Slavoj Žižek

Die Paradoxien der Mehrlust. Ein Leitfaden für die Nichtverwirrten

Tb., 491 Seiten, 22,- €, Frankfurt/Main 2023 (S. Fischer-Verlag)

von Ottmar Mareis

Im ersten Teil seines Buches unternimmt Žižek den Versuch, den Kapitalismus durch das Theorem der Mehrlust, das auf Jacques Lacans Jouissance basiert, zu erklären. Der Kapitalismus, so Žižek, bestehe hauptsächlich aus dem Mehrwert, den die Kapitalisten aus der Arbeit der Proletarier und Angestellten pressen. Dieser fließe ihnen automatisch zu und sei das Wesen des profitorientierten Wirtschaftens. Der Kapitalismus sei mit dem Mehrwert in so essentieller Weise verbunden, dass alle Anstrengungen, den Kapitalismus abzuschaffen, an dieser unverwüstlichen Verflechtung gescheitert sind und daran scheitern werden. Diese Lust, aus der Arbeit anderer Mehrwert zu schöpfen, entspricht nach Žižek dem Konstrukt der Mehrlust in der Theorie Lacans. Doch dieser Vergleich von Mehrwert und Mehrlust hinkt ziemlich, wie sich zeigen wird. Er könnte erklären, warum Žižek sich einen lacanschen Marxisten nennt; aber mindestens die Hälfte der von ihm im Weiteren vorgestellten lacanschen Konstrukte belegen, dass sie nichts mit der Rationalität der Analysen von Marx gemein haben, sondern vielmehr in einen Obskurantismus münden.

In seinem Werk bemüht sich Žižek die Fortdauer des Kapitalismus anhand ausgewählter lacanscher Theoreme zu erklären und diese allgemein verständlich zu machen. Er unterschlägt jedoch, dass Lacan zu seiner Zeit der wohl größte Kritiker der französischen 68er wie der Linken war. Zudem würde Lacan es vehement ablehnen, mit Marx kurzgeschlossen zu werden, wie übrigens vice versa genauso Marx, was Lacan betrifft. Der Redlichkeit halber hätte Žižek eine Geschichte schreiben müssen, wie und mit welchen Theoremen Lacan die Linke in den 70ern so vehement angriff. Als notorischer Lacanverehrer versucht Žižek stattdessen, die lacanschen Konstrukte der Jouissance, der Erwartung der Mehrlust, der Jouissance des großen Anderen sowie der subjektiven Destitution für eine Gegenwartsanalyse fruchtbar zu machen. Die Frage stellt sich daher, ob und in welchen Teilen seines Werks ihm das gelingt.

Im Hauptteil des Buches wird Lacans Theorie, wie schon in anderen Büchern, vertieft und angewendet. Nach Lacan, der 1981 starb, leben wir seit den 70er Jahren in der Postmoderne, in der es, nach der 68er Studentenrevolte und ihrer “sexuellen Befreiung“ im Westen, kaum mehr Unterdrückung gebe. In Lacans Denken ist das (sexuelle) Begehren jedoch essentiell als Reaktanz auf die Unterdrückung angewiesen. Aus seiner Sicht begann daher mit dem Verschwinden der Unterdrückung auch das ‚Endspiel‘ des Begehrens. Das Begehren, der Eros, befinde sich sozusagen in einer profunden Agonie, die schwere psychische Folgen zeitige. Diese lassen sich an der enormen Zunahme, ja der Epidemie von Burnouts und Depressionserkrankungen seit dieser Zeit ablesen.

Žižek geht es im Folgenden darum aufzuzeigen, dass die Mehrlust, durch ihre Tücken und Paradoxien hindurch, auch gravierende repressive Konsequenzen birgt. Einen ersten Eindruck dieser Paradoxie vermittelt Žižek am Verhalten Lacans bei dessen öffentlichen oder privaten Diners, nicht nur im Kreis seiner Student:innen. Für ihn sei es bei solchen Anlässen völlig normal gewesen, lustvoll laut zu furzen, – ohne dass er darauf angesprochen wurde. Erschien Lacan das Gericht von Gästen als schmackhafter als das von ihm bestellte, tauschte er die Teller ungefragt aus, – ohne dass die Betroffenen sich wehrten. Auf diese Szenen folgend, lotet Žižek detailreich aus, warum wir uns nicht wehren, was wir von solcher Unterdrückung haben und mehr noch, „warum wir unsere Unterdrückung genießen.“ Er führt an Beispielen aus der Literatur, Musik und Filmen (Vikings, Solaris, Katla, Rammstein, Schostakowitsch) aus, warum vor allem das Genießen der Unterdrückung mit der Erwartung der Mehrlust des Begehrens verbunden ist, und wie diese am lacanschen Theorem vom großen Anderen andockt.

Plastisch wird dies anhand des ersten Finales von Bert Brechts „Dreigroschenoper“ veranschaulicht. In ihm wünscht sich Polly einen Mann, den sie wirklich lieben kann. Auch wenn Vater Peachum ihr mit der Bibel in der Hand Recht gibt, kommt unerwartet die Wende: „Das Recht des Menschen ist‘s auf dieser Erden, da er doch nur kurz lebt, glücklich zu sein, teilhaftig aller Lust der Welt zu werden, zum Essen Brot zu kriegen und nicht einen Stein. Das ist des Menschen nacktes Recht auf Erden, doch leider hat man bisher nie vernommen, dass etwas recht war und dann war’s auch so! Wer hätte nicht gern einmal Recht bekommen? Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so… Wir wären gut anstatt so roh. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.“

Žižek merkt an, dass dieser Text sich nur mit Weills raffinierter Musik deuten lässt. Die erste Hälfte mutet an wie eine getragene, langweilige religiöse Predigt. Die zweite jedoch weist eine fröhlich zynische, quirlige Intonation auf: „Die offensichtliche Freude, mit der das Unerfreuliche (die traurige Botschaft) überbracht wird, ist die Mehrlust in ihrer reinsten Form.“ Die letzten zwei Sätze nehmen gar einen ekstatischen Ton an. Žižek beobachtet parallel dazu, dass auch bei den Linken oft auf „die Verhältnisse“ verwiesen wird, die sie allein nicht ändern können. Er macht darin eine ähnlich heuchlerische Jouissance aus, dass man, um gegen sie zu kämpfen, selbst auch roh sein dürfe, dass man also das Rohsein gewissermaßen ausschweifend genieße.

Diesem zynischen Genießen geht Žižek noch weiter auf den Grund. Dass wir durch unsere Entfremdung hindurch genießen, bedeute, dass unser Genießen durch den großen Anderen vermittelt sei. Genauer gesagt: das für uns unzugängliche Genießen des Anderen, z.B. das dem Mann unzugängliche Genießen der Frau oder das imaginierte Genießen einer fremden Ethnie, wird projektiv sadomasochistisch verstärkt.

So gehe es auch bei der von Donald Trump bis heute aufrechterhaltenen Lüge „Stop the Steal“, mit der er seine Fans aufs Kapitol hetzte, nur oberflächlich um den vermeintlichen Klau der Wahl. Unbewusst skandierten sie vielmehr: „Stoppt den verrückten Genußklau, now!“ Im karnevalesken Charakter des Kapitolsturms plus dazugehörigem Schamanen agieren Trumps Fans eigentlich das Zurückerobern derjenigen Jouissance aus, die sie bei anderen ethnischen wie Gender-Gruppen (PoC, Mexikanern, Arabern, LGBTQ-Personen etc.) wirken wähnen. In Anlehnung an die slowenische Philosophin Alenka Zupancic weist Žižek darauf hin, dass es sich hierbei weniger um ein individuelles persönliches Genießen handelt, sondern – ähnlich einem unpersönlichen Gottesglauben – um ein unpersönliches Genießen durch das „Subjekt einer Gestalt des großen Anderen.“ Dieses unpersönliche Genießen definiere als eine Art monströser Befangenheit die Perversion. So ist auch nach Lacan der Perverse derjenige, der sich als Werkzeug des Genießens des Anderen begreift. Dass wir angeblich oft wegsehen oder den Blick abwenden, wenn Marginalisierte geopfert werden, zeigt nach Lacan, „dass wir im Objekt unserer Begierden die Bestätigung dafür suchen, dass ein Begehren jenes Anderen, den ich hier Deus obscurus nennen will, präsent ist.“ Der monströse Bann oder die Befangenheit, in der ein Perverser handele, spiegele wider, was er für das Genießen seines Abgotts tut. Der Perverse sei daher kein fieser Kretin, der es genieße, seine Opfer zu quälen, sondern „ein kalter Profi, der seine Pflicht auf unpersönliche Weise um der Pflicht willen tut.“

Nach der Erklärung solchen Genießens vertritt Žižek eine weitere gewagte These, die seine bisherige stützen soll. Nach Hannah Arendt basiere die Verwandlung eines „gewöhnlichen Sadisten zu einem richtigen Perversen“ auf einer bewussten, absichtlichen Reorganisation wie in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, als nämlich die SS die Lagerverwaltung von der SA übernahm.

„Hinter der blinden Vertiertheit jener SA-Leute war oft deutlich ein überwältigender Haß des Ressentiments zu spüren gegen alle sozial oder geistig oder körperlich besser Weggekommenen, die man nun, als Erfüllung unmöglich geglaubter Wunschträume, in seiner Macht hatte. Es ist bezeichnend, dass dieses Ressentiment, von dem auch noch später in den Konzentrationslagern einiges zu spüren war, auf uns wie ein letzter Rest menschlich verstehbaren Verhaltens wirkt. Das eigentlich Grauenhafte der Lager jedoch ist, dass diese spontane Vertiertheit in den deutschen Lagern mehr und mehr zurücktrat, nachdem die SS ihre Verwaltung übernommen hatte, und von einer absolut kalten, absolut berechnenden und systematischen Zerstörung der menschlichen Körper zum Zwecke der Zerstörung der menschlichen Würde abgelöst wurde, die sich genug in der Gewalt hatte, den Tod zu verhindern oder auf unabsehbar lange Zeit hinauszuschieben. Die Lager waren jetzt nicht mehr der Tummel- und Vergnügungsplatz von Bestien in Menschengestalt, das heißt von Menschen, die eigentlich in Schwachsinnigenheime, Irrenanstalten und Gefängnisse gehörten, sondern umgekehrt: sie wurden zu den Exerzierplätzen, auf denen vollkommen normale Menschen zu vollgültigen Mitgliedern der SS erzogen wurden.“ (Arendt)

Als Beispiel führt Žižek Adolf Eichmann an, der sich immer auf den Befehlsnotstand berufen hatte, der Befehlen angeblich nur gehorchte, um seine Pflicht als Bürokrat zu tun. Er wollte keinerlei persönlichen Genuss verspürt haben, als er die Shoa ins Werk setzte, obwohl ihm irgendwie klar war, dass er dieses Grauen maßgeblich mitorganisierte. Doch Žižek insistiert darauf, dass genau diese Pflicht Teil seines Genießens war, es war sogar „das, was seinem Genießen ein Mehr hinzufügte – er genoss, aber er genoss auf eine rein interpassive Weise durch den Anderen, den dunklen Gott, den de Sade als das höchste Wesen an Bösartigkeit bezeichnet (l’être suprême en méchanceté).“

Žižek versteht sein Werk durchaus als kritische Reflexionsform, so jedenfalls lassen sich Teile seines Buches lesen. Doch die Frage sei erlaubt, ob er nicht im Hauptteil mit Theoremen arbeitet, die denen ultrakonservativer, reaktionärer, theologischer und sogar faschistischer Provenienz ähneln. Denn Hitler und die NSdAP wollten dem „deutschen Volk“ sowohl ihren Willen als auch den unbedingten Gehorsam aufzwingen. Aber hat sich dieses Volk nicht freiwillig ekstatisch seinem „obskuren Gott“ unterworfen? Und hat es die Unterwerfung nicht ultimativ genossen? Mit Lacan formuliert: Hat das Volk nicht alles für die Jouissance des Führers getan, mehr noch, „sich als Werkzeug des Genießens des großen Anderen begriffen?“ Wenn aber Žižek solche lacanschen Konstrukte der Jouissance auf den Nationalsozialismus bezieht, – laufen sie nicht auf eine Exkulpierung der je individuellen Schuld hinaus? Und hatte nicht schon Adolf Hitler in „Mein Kampf“ fabuliert, dass man das Volk als passive Masse, als Frau, begreifen solle, die es genießt, unterworfen zu werden? Jeder mag selbst entscheiden, ob diese Argumentationsmuster einander „verwandt“ sind.

Im letzten Teil des Buches wendet sich Žižek der „subjektiven Destitution“ zu, einem weiteren lacanschen Theorem. Diese sieht er etwa im Selbstopfer der Brechtschen „Maßnahme“ wie auch in der Begeisterung jeglicher revolutionärer Bewegung am Werke. Die freiwillige Zustimmung zur eigenen Opferung unter die Ideologie der kommunistischen Partei beziehungsweise ihren Richterspruch sei zudem die Methode der Wahl, um dem korrumpierten Genießen, wie es in der „Dreigroschenoper“ vorgeführt wird, zu entkommen. Man bleibt öfter sprach- und ratlos bei Žižeks Interpretationen; denn es bleibt offen, ob er diesen Deutungen nicht auch zustimmt.

In der subjektiven Destitution, so Žižek, sei „das Subjekt radikal gespalten in eine reine Leere und das Objekt, das es ist.“ Auf diese Weise würden wir „die Sterblichkeit überwinden und erlangen den Zustand des Untoten: kein Leben nach dem Tod, sondern Tod im Leben, keine Aufhebung der Entfremdung, sondern extreme, selbstabschaffende Entfremdung – wir geben den Maßstab auf, an dem wir Entfremdung messen.“ Diese Auflösung sieht er auch in den Nirwana-Religionen, den Mystikern und letztlich in den Bewegungen des religiösen Fundamentalismus wie den Taliban am Werk. Sie immunisiere gegen Vernunftgründe und mache ihre Vertreter unerreichbar, zudem unangreifbar.

Da der westliche Universalismus nach Žižek an einem passiven Nihilismus leide, evoziere er religiöse Fundamentalismen als Reaktanz. Ihnen gelte es, mit einem aktiven Nihilismus a là Nietzsche zu begegnen, d.h. mit einem Ausbruch wahrer selbstzerstörerischer Negativität, den Žižek anhand distinguierter Produkte der Popkultur wie auch an dem Film und der Figur des „Jokers“ erklärt. Der Joker ist eine vollkommen vereinsamte Figur, die dem Missbrauch und der Vernachlässigung durch seine psychisch kranke Mutter ausgesetzt war, die ihrerseits, vielen Alleinerziehenden gleich, unter Vereinsamung litt. Die kritische Perspektive des Films besteht nun darin, dass er die kapitalistische Gesellschaft und ihre Medien als Verursacher dieser Misere im Denken und Handeln des Jokers ins Visier nimmt. Zwar kreist die psychische Labilität des Jokers immer um die subjektive Destitution; aber zugleich wendet sich diese abgründige Leere im Subjekt gegen die sie verursachende Gesellschaft. Am Ende des Films wird Joker in eine Talkshow eingeladen, in der Murray, der Talkmaster, im üblichen TrashTV-Stil beginnt, über die Verrücktheit des Psycho-Jokers herzuziehen. Doch am Schluss des Gesprächs greift der Joker Murray zunächst verbal an: ob er überhaupt wisse, wie die Welt außerhalb seines TV-Studios aussehe? Er prangert die enorme Spaltung, Vereinzelung und Atomisierung der US-Gesellschaft an. Das Gespräch eskaliert, bis der Joker Murray vor laufender Kamera erschießt.

Die Zuschauer aber sympathisieren mit dem Joker. Gleichzeitig ist man entsetzt über die Gewalt, die einerseits durch die Talkshows, andererseits durch die Eskalation der Gewalt in der Talkshow ausgeübt wird. „Joker“ ist einer der wenigen Filme, denen es gelingt, dass man sich als Zuschauer zugleich als Voyeur entlarvt fühlt.

Dieses letzte Kapitel in Žižeks Buch hätte mit seinen gekonnten Schattierungen der verschiedenen Nihilismen in den westlichen Gesellschaften hindurch mit dem ersten Teil durchaus eine aktuelle und kreative Zeit- und Gesellschaftskritik bieten können. Da der Autor jedoch zu stark von sich überzeugt, teils sogar unangenehm von sich selbst berauscht ist, gewinnt man den Eindruck, dass sie ihm vor allem selbst als Dope dienen.

Schreibe einen Kommentar