mitgliedern der SS erzogen wurden.“ (Arendt)

Als Beispiel führt Žižek Adolf Eichmann an, der sich immer auf den Befehlsnotstand berufen hatte, der Befehlen angeblich nur gehorchte, um seine Pflicht als Bürokrat zu tun. Er wollte keinerlei persönlichen Genuss verspürt haben, als er die Shoa ins Werk setzte, obwohl ihm irgendwie klar war, dass er dieses Grauen maßgeblich mitorganisierte. Doch Žižek insistiert darauf, dass genau diese Pflicht Teil seines Genießens war, es war sogar „das, was seinem Genießen ein Mehr hinzufügte – er genoss, aber er genoss auf eine rein interpassive Weise durch den Anderen, den dunklen Gott, den de Sade als das höchste Wesen an Bösartigkeit bezeichnet (l’être suprême en méchanceté).“

Žižek versteht sein Werk durchaus als kritische Reflexionsform, so jedenfalls lassen sich Teile seines Buches lesen. Doch die Frage sei erlaubt, ob er nicht im Hauptteil mit Theoremen arbeitet, die denen ultrakonservativer, reaktionärer, theologischer und sogar faschistischer Provenienz ähneln. Denn Hitler und die NSdAP wollten dem „deutschen Volk“ sowohl ihren Willen als auch den unbedingten Gehorsam aufzwingen. Aber hat sich dieses Volk nicht freiwillig ekstatisch seinem „obskuren Gott“ unterworfen? Und hat es die Unterwerfung nicht ultimativ genossen? Mit Lacan formuliert: Hat das Volk nicht alles für die Jouissance des Führers getan, mehr noch, „sich als Werkzeug des Genießens des großen Anderen begriffen?“ Wenn aber Žižek solche lacanschen Konstrukte der Jouissance auf den Nationalsozialismus bezieht, – laufen sie nicht auf eine Exkulpierung der je individuellen Schuld hinaus? Und hatte nicht schon Adolf Hitler in „Mein Kampf“ fabuliert, dass man das Volk als passive Masse, als Frau, begreifen solle, die es genießt, unterworfen zu werden? Jeder mag selbst entscheiden, ob diese Argumentationsmuster einander „verwandt“ sind.

Im letzten Teil des Buches wendet sich Žižek der „subjektiven Destitution“ zu, einem weiteren lacanschen Theorem. Diese sieht er etwa im Selbstopfer der Brechtschen „Maßnahme“ wie auch in der Begeisterung jeglicher revolutionärer Bewegung am Werke. Die freiwillige Zustimmung zur eigenen Opferung unter die Ideologie der kommunistischen Partei beziehungsweise ihren Richterspruch sei zudem die Methode der Wahl, um dem korrumpierten Genießen, wie es in der „Dreigroschenoper“ vorgeführt wird, zu entkommen. Man bleibt öfter sprach- und ratlos bei Žižeks Interpretationen; denn es bleibt offen, ob er diesen Deutungen nicht auch zustimmt.

In der subjektiven Destitution, so Žižek, sei „das Subjekt radikal gespalten in eine reine Leere und das Objekt, das es ist.“ Auf diese Weise würden wir „die Sterblichkeit überwinden und erlangen den Zustand des Untoten: kein Leben nach dem Tod, sondern Tod im Leben, keine Aufhebung der Entfremdung, sondern extreme, selbstabschaffende Entfremdung – wir geben den Maßstab auf, an dem wir Entfremdung messen.“ Diese Auflösung sieht er auch in den Nirwana-Religionen, den Mystikern und letztlich in den Bewegungen des religiösen Fundamentalismus wie den Taliban am Werk. Sie immunisiere gegen Vernunftgründe und mache ihre Vertreter unerreichbar, zudem unangreifbar.

Da der westliche Universalismus nach Žižek an einem passiven Nihilismus leide, evoziere er religiöse Fundamentalismen als Reaktanz. Ihnen gelte es, mit einem aktiven Nihilismus a là Nietzsche zu begegnen, d.h. mit einem Ausbruch wahrer selbstzerstörerischer Negativität, den Žižek anhand distinguierter Produkte der Popkultur wie auch an dem Film und der Figur des „Jokers“ erklärt. Der Joker ist eine vollkommen vereinsamte Figur, die dem Missbrauch und der Vernachlässigung durch seine psychisch kranke Mutter ausgesetzt war, die ihrerseits, vielen Alleinerziehenden gleich, unter Vereinsamung litt. Die kritische Perspektive des Films besteht nun darin, dass er die kapitalistische Gesellschaft und ihre Medien als Verursacher dieser Misere im Denken und Handeln des Jokers ins Visier nimmt. Zwar kreist die psychische Labilität des Jokers immer um die subjektive Destitution; aber zugleich wendet sich diese abgründige Leere im Subjekt gegen die sie verursachende Gesellschaft. Am Ende des Films wird Joker in eine Talkshow eingeladen, in der Murray, der Talkmaster, im üblichen TrashTV-Stil beginnt, über die Verrücktheit des Psycho-Jokers herzuziehen. Doch am Schluss des Gesprächs greift der Joker Murray zunächst verbal an: ob er überhaupt wisse, wie die Welt außerhalb seines TV-Studios aussehe? Er prangert die enorme Spaltung, Vereinzelung und Atomisierung der US-Gesellschaft an. Das Gespräch eskaliert, bis der Joker Murray vor laufender Kamera erschießt.

Die Zuschauer aber sympathisieren mit dem Joker. Gleichzeitig ist man entsetzt über die Gewalt, die einerseits durch die Talkshows, andererseits durch die Eskalation der Gewalt in der Talkshow ausgeübt wird. „Joker“ ist einer der wenigen Filme, denen es gelingt, dass man sich als Zuschauer zugleich als Voyeur entlarvt fühlt.

Dieses letzte Kapitel in Žižeks Buch hätte mit seinen gekonnten Schattierungen der verschiedenen Nihilismen in den westlichen Gesellschaften hindurch mit dem ersten Teil durchaus eine aktuelle und kreative Zeit- und Gesellschaftskritik bieten können. Da der Autor jedoch zu stark von sich überzeugt, teils sogar unangenehm von sich selbst berauscht ist, gewinnt man den Eindruck, dass sie ihm vor allem selbst als Dope dienen.

Liverpool – Racism kills

Layal Liverpool

Racism kills. Wie systematischer Rassismus der Gesundheit schadet und was wir dagegen tun können

aus dem Englischen von Regina M. Schneider

br., 461 Seiten, 24,70 €, Berlin 2024 (Aufbau-Verlag)

von Marianne Rosenfelder

Ohne die großen Herren der Philosophie beim Namen zu nennen, – aber sie sind nicht unschuldig, wenn das genus proximum von Personen substituiert und bewertet wird durch so triviale differentiae specificae wie Hautfarbe oder Haartextur. Der Begriff der Rasse – auf Menschen angewandt – wurde schon vor etlichen Jahrzehnten wissenschaftlich widerlegt. Doch scheint dies seiner verhängnisvollen Nachhaltigkeit keinen Abbruch zu tun.

Die Ärztin und Wissenschaftsjournalistin Layal Liverpool geht der longue durée des Begriffs auf dem Gebiet der Medizin nach und dokumentiert und kritisiert den hohen „gesundheitlichen Tribut“, den „Rassismus und Diskriminierung fordern“ (15). Ihr Buch basiert auf wissenschaftlichen Studien, Statistiken, historischen Rekursen zu Anthropologie und Medizin sowie auf Fallstudien und Interviews mit Medizinern, Forschern und betroffenen BIPoC (Black Indigenous People of Colour), die ihre Erfahrungen mit Rassismus im Gesundheitssystem einbringen. Zudem reflektiert die Autorin ihre Familiengeschichte und ihre eigenen Erfahrungen als PoC (Person of Colour) sowie die Variabilität ethnischer Identität durch Selbst- und Fremdzuschreibung.

Liverpool liefert statistisch valide Nachweise, dass die durch Stereotype bedingten Verzerrungen im Gesundheitssystem auf der Überzeugung beruhen, „Rasse“ sei ein biologisches Merkmal. Doch race ist ein soziales Konstrukt mit Rassismus im Gefolge. Die Kategorie der „Rasse“ ist genetisch irrelevant. Vielmehr ist „die generische Variation einzelner Individuen innerhalb einer menschlichen Population aus dem selben demographischen Großraum größer … als zwischen denen einzelner Populationen“ (19 f.). Als schwarz gelesene Menschen sind untereinander nicht enger verwandt als Afrikaner:innen mit Europäer:innen (23). Trotz wissenschaftlicher Evidenz dieses Sachverhalts werden gesundheitliche Disparitäten weiterhin biologistisch, ergo deterministisch, begründet, ohne Rassismus als ihre eigentliche Ursache zu benennen. Zudem ist die Forschung auf weiße Patienten fokussiert und defizitär gegenüber BIPoC.

Prinzipiell birgt jede Art der Diskriminierung – sei es aufgrund von Rasse, Klasse, Geschlechtsidentität oder Behinderung sowie einer Verschränkung dieser Kriterien – ein medizinisches Risiko. Gesellschaftliche und gesundheitliche Benachteiligung bedingen einander. Wie Statistiken zu Corona belegen, sind ausgrenzende Gesellschaften anfälliger für infektiöse Krankheiten. Dass Rasse eine historisch bedingte soziale Kategorie ist, zeigen die Apartheitsgesetze in Südafrika oder die Jim-Crow-Gesetze in den USA. Dennoch hat, wie die Autorin belegt, die Willkür und Absurdität rassistischer Kategorisierungen die Wissenschaft der Medizin bis dato fest im Griff – und dies mit drastischen Konsequenzen für die öffentliche Gesundheit und für die betroffenen Patienten, deren medizinische Daten, automatisiert durch Algorithmen, ärztliches Handeln beeinflussen.

Das effektivste Antidot gegen Rassismus in der Medizin wäre Aufklärung, denn die Folgen von Rasse als biologische Kategorie sind fatal. Etliche Absurditäten der racial bias sollten daher nicht unerwähnt bleiben. Allen voran die Mär von der kräftigeren Haut und der Schmerzresistenz von BIPoC, mittels derer sich Sklavenhalter und Kolonisten von Schuld für ihre Grausamkeiten entlasteten. Dieses bis dato virulente Klischee führt zu einer Bagatellisierung von Krankheitssymptomen von PoC.

In der Psychotherapie und Psychiatrie werden rassistische Demütigungen meist gar nicht erst thematisiert. Ärzte fokussieren bei PoC auf Psychosen, Zwangseinweisungen inklusive. Im 19. Jahrhundert wurde die Flucht aus der Sklaverei als die psychische Krankheit der „Drapetomanie“ diagnostiziert, noch in den 1960er Jahren wurde der Kampf um Bürgerrechte als „Protest-Psychose“ pathologisiert. Bei Gehirnerschütterungen erfolgt race norming durch kognitive Funktionstests mit im Vergleich zu Weißen niedrigeren Grenzwerten.

In der Spirometrie wurden erst unlängst auf „Rasse“ basierende Parameter verworfen. Dafür ist seit 1999 international ein race norming der Kreatinin-Werte Usus. Ausgehend von dem Stereotyp als schwarz eingestufte Patienten hätten mehr Muskelmasse, wird mittels eines Multiplikators ein höherer Testwert generiert. Um als nierenkrank eingestuft zu werden, müssen Schwarze bereits schwer krank sein. Weitere Ungleichheiten für PoC bestehen bei Krebs, bei kardiovaskulären Erkrankungen und bei Infektionen.

Rassismus ist ein chronischer Stressor. Und Geld nützt bei Rassismus auch nicht viel. Der Schutzeffekt eines hohen sozioökonomischen Status ist für PoC nachweisbar ziemlich gering.

In Teil I dokumentiert Liverpool das global nachweisbare gesundheitliche Gefälle zwischen den ethnischen Gruppierungen innerhalb einzelner Länder. Ihre Analyse erfasst Ungleichheiten gegenüber rassifizierten Gruppen primär in den USA, aber auch in Großbritannien, Kanada, China, Brasilien, Nigeria, Mexiko, Australien sowie im indischen Kastensystem.

In Teil II geht es um die Bedrohung der öffentlichen Gesundheit durch systemischen Rassismus, also die Verweigerung des Zugangs zu „hochwertiger Gesundheitsversorgung“ aus ethnischen Gründen (122f.). Tradierte Armut, Umweltrassismus, Wohngegenden mit hoher Luftverschmutzung sind gesundheitsschädigende Erscheinungsformen von systemischem Rassismus. Hinzu kommt Colourism, also Diskriminierung innerhalb der rassifizierten Gruppe durch internalisierte Farbhierarchien.

Sozialer Alltagsrassismus hat psychische und physische Folgen. Bereits die Antizipation rassistischer Ausgrenzung strapaziert das vegetative Nervensystem. Die Autorin plädiert daher für die Anerkennung von Rassismus als „chronisches Stressmoment und akut traumatisches Erlebnis“ und als durch Sklaverei bedingtes, epigenetisch nachweisbares transgenerationelles Trauma.

In Teil III weist die Autorin nach, dass Rassismus in der Medizin „ethnisch bedingte, gesundheitsbezogene Ungleichheiten weiter verfestigt“, z. B. durch eine rassifizierte Ausbildung, durch einen prozentual geringen Anteil ethnischer Minderheiten in Medizin und Wissenschaft oder durch die Tradierung und Verstetigung rassistischen Gedankenguts (244/5). Liverpool appelliert an die Mediziner, ihren eigenen Rassismus anzuerkennen, den Patienten zuzuhören und zu unterscheiden zwischen Rasse „als Parameter für gesundheitliche Risiko-Scores“ und Rassismus als soziales Konstrukt, das gesundheitliche Ungleichheiten ermöglicht (281).

Der Titel der englischen Ausgabe des Buches lautet Systemic: How Racism is making us ill. Das klingt weniger dramatisch als der deutsche Titel Racism kills. Dafür fokussiert der deutsche Untertitel „… und was wir dagegen tun können“ auf Liverpools in Teil IV dargelegte Vorschläge zur Lösung des Problems medizinischer Ungleichbehandlung gegenüber BIPoC.

Liverpool fordert Datenerhebungen zu ethnischen Disparitäten in Kranken- und Sterberaten, um die racial bias im Gesundheitswesen zu beheben. Da multiethnische Studien nachweisbar zu besseren Therapien führen, könnte auch die weltweite Vielfalt genetischer Varianten die medizinische Forschung voranbringen. Allerdings sollten Medikamente, die mittels der Daten von PoC entwickelt wurden, diesen auch zugute kommen und rassistische Praktiken wie die Tuskegee-Experimente (1943-1972) oder heimliche Probenentnahmen wie im Fall der HeLa-Zellen (1950) geächtet werden. Die Genome indigener Völker seien Bodenschätzen vergleichbar, die es vor neo-kolonialer Ausbeutung und Kommerzialisierung ihrer DNA durch die Wissenschaft und die Pharmaindustrie zu schützen gilt durch Maßnahmen wie Rechte an den Resultaten, finanzielle Beteiligungen oder medizinische Infrastruktur.

Die Autorin hält ethnisch bedingte gesundheitsbezogene Ungleichheiten für ein globales, aber nicht unabwendbares Problem. Als das Buch 2024 herauskam, war diese Einschätzung noch berechtigt. Doch nach den Beschlüssen der US-Abwicklungsverwaltung, insbesondere bezüglich USAID, hat sich bereits jetzt die die Situation verschlechtert.

Besonders in Liverpools Forderung nach Aufhebung der data gaps zeigt sich die Ambivalenz des Begriffs der Rasse, die auch seit 2000 in den Diskussionen um die Streichung des Begriffs aus Artikel 3 des Grundgesetzes zum Ausdruck kam. Der Begriff ist a priori historisch negativ belastet und wissenschaftlich unhaltbar. Es gibt de facto keine Menschenrassen. Doch durch den Tatbestand des Rassismus oder des othering, also als soziale Konstruktion, die mit dem Begriff race (entsprechend der sozialen Konstruktion von gender) umschrieben wird, erhält der Begriff seine Relevanz, indem er die Voraussetzung der Justiziabilität rassistischer Ungleichbehandlung und Diskriminierung bildet. Dies war auch die Begründung für dessen Beibehaltung in Artikel 3 GG.

Die von der New York Times am 7. März 2025 veröffentlichte Liste mit 200 Worten, die die momentane US-Administration von öffentlichen Websites, Curricula und dergleichen zu löschen plant, hat also Methode, und es bleibt zu hoffen, dass diese Methode nicht auch andernorts Schule macht. Neben Begriffen zu Klima, Kultur, Gender, Diversität ist praktisch das gesamte Wortfeld betroffen, von dem das vorliegende Buch handelt. Wie wird man also künftig rassistische und ethnische Ungleichbehandlung einklagen können, wenn folgende Begriffe nicht mehr zur Verfügung stehen?: at risk, bias(ed), BIPOC, disability (pl.), discrimination, disparity, ethnicity, in-equality, equal opportunity, health disparity, inclusion, minority (pl.), Native American, political, pregnant person, prejudice, race, race & ethnicity, racial diversity, r. inequality, r. justice, racism, segregation, stereotype (pl.), systemic, social justice, trauma, traumatic, tribal underprivileged, underrepresented, victim (pl.) und women.

Racism kills ist und bleibt ein Politikum. Als engagierte Autorin steht Liverpool, wie es aussieht, mit ihrem Thema vor neuen großen Herausforderungen.