Layal Liverpool

Racism kills. Wie systematischer Rassismus der Gesundheit schadet und was wir dagegen tun können

aus dem Englischen von Regina M. Schneider

br., 461 Seiten, 24,70 €, Berlin 2024 (Aufbau-Verlag)

von Marianne Rosenfelder

Ohne die großen Herren der Philosophie beim Namen zu nennen, – aber sie sind nicht unschuldig, wenn das genus proximum von Personen substituiert und bewertet wird durch so triviale differentiae specificae wie Hautfarbe oder Haartextur. Der Begriff der Rasse – auf Menschen angewandt – wurde schon vor etlichen Jahrzehnten wissenschaftlich widerlegt. Doch scheint dies seiner verhängnisvollen Nachhaltigkeit keinen Abbruch zu tun.

Die Ärztin und Wissenschaftsjournalistin Layal Liverpool geht der longue durée des Begriffs auf dem Gebiet der Medizin nach und dokumentiert und kritisiert den hohen „gesundheitlichen Tribut“, den „Rassismus und Diskriminierung fordern“ (15). Ihr Buch basiert auf wissenschaftlichen Studien, Statistiken, historischen Rekursen zu Anthropologie und Medizin sowie auf Fallstudien und Interviews mit Medizinern, Forschern und betroffenen BIPoC (Black Indigenous People of Colour), die ihre Erfahrungen mit Rassismus im Gesundheitssystem einbringen. Zudem reflektiert die Autorin ihre Familiengeschichte und ihre eigenen Erfahrungen als PoC (Person of Colour) sowie die Variabilität ethnischer Identität durch Selbst- und Fremdzuschreibung.

Liverpool liefert statistisch valide Nachweise, dass die durch Stereotype bedingten Verzerrungen im Gesundheitssystem auf der Überzeugung beruhen, „Rasse“ sei ein biologisches Merkmal. Doch race ist ein soziales Konstrukt mit Rassismus im Gefolge. Die Kategorie der „Rasse“ ist genetisch irrelevant. Vielmehr ist „die generische Variation einzelner Individuen innerhalb einer menschlichen Population aus dem selben demographischen Großraum größer … als zwischen denen einzelner Populationen“ (19 f.). Als schwarz gelesene Menschen sind untereinander nicht enger verwandt als Afrikaner:innen mit Europäer:innen (23). Trotz wissenschaftlicher Evidenz dieses Sachverhalts werden gesundheitliche Disparitäten weiterhin biologistisch, ergo deterministisch, begründet, ohne Rassismus als ihre eigentliche Ursache zu benennen. Zudem ist die Forschung auf weiße Patienten fokussiert und defizitär gegenüber BIPoC.

Prinzipiell birgt jede Art der Diskriminierung – sei es aufgrund von Rasse, Klasse, Geschlechtsidentität oder Behinderung sowie einer Verschränkung dieser Kriterien – ein medizinisches Risiko. Gesellschaftliche und gesundheitliche Benachteiligung bedingen einander. Wie Statistiken zu Corona belegen, sind ausgrenzende Gesellschaften anfälliger für infektiöse Krankheiten. Dass Rasse eine historisch bedingte soziale Kategorie ist, zeigen die Apartheitsgesetze in Südafrika oder die Jim-Crow-Gesetze in den USA. Dennoch hat, wie die Autorin belegt, die Willkür und Absurdität rassistischer Kategorisierungen die Wissenschaft der Medizin bis dato fest im Griff – und dies mit drastischen Konsequenzen für die öffentliche Gesundheit und für die betroffenen Patienten, deren medizinische Daten, automatisiert durch Algorithmen, ärztliches Handeln beeinflussen.

Das effektivste Antidot gegen Rassismus in der Medizin wäre Aufklärung, denn die Folgen von Rasse als biologische Kategorie sind fatal. Etliche Absurditäten der racial bias sollten daher nicht unerwähnt bleiben. Allen voran die Mär von der kräftigeren Haut und der Schmerzresistenz von BIPoC, mittels derer sich Sklavenhalter und Kolonisten von Schuld für ihre Grausamkeiten entlasteten. Dieses bis dato virulente Klischee führt zu einer Bagatellisierung von Krankheitssymptomen von PoC.

In der Psychotherapie und Psychiatrie werden rassistische Demütigungen meist gar nicht erst thematisiert. Ärzte fokussieren bei PoC auf Psychosen, Zwangseinweisungen inklusive. Im 19. Jahrhundert wurde die Flucht aus der Sklaverei als die psychische Krankheit der „Drapetomanie“ diagnostiziert, noch in den 1960er Jahren wurde der Kampf um Bürgerrechte als „Protest-Psychose“ pathologisiert. Bei Gehirnerschütterungen erfolgt race norming durch kognitive Funktionstests mit im Vergleich zu Weißen niedrigeren Grenzwerten.

In der Spirometrie wurden erst unlängst auf „Rasse“ basierende Parameter verworfen. Dafür ist seit 1999 international ein race norming der Kreatinin-Werte Usus. Ausgehend von dem Stereotyp als schwarz eingestufte Patienten hätten mehr Muskelmasse, wird mittels eines Multiplikators ein höherer Testwert generiert. Um als nierenkrank eingestuft zu werden, müssen Schwarze bereits schwer krank sein. Weitere Ungleichheiten für PoC bestehen bei Krebs, bei kardiovaskulären Erkrankungen und bei Infektionen.

Rassismus ist ein chronischer Stressor. Und Geld nützt bei Rassismus auch nicht viel. Der Schutzeffekt eines hohen sozioökonomischen Status ist für PoC nachweisbar ziemlich gering.

In Teil I dokumentiert Liverpool das global nachweisbare gesundheitliche Gefälle zwischen den ethnischen Gruppierungen innerhalb einzelner Länder. Ihre Analyse erfasst Ungleichheiten gegenüber rassifizierten Gruppen primär in den USA, aber auch in Großbritannien, Kanada, China, Brasilien, Nigeria, Mexiko, Australien sowie im indischen Kastensystem.

In Teil II geht es um die Bedrohung der öffentlichen Gesundheit durch systemischen Rassismus, also die Verweigerung des Zugangs zu „hochwertiger Gesundheitsversorgung“ aus ethnischen Gründen (122f.). Tradierte Armut, Umweltrassismus, Wohngegenden mit hoher Luftverschmutzung sind gesundheitsschädigende Erscheinungsformen von systemischem Rassismus. Hinzu kommt Colourism, also Diskriminierung innerhalb der rassifizierten Gruppe durch internalisierte Farbhierarchien.

Sozialer Alltagsrassismus hat psychische und physische Folgen. Bereits die Antizipation rassistischer Ausgrenzung strapaziert das vegetative Nervensystem. Die Autorin plädiert daher für die Anerkennung von Rassismus als „chronisches Stressmoment und akut traumatisches Erlebnis“ und als durch Sklaverei bedingtes, epigenetisch nachweisbares transgenerationelles Trauma.

In Teil III weist die Autorin nach, dass Rassismus in der Medizin „ethnisch bedingte, gesundheitsbezogene Ungleichheiten weiter verfestigt“, z. B. durch eine rassifizierte Ausbildung, durch einen prozentual geringen Anteil ethnischer Minderheiten in Medizin und Wissenschaft oder durch die Tradierung und Verstetigung rassistischen Gedankenguts (244/5). Liverpool appelliert an die Mediziner, ihren eigenen Rassismus anzuerkennen, den Patienten zuzuhören und zu unterscheiden zwischen Rasse „als Parameter für gesundheitliche Risiko-Scores“ und Rassismus als soziales Konstrukt, das gesundheitliche Ungleichheiten ermöglicht (281).

Der Titel der englischen Ausgabe des Buches lautet Systemic: How Racism is making us ill. Das klingt weniger dramatisch als der deutsche Titel Racism kills. Dafür fokussiert der deutsche Untertitel „… und was wir dagegen tun können“ auf Liverpools in Teil IV dargelegte Vorschläge zur Lösung des Problems medizinischer Ungleichbehandlung gegenüber BIPoC.

Liverpool fordert Datenerhebungen zu ethnischen Disparitäten in Kranken- und Sterberaten, um die racial bias im Gesundheitswesen zu beheben. Da multiethnische Studien nachweisbar zu besseren Therapien führen, könnte auch die weltweite Vielfalt genetischer Varianten die medizinische Forschung voranbringen. Allerdings sollten Medikamente, die mittels der Daten von PoC entwickelt wurden, diesen auch zugute kommen und rassistische Praktiken wie die Tuskegee-Experimente (1943-1972) oder heimliche Probenentnahmen wie im Fall der HeLa-Zellen (1950) geächtet werden. Die Genome indigener Völker seien Bodenschätzen vergleichbar, die es vor neo-kolonialer Ausbeutung und Kommerzialisierung ihrer DNA durch die Wissenschaft und die Pharmaindustrie zu schützen gilt durch Maßnahmen wie Rechte an den Resultaten, finanzielle Beteiligungen oder medizinische Infrastruktur.

Die Autorin hält ethnisch bedingte gesundheitsbezogene Ungleichheiten für ein globales, aber nicht unabwendbares Problem. Als das Buch 2024 herauskam, war diese Einschätzung noch berechtigt. Doch nach den Beschlüssen der US-Abwicklungsverwaltung, insbesondere bezüglich USAID, hat sich bereits jetzt die die Situation verschlechtert.

Besonders in Liverpools Forderung nach Aufhebung der data gaps zeigt sich die Ambivalenz des Begriffs der Rasse, die auch seit 2000 in den Diskussionen um die Streichung des Begriffs aus Artikel 3 des Grundgesetzes zum Ausdruck kam. Der Begriff ist a priori historisch negativ belastet und wissenschaftlich unhaltbar. Es gibt de facto keine Menschenrassen. Doch durch den Tatbestand des Rassismus oder des othering, also als soziale Konstruktion, die mit dem Begriff race (entsprechend der sozialen Konstruktion von gender) umschrieben wird, erhält der Begriff seine Relevanz, indem er die Voraussetzung der Justiziabilität rassistischer Ungleichbehandlung und Diskriminierung bildet. Dies war auch die Begründung für dessen Beibehaltung in Artikel 3 GG.

Die von der New York Times am 7. März 2025 veröffentlichte Liste mit 200 Worten, die die momentane US-Administration von öffentlichen Websites, Curricula und dergleichen zu löschen plant, hat also Methode, und es bleibt zu hoffen, dass diese Methode nicht auch andernorts Schule macht. Neben Begriffen zu Klima, Kultur, Gender, Diversität ist praktisch das gesamte Wortfeld betroffen, von dem das vorliegende Buch handelt. Wie wird man also künftig rassistische und ethnische Ungleichbehandlung einklagen können, wenn folgende Begriffe nicht mehr zur Verfügung stehen?: at risk, bias(ed), BIPOC, disability (pl.), discrimination, disparity, ethnicity, in-equality, equal opportunity, health disparity, inclusion, minority (pl.), Native American, political, pregnant person, prejudice, race, race & ethnicity, racial diversity, r. inequality, r. justice, racism, segregation, stereotype (pl.), systemic, social justice, trauma, traumatic, tribal underprivileged, underrepresented, victim (pl.) und women.

Racism kills ist und bleibt ein Politikum. Als engagierte Autorin steht Liverpool, wie es aussieht, mit ihrem Thema vor neuen großen Herausforderungen.

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