Fleury – Die Klinik der Würde

Cynthia Fleury

Die Klinik der Würde

geb., 150 Seiten, 24,- €

Berlin 2024 (Suhrkamp Verlag)

von Marianne Rosenfelder

Die westlichen Demokratien haben Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte und Würde verfassungsrechtlich verankert. Doch ist es, wie die Autorin darlegt, besonders um die Würde schlecht bestellt, obgleich der Begriff die sozialen, politischen und ethischen Debatten prägt und seine Anwendung ubiquitär ist.

Die Divergenz von Theorie und Praxis ist eklatant; denn die theoretische Wertschätzung der menschlichen Würde als universeller Grundwert und als Anerkennung der „Singularität und Vulnerabilität der Menschen“ wird konterkariert durch Armut, Prekarisierung und zunehmend entwürdigende Zustände in Institutionen wie Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern, Altenheimen oder Gefängnissen.

Nach Fleury tut sich zudem eine gesellschaftliche Kluft auf zwischen den „Gebern“ von Würde und Fürsorge, die unter saturierten Bedingungen leben, und denjenigen, die ihnen unterbezahlt zu Diensten stehen und dafür meist auch noch unwürdig behandelt werden, – „obgleich alle dieselbe irreduzible und nicht verhandelbare Würde besitzen“ (7). Sowohl in der Arbeitswelt als auch an Orten der sozialen Ausgrenzung gehe es heute primär darum, den mittlerweile üblichen Formen und Methoden der Entwürdigung zu entkommen, die in der Gesellschaft zu einem „gängigen Führungskonzept“ geworden sind.

Fleurys Intention ist es, dem Begriff der Würde wieder zu seinem Recht zu verhelfen. Dazu entwirft sie die Institution einer „Klinik der Unwürde“ (indignité), um die „Ränder und Kehrseite“ der Würde zu untersuchen und Fälle von „Unwürde“ interdisziplinär mittels der Geistes-, Sozial- und medizinischen Humanwissenschaften zu diagnostizieren und zu therapieren.

Würde ist nicht nur eine metaphysische oder ontologische Eigenschaft des Menschen. Der Begriff der Würde bedarf der Materialisierung. Würde bleibt ein leerer Begriff, wird sie nicht an Bedingungen geknüpft wie menschenwürdige Arbeit und Bleibe, Gesundheitsversorgung oder öffentliche und politische Handlungsfähigkeit. Eine Politik der Würde sollte, gestützt auf die Klinik der Würde, Probleme erkennen und ihre Implementierung im Sinne einer sozialphilosophisch verankerten relationalen, auf Interaktion bezogenen Konnotation des Begriffs umsetzen.

Als mögliche Gründe für die Divergenz von Theorie und Praxis des Wertes der Würde nennt Fleury sowohl die Kritik der Aufklärung als auch den westlichen Universalismus. Den Königsweg zur Überwindung des Gegensatzes von formaler und tatsächlicher Würde sieht sie in einer Care- oder Fürsorgeethik, die auf eine höhere Sensibilität für vulnerable Bevölkerungsgruppen sowie für ökologische Gefährdungen durch die industrielle Produktion und Konsumtion ziele.

Fleury umkreist diese Thematik in insgesamt sechs Kapiteln. In Die Zeitalter der Würde skizziert sie die Entwicklung dieses Konzepts. Seit der Antike war dignitas an Verdienst, Ehre, Adel und sozioökonomischen Status gebunden. Pico della Mirandolas Theorie der Selbstbestimmung des Menschen war ein erster Schritt aus dieser Determiniertheit. Die Forderung der Materialisierung der Würde als Zeichen ihrer Gültigkeit erfolgte mit Jacques Benigne Bossuets Traktat De l´éminent dignité des pauvres (1659).

Seit der Aufklärung und der Französischen Revolution steht der Begriff der Würde für die Moderne als Ära des Fortschritts im Sinne würdiger Lebens- und Arbeitsbedingungen. Von der sozialen Herkunft emanzipiert bezeichnet Würde nun den intrinsischen Wert der Person und den Respekt gegenüber den Rechten und der Singularität des Einzelnen. Würde ist daher ein ethischer und relationaler Begriff. Würdevolles Verhalten wird zum moralischen Anspruch. Unwürdig sind nicht diejenigen, „die unter unwürdigen Bedingungen leben, sondern diejenigen, die diese Bedingungen schaffen und tolerieren“ (14).

Derzeit könnte sich das Verständnis von Würde nach Fleury durch die Tendenz zur Verdinglichung des Menschen oder zur Ausklammerung sozialer und rechtlicher Kontexte erneut wandeln. Mit Axel Honneths sozialphilosophischer Theorie der Anerkennung sei der Begriff jedoch wieder relevant geworden, erwachse doch der Kampf um Anerkennung aus der Geringschätzung individueller wie kollektiver Leidensgeschichten und ziele auf die Kongruenz von formaler und realer Würde. Honneth priorisiere jedoch eine auf Singularität ausgerichtete Variante des Begriffs, die nur dann konstruktiv sei, wenn Anerkennung auch als relationaler Begriff verstanden werde und die politisch-ökonomische Frage der Gerechtigkeit der Güterverteilung berücksichtige.

Nach Fleury sollte die Reflexion des Universellen und des Begriffs der Würde den Prozess der De-Kolonisierung mit einbeziehen. Im Kapitel über Die universelle Unwürde definiert sie Unwürde als „Verletzung der physischen und psychischen Integrität“ (29). James Baldwin habe diese Verletzungen realistisch aus der Perspektive der Betroffenen beschrieben und damit seine Gemeinschaft restituiert. Die Würde ders Sklaven sei die des Widerstandes gegen Unfreiheit und symbolisiere die als universell zu interpretierende Würde der Aufklärung samt der oft ausgeklammerten gewaltsamen Kolonialgeschichte. Die Narrative der Klinik der Unwürde basierten auf der Weisheit von Überlebensstrategen, welche die moderner Philosophen überflügele. Mit Baldwin sei das Konstrukt der Klinik der Würde um das Schwarzsein im Sinne der universellen Erfahrung des Menschseins als Vulnerabilität erweitert worden.

Fleury bezeichnet die CareEthik als Phänomenologie des Politischen, die gesellschaftlich Verborgenes zur Sprache bringe. Wie die koloniale Ideologie der „Last des weißen Mannes“ ist care ein ambivalenter Begriff, da er mit dem Paternalismus und der Ungleichheit als Kehrseite des offiziellen Wohlwollens verbunden ist. Im Kapitel Die Klinik des Schmutzigen beschreibt Fleury die dem Begriff care immanente Negation:als dark care, dirty care oder dirty work werden Arbeiten bezeichnet, die als unwürdig gelten, es aber nicht sind. Den care-Arbeitern erscheint ihre Tätigkeit wie „erduldete Gewalt“(51), basiere sie doch auf konsolidierten Herrschaftsverhältnissen und berge Machtbeziehungen, die die Beherrschten zu Komplizen dieser Gewalt machen, indem sie verpflichtet sind, die Herrschenden zu umsorgen. Care sollte daher politisiert und unter Be-Achtung aller Beteiligten öffentlich thematisiert werden. Schließlich basiere unsere Würde auf der „Drecksarbeit der Mehrheit“, deren Innerlichkeit, Propriozeption und physische Intimität als Garanten der Würde verletzt werden. Trotz der psychischen Belastung für die Pflegenden müsse die Beziehung zu vulnerablen Personen menschlich gestaltet werden. Die Klinik der Un-Würde sollte hinterfragen, unter welchen Umständen die Verantwortlichen dirty care veranlassen. Obgleich sie bezüglich care darauf angewiesen sei, verdränge die Gesellschaft den Verkehr mit dem Unwürdigen und ziehe damit ihre Grenze.

Individuen, die der Freiheit beraubt sind, weisen Symptome auf, die Fleury als Pathologien der Würde thematisiert. Franz Fanon hat deren paradoxale Struktur analysiert: mentale Schäden durch unwürdige Zustände in kolonialen psychiatrischen Kliniken, in denen Kranke gerade von den Leiden, die vom Kolonialismus verursacht wurden, geheilt werden sollen – von der Entfremdung und Ich-Spaltung, der Fragmentierung oder, im Extremfall, Nekrotisierung der Existenz durch eine systematisch-institutionelle Verschlechterung der Lebensbedingungen.

Die primäre Erfahrung, der Kolonisierte ausgesetzt sind, ist die Möglichkeit des gewaltsamen Todes oder der Lebens- als Todesgeschichte. Diese Nekropolitik wurde in kolonialen Systemen praktiziert; aber auch nicht- oder de-koloniale Gesellschaften weisen heute solche Strukturen auf. Fleury rekurriert auf Judith Butlers und Frédéric Worms´ Beschreibung des unerträglichen, „unlebbaren“ Lebens „des deklassierten, mehr als prekären, heimatlosen Menschen“ (75), der, ständiger Ungewissheit ausgesetzt, zum Gefangenen seines Kampfes ums tägliche Überleben wird. In diesem Zustand kann das Subjekt sich nicht äußern und findet keine Anerkennung. Daher müsse Fürsorge politisiert, entgendert und Thema der Demokratie werden.

In Fanons Verdammten der Erde wurde, von Sartre sekundiert, die verlorene Würde und damit das Gefühl von Souveränität und Zugehörigkeit mit Gewalt zurückerobert. In dieser Hinsicht hat Würde Bezug zu kollektiver Identität und ist durch die Kategorie des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ in der Erklärung der Menschenrechte (1948) rechtlich verankert..

Die Kritik der globalen Ungleichheit samt ihrer Plutokraten ist überschrieben mit Das Unwürdig-Werden der Welt. Fleury sieht einerseits in der Würde als positives Recht eine Errungenschaft der Moderne, andererseits definiert sie die Moderne als „systematische Fabrik des Würdeverlusts für das Subjekt“. Die Klimakrise als Realität des Anthropozäns zeitige einerseits globale Mobilität, andererseits „entropische Kollapserfahrungen“ (84) und die Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in fossilen Wirtschaftssystemen.

Angesichts dieser Konstellation diagnostiziert Fleury mit Achille Mbembe ein „Brutalistisch-Werden der Welt“. Durch die Exzesse des Neoliberalismus konstituiere sich Macht als Fragmentierung, Erschöpfung, Verarmung und Proletarisierung und sei vergleichbar mit der kolonialen Brutalität gegen Mensch und Natur.

Ein Aspekt dieser gnadenlosen Normalisierung der Entwürdigung ist die systematische Ausgliederung und Entmündigung von Menschen in Lagern, wie sie bereits Zygmunt Bauman analysiert hat.

Solche Zustände provozieren Rückzug, Burnout, Ressentiments und politische Emotionen, allen voran Empörung. Doch mit Stéphane Hessels Aufruf Indignez-vous/Empört Euch (2010) wird, wie Fleury im letzten Kapitel darlegt, so leicht keine politische Schlacht gewonnen. Zwar vermag Empörung durch politisch wirksame performative Aktionen eine gewisse Zeit die öffentliche Meinung und Debatten zu beherrschen, doch oftmals entpuppten sich die Inszenierungen solcher „Empörungsgemeinschaft“ (110) als Selbstzweck, und ihre emotionale Aufladung verhindere Kompromisse und manövriere die Kampagnen ins Abseits.

In der Rhetorik der Empörung überschneiden sich zudem Würde und Ehre, eine Entwicklung, die Fleury den Medien und sozialen Netzwerken zuschreibt, die als panoptische Machtzentren die Würde gefährden, indem sie die Sprache in den Dienst der Entehrung, Diffamierung und Klassifizierung stellen. Ihnen setzt Fleury die Hoffnung auf die Herstellung würdiger zwischenmenschlicher Beziehungen in der Care-Ethik als Handlungstheorie entgegen, die über die Fürsorge Politik neu begründet soll. Diese konzipiert sie im Verbund mit Ansätzen aus John Deweys demokratischer Pädagogik, Ivan Illichs Theorie der konvivialen Gesellschaft sowie der Reanimierung der Commons-Theorie. Eine solche Fokussierung auf das Gemeinsame würde das private Eigentum als Wert relativieren, da dieses Gemeinsame Engagement und Verantwortung verlange und idealiter die soziale und ökologische Gerechtigkeit mit der demokratischen Teilhabe und ökonomischen Gleichheit verbinden könne.

Im Epilog fordert die Autorin die Akteure der „Klinik der Würde“ auf, all die Fälle der Unwürde zu analysieren und zu dokumentieren, da mit der Revitalisierung qualitativer zwischenmenschlicher Beziehungen ein Gegengewicht zum herrschenden quantifizierenden biopolitischen Regime geschaffen werde. Fraglich bleibt freilich, ob durch solche care-ethische Maßnahmen der gleichberechtigte Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, der in den Demokratien während der letzten Jahrzehnten zugunsten der Privatisierung preisgegeben wurden, auch nur annähernd kompensiert werden kann.

Fleurys Analyse des Begriffs der Würde und seine theoretische und praktische Erweiterung ist nachvollziehbar, und ist auch an der Zeit. Der Begriff der Klinik jedoch erscheint mir nur dort plausibel, wo es tatsächlich um die im Argen liegenden Zustände in den realen Institutionen der Pflege etc. geht. Hier wäre darüber hinaus eine ökonomische und eine politische Kritik der zunehmend börsennotierten, gewinnorientierten Organisationsformen dieser Einrichtungen als eine der Hauptursachen des Versagens angebracht.

So mag ihr Fürsorge- oder Care-Ansatz durchaus ein hehres Ziel sein; aber mit ihm allein ist es nicht getan. So sind spätestens seit der Corona-Epidemie die Forderungen der Care-Beschäftigten bekannt; und es ist zudem fraglich, ob ihre aufrichtigen Bemühungen um die Würde und deren Materialisierung wirklich greifen, wenn von ihr die Löhne und Arbeitszeiten kaum thematisiert werden. Zwar lassen sich in der Tat Würde und Selbstwert schwerlich gegen Geld aufrechnen; aber dies kann kein Argument gegen anständige Löhne in der „Klinik der Würde“ sein.

Kohout – Austeilende Ungerechtigkeit

Franz Kohout

Austeilende Ungerechtigkeit. Wie die Wohlhabenden sich am Steuerstaat bereichern

br., 172 Seiten, 24.- €

Potsdam 2023 (edition fatal)

von Bernd M. Malunat

Man muss es sich erst klar machen: Steuern bilden die Dreh- und Angelpunkte eines jeden Staates; Steuern sind seine hauptsächliche Einnahmequelle. Ohne diese Einnahmen ist er machtlos, unfähig, auch nur eine seiner vielfältigen Aufgaben wahrzunehmen. Das gilt seit altersher, und es gilt erst recht in der Gegenwart, da die Aufgaben des modernen Staates immens angewachsen sind. Die sogenannte „Ampel-Koalition“ scheiterte in der jüngeren Vergangenheit vor allem daran, dass sie sich nicht auf einen gemeinsamen Bundeshaushalt, also auf die Verwendung der Steuereinnahmen, verständigen konnte oder wollte.

Blickt man in die Geschichte zurück, zeigt sich, dass selbst die Grundlagen des modernen Parlamentarismus auf dem der Obrigkeit eingeräumten Recht beruhen, von den Untertanen Steuern verlangen zu dürfen. Sehr eindringlich zeigt sich das an der von den nordamerikanischen Kolonien Englands vorgetragenen Forderung: no taxation without representation – die letztlich in die Unabhängigkeit mündete.

Die Schrift des Politikwissenschaftlers Franz Kohout handelt vom Steuer-Staat, davon, wie durch Disruption Gleichheit, Gerechtigkeit und letztlich Demokratie gefährdet werden, weil der Grundsatz, dass alle nach ihren Möglichkeiten in gleicher Weise zum Gelingen beizutragen haben, verletzt wird. Nicht zuletzt aufgrund steuerpolitischer Entscheidungen wird die Kluft zwischen armen und reichen Bürgern immer größer. Es wächst jedoch nicht nur die Einkommens-Schere, sondern zugleich auch die Vermögens-Schere, und sie wachsen seit langer Zeit so stark, dass die Diskrepanz eines Tages unerträglich werden könnte. Dies ist übrigens keineswegs nur ein soziales Problem; vielmehr gestatten es die angehäuften, geradezu gigantischen Vermögen auch, unmittelbar Einfluss auf die Gestaltung der Politik in den Staaten zu nehmen, wie er in der jüngeren Vergangenheit bereits folgenreich praktiziert worden ist. Demokratien werden in autoritäre oligarchische Plutokratien transformiert.

Für diese in höchstem Maß unverträgliche Entwicklung gibt es eine Vielzahl steuerlicher Gründe. Zum einen gibt es in föderativ organisierten Staaten auf den verschiedenen Ebenen das Recht, Steuern zu erheben, zum anderen ist das Steuerrecht so umfangreich und kompliziert, dass der Steuer-Dschungel kaum noch zu durchdringen ist, und schließlich sind auch all die internationalen Möglichkeiten der Steuergestaltung sowohl in der EU als auch in der globalisierten Welt zu beachten. Aus ihnen resultieren die vielfältigen Vorteile insbesondere derjenigen, die es sich leisten können, die fest etablierten Steuerberatungs- und -vermeidungsindustrie in Dienst zu nehmen. Zudem gilt es, den geradezu monströsen Lobbyismus zu betrachten, der es vermag, die Gesetzgeber der verschiedenen Ebenen unter einen erheblichen politischen Druck zu setzen, der sich durch selektiv plazierte Parteispenden noch einmal beträchtlich verstärken lässt.

Wie die ‚austeilende Ungerechtigkeit‘ funktioniert, die der Titel treffend annonciert, zeigt der Autor an einer Reihe konkreter Beispiele. So wurde die Vermögenssteuer auf die geradezu unanständigen Riesenvermögen faktisch abgeschafft. Die Erbschaftssteuer ist zu einer Bagatellsteuer verkommen, die gerade mal die Hälfte der Tabaksteuer einbringt. Keine Erbschaftssteuer zahlen die Erben eines Unternehmens, wenn sie das Unternehmen nur sieben Jahre weiterführen. Gewerbetreibende können die Zahlung der Gewerbesteuer durch die Gründung von Schein- oder Briefkastenfirmen umgehen. Durch völlig legale Gewinnverlagerungen ins Ausland gehen dem Staat jährlich Milliarden Euro an Körperschaftssteuern verloren. Diese wenigen Beispiele zeigen, welche Möglichkeiten die Wohlhabenden genießen.

Im Gegensatz dazu hat der geringverdienende ‚normale‘ Bürger kaum steuersenkende Möglichkeiten. Ihm wird die Lohnsteuer vom Arbeitgeber direkt vom Gehalt abgezogen, und die Möglichkeit der Rückerstattung mittels der Steuererklärung wird häufig nicht genutzt. Die Gruppe dieser Steuerpflichtigen ist allerdings von großer Relevanz, weil die Verbrauchssteuern (v.a. Mehrwert- und Energiesteuern) rund 42 Prozent des Steueraufkommens ausmachen, da deren Einkommen überwiegend in den Konsum (und die Miete) fließt. Schon deshalb ist ihre relative Steuerbelastung deutlich höher als die der Wohlhabenden. Hinzu kommt, dass die Kapitalertragssteuer auf 25 Prozent begrenzt wurde, während die Einkommenssteuer progressiv auf bis zu 42 Prozent steigt.

Diese ‚Ungleichbehandlungen‘ liegen aber auch daran, dass die Finanzverwaltung unterbesetzt und deshalb chronisch überlastet ist. Vor allem mangelt es an Betriebsprüfern und Steuerfahndern, weshalb Unternehmen nicht regelmäßig überprüft werden können. So etwa wurden die obszönen Cum-Ex-Transaktionen, die den Staat nicht nur sehr viel Geld, sondern auch sehr viel Vertrauen kosteten, jahrelang nicht erkannt. Sollte es für einen allzu findigen Steuerbürger aber doch einmal eng werden, erlangt er nach gelungener Selbstanzeige Straffreiheit.

Dem Autor geht es jedoch nicht nur darum, die sozialen Ungerechtigkeiten des Steuersystems aufzuzeigen, vielmehr unterbreitet er auch Vorschläge, wie eine gerechtere Besteuerung gestaltet werden könnte und sollte. Dazu gehöre in erster Linie eine einfachere und klarere Gesetzgebung. Ferner seien eine gerechtere Gestaltung der Freibeträge, die Besteuerung der Einkommen, die aus leistungslos erworbenen Vermögen fließen, sowie eine internationale Steuerharmonisierung, einschließlich einer Finanztransaktionssteuer, sowie vor allem eine drängend notwendige ökologische Steuerreform (etwa durch Streichung umweltschädlicher Subventionen) erforderlich. Diese Maßnahmen würden nicht nur zu mehr – intergenerativer – Gerechtigkeit führen; sie könnten dem Staat auch deutlich höhere Steuereinnahmen bescheren.

Für die Erreichung dieser Ziele setzen sich seit geraumer Zeit einige sehr engagierte zivile Bewegungen ein, deren Erfolge aber begrenzt bleiben müssen, solange die Brisanz der Steuergerechtigkeit für den überwiegenden Teil der Bevölkerung von den staatlichen Akteuren nicht ernst genommen werden. Doch haben einige Parteien wenigstens in Zeiten des Wahlkampfs die Frage der Steuergerechtigkeit zumindest programmatisch erkannt – bleibt zu hoffen, dass sie sich daran erinnern, sollten sie nicht zuletzt dieser Versprechen wegen in die Verantwortung gelangt sein!

Fuchs – Radikaler digitaler Humanismus

Christian Fuchs

Radikaler digitaler Humanismus. Eine Philosophie für die digitale Gesellschaft des 21. Jahrhunderts

br., 165 Seiten, 29,90 €

München 2024 (UVK Verlag)

von Konrad Lotter

Im Zentrum des Buches steht der Gegensatz von liberalem und radikalem Humanismus. Der eine beruht auf der Proklamation der Menschenrechte zur Zeit der Französischen Revolution und war gegen den Feudalismus gerichtet. Er forderte die Gleichheit vor dem Gesetz sowie die Freiheit der Meinung, der Versammlung und der Religion. Vor allem aber schützte er das (Privat-) Eigentum und das Recht des bürgerlichen Individuums, „ohne Beziehung auf andere Menschen … sein Vermögen zu genießen und über dasselbe zu disponieren“ (Marx). Damit bildete er die Grundlage für den Aufstieg der kapitalistischen Produktionsweise. Der andere, der radikale Humanismus ist hingegen gegen die bürgerlich-kapitalistische Produktionsweise mit allen ihren Verwerfungen gerichtet und klagt die Freiheits- und Entwicklungsrechte aller Menschen ein. Diese Produktionsweise kam erst im Zuge der sog. ursprünglichen Akkumulation, d.h. vor allem durch die Ausbeutung der Kolonien und der Versklavung ihrer Bevölkerung, in Schwung und hatte die Unterwerfung des „globalen Südens“ unter die Herrschaft des zivilisierten „Westens“ zur Folge. Die erste Forderung des radikalen Humanismus, so Christian Fuchs, Professor für Medientheorie an der Universität in Paderborn, ist infolgedessen nicht nur die Aufhebung des (Privat-) Eigentums und der Ausbeutungsverhältnisse auf nationaler Ebene, sondern auch die Ent-Kolonialisierung im globalen Maßstab, d.h. die Angleichung der individuellen Entwicklungsmöglichkeiten der Menschen, nicht nur auf den Gebieten der Bildung und der Wissenschaften, sondern auf allen Gebieten des Lebens.

Martin Heidegger, Günter Anders, Peter Sloterdijk oder Yuval Harari haben den Humanismus für geschichtlich überholt erklärt. Mit der Ausweitung der modernen Massengesellschaft und dem technischen Fortschritt mit seinen Möglichkeiten der genetischen und informationellen Manipulation, so ihr Argument, sei das Maß der individuellen Selbstbestimmung und Autonomie geschrumpft, jede Form des Humanismus an ihr Ende gekommen. Damit, so das Gegenargument von Christian Fuchs, könne freilich nur der alte, liberale Humanismus gemeint sein, dessen Kritik der Ausgangspunkt eines neuen Humanismus sein müsse. Dieser sei nicht mehr auf das Recht und die Freiheit des egoistischen Individuums, sondern auf das Recht und das Gemeinwohl aller Menschen gerichtet. Unter Berufung auf Marx, Rosa Luxemburg, Erich Fromm und Henri Lefebvre, auch auf Adorno und Horkheimer (die umstandslos der Marxschen Tradition zugeordnet werden), entwickelt er so die Grundrisse eines radikalen Humanismus. Weshalb er das Epithteton „radikal“ gewählt hat und nicht den in der Marxschen Tradition üblichen Begriff des „realen“ Humanismus verwendet, ist dabei nicht recht einzusehen. Beide Begriffe besitzen offenbar die gleiche Bedeutung. Wie auch immer: Mit seinem radikalen Humanismus erhebt Fuchs den Anspruch, eine „Philosophie für die digitale Gesellschaft des 21. Jahrhunderts“ zu entwerfen, eine Philosophie, die nicht nur auf ein friedliches Miteinander der Menschen und Nationen gerichtet ist, sondern auch einen Weg aufzeigen soll, wie die gegenwärtigen Probleme der Klimaveränderung, des sozialen Elends und der Armuts-Migrationen behoben werden können.

Unter dem Gesichtspunkt des Humanismus weist die Entwicklung der Technik von jeher in entgegengesetzte Richtungen. Schon die Dampfmaschine, die die industrielle Revolution einläutete, erleichterte zwar die Arbeit und erhöhte ihre Produktivität, erniedrigte aber zugleich (wie seit Adam Smith immer wieder beklagt wurde) die Arbeitenden zu geistlosen Automaten und „Anhängseln“ der Maschine. Mit jeder „Welle“ technischer Innovationen, von der Elektrizität, den neuen Formen der Mobilität, der Nuklear-, Computer- oder Kommunikationstechnologie verschärfte sich dieser Gegensatz. Immer unversöhnlicher standen sich dabei die positiven Möglichkeiten, die das Leben der Menschen erleichterten und bereicherten, den negativen Realitäten gegenüber, die die Selbstbestimmung der Menschen einschränkten, ihre körperliche und psychische Integrität beeinträchtigten und sie an der Entfaltung ihrer Anlagen hinderten. Im Falle der digitalen Technologien und der KI haben die Gefahren zuletzt ein neues Niveau erreicht. Neben der totalen Überwachung und Manipulation der Menschen, der möglichen Herrschaft von Robotern und einem „digitalen Faschismus“ sind Ängste entstanden, die Menschen machten sich selbst überflüssig und schafften sich letztlich ab.

Die großen Industrienationen der USA, Chinas und der EU betrachten, wie Fuchs ausführt, die Entwicklung der KI gleichermaßen als eine „Schlüsseltechnologie“, die mit Steuergeldern großzügig unterstützt wird. Im internationalen Wettkampf geht es um die ökonomische Vorherrschaft, auch wenn die Interessen daran voneinander abweichen. In den USA steht offenbar das Interesse der Manipulation der Konsumenten und Wähler im Vordergrund, im China das der Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung. In Europa wird zwar versucht, die Privatsphäre der Menschen zu schützen, trotzdem, so scheint es, werden auch hier die Risiken der neuen Technologie heruntergespielt. Fuchs zitiert Nida-Rümelins und Natalie Weidenfelsʼ Buch über Digitalen Humanismus (2018) und das Wiener Manifest für digitalen Humanismus (2019). In beiden Schriften werden zwar bestimmte Risiken der digitalen Technologie gesehen und thematisiert, gleichermaßen aber glauben ihre Autoren, diese Risiken durch Ethik und politische Reformen im Rahmen der bestehenden Eigentumsordnung, also unter der Voraussetzung des alten, liberalen Humanismus beherrschen zu können. Diesen Glauben teilt Fuchs nicht. Gegen die sozialdemokratische Naivität der beiden Schriften könnte (in seinem Sinne) der Satz gestellt werden, den Orlando Patterson bei der Verleihung des Hegel-Preises der Stadt Stuttgart (2024) geäußert hat: „In Amerika … besitzen jetzt drei Milliardäre mehr Vermögen als die untere Hälfte der Bevölkerung zusammen … Unter solchen Bedingungen wird ein ethisches Leben – wird Sittlichkeit – unmöglich.“ Anders formuliert: Unter den genannten Verhältnissen, unter denen sich die Schere von Arm und Reich immer weiter öffnet, hat der alte, liberale Humanismus seine Existenzberechtigung verloren. Zu begrüßen sei daher jede Aktion, die zu seiner Fortentwicklung in Richtung auf eine am „Gemeinwohl“ aller Menschen orientierte Weltordnung führt und uns einer radikal humanistischen, wirklich demokratischen und sozialistischen Gesellschaft näherbringt.

Eher am Rande steht Fuchsʼ ausführliche Diskussion, die sich auf die Verbreitung von Covid-19 (im Zusammenhang mit der „kapitalistischen Nekropolitik“) bezieht. War denn die kommunikative und soziale Vereinsamung, unter der viele Menschen gestorben sind, und waren überhaupt sowohl die Ursache als auch die rasche Verbreitung dieser Krankheit ein spezifisches Problem des Kapitalismus? Als „kapitalistisch“, so scheint es, muss vor allem der Umgang mit der Pandemie, d.h. die Entwicklung und Zulassung der Impfstoffe, die Produktion und Verteilung der Masken, die Organisation von Home-Office etc. bezeichnet werden. Schon in vorkapitalistischen Zeiten grassierten Seuchen wie etwa die Pest, und auch ein zukünftiger „demokratischer Sozialismus“ ist, wie Fuchs selbst einräumt, keine Garantie für das Aussterben tödlicher Seuchen. Richtig ist natürlich, dass digitale Kontakte zu erkrankten und isolierten Menschen via Handy oder Computer eine „direkte Präsenz … nicht ersetzen“ können. Mit dem Problem des digitalen Humanismus aber hängt Covid-19 nur über viele Schritte vermittelt zusammen.

Klar und einleuchtend ist Fuchsʼ Plädoyer für den radikalen Humanismus; etwas redundant erscheint dagegen die Form seiner argumentativen Darstellung. Bereits an den Anfängen der verschiedenen Kapitel stehen „Zusammenfassungen“ dessen, was erst ausgeführt werden soll. Es folgen dann „Einleitungen“, in denen die Fragen gestellt werden, die beantwortet werden sollen. Am Ende der Kapitel stehen dann noch „Schlussfolgerungen“, in denen oftmals gesagt wird, was schon gesagt ist. Viele Wiederholungen, die leicht hätten vermieden werden können, sind die Folge. Von diesen Vorbehalten abgesehen (die von vielen Lesern möglicherweise gar nicht als Mangel empfunden werden) ist der Mut und die Entschiedenheit zu bewundern, mit denen Fuchs über die Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise hinausdenkt und gegen viele Widerstände das Programm eines neuen Humanismus entwirft.

Akbarian – Recht brechen

Samira Akbarian

Recht brechen. Eine Theorie des zivilen Ungehorsams

Pb., 172 Seiten, 16.-.€

München 2024 (C.H. Beck-Verlag)

von Bernd Malunat

Ziviler Ungehorsam gehört seit langem zum politischen Prozess der Bundesrepublik. Doch vor allem seit dem Auftreten der sich ‚Fridays for Future‘ nennenden Bewegung von überwiegend jüngeren Aktivist:innen, die Politik, Gesellschaft und Wirtschaft durch ihr Engagement dazu herausfordern, die Bedingungen der natürlichen Umwelt zu achten, insbesondere dem Schutz des sensiblen Klimas gerecht zu werden, ist die Diskussion wieder virulent geworden. Sie begründen ihren Ungehorsam mit der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass es gegenwärtig, vor allem jedoch in absehbarer Zukunft zu gravierenden und unumkehrbaren Veränderungen der globalen Lebensbedingungen, den sogenannten „Kipppunkten“, kommen wird, von denen die kommenden Generationen in unzumutbarer Weise betroffen sein werden. Deshalb ist es erforderlich, sich mit denen, die das Recht brechen, wissenschaftlich, rechtlich, politisch und moralisch auseinanderzusetzen,.

Das Titelbild des Buches zeigt leshia Evans, eine junge schwarze Aktivistin, die scheinbar furchtlos einer Gruppe schwerbewaffneter Polizisten gegenübertritt, um für ihre Rechte einzustehen. Dieses ikonische Bild verdeutlicht exemplarisch das Anliegen der Autorin mit ihrem als Plädoyer anzusehenden Ansatz: wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Es kann jedenfalls als Appell verstanden werden, gegen als ungerecht empfundene Gesetze aufzubegehren, als Pflicht mündiger, aufgeklärter Bürger, im Interesse des Gemeinwohls zu handeln.

Fast natürlich stellt sich damit die Frage, ob es überhaupt zulässig sein kann, gegen Gesetze zu verstoßen, die in einem formellen rechtsstaatlichen Verfahren von einem demokratisch legitimierten Parlament erlassen worden sind. Mit dieser antagonistischen Situation befasst sich Samira Akbarians ‚Theorie des zivilen Ungehorsams‘ auf sehr anspruchsvolle, fast dialektische Weise, durch die ihre Schrift im Wortsinn ‚lehrreich‘ wird. Man muss ihrer Darlegung nicht folgen – sie wird von einigen Rezensenten entschieden abgelehnt –; sie enthält dennoch interessante Überlegungen, die den Raum der recht verfahrenen Diskussion weiten.

Juristische Grundlagen eines zivilen Ungehorsams oder bürgerlichen Widerstands bilden die verfassungsmäßig verbrieften Grundrechte der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), das Recht, seine Meinung frei zu äußern (Art. 5 GG), und das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 GG), die jedoch alle unter dem Vorbehalt der Gesetze stehen. Im Grunde geht es den Protesthandlungen darum, eben diesen Gesetzen zu widerstehen, da sie von Überzeugungen, Gewissensentscheidungen oder moralischen Erwägungen motiviert werden, die für sie zwingender sind als diese einfachen Gesetze (23). Darüber hinaus bedarf es freilich auch eines realen materiellen Grundes dieser Erwägungen, der in der Abhandlung jedoch kaum in Betracht gezogen wird.

In Anlehnung an John Rawls‘ ‚Theorie der Gerechtigkeit‘ erörtert die Autorin den zivilen Ungehorsam als eine öffentliche, gewaltlose, gewissensbestimmte, aber gesetzwidrige Handlung, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen solle (56). Diese Gratwanderung an der Grenze von Legalität und Legitimität, zugleich die Schnittstelle von Recht und Moral, sei jedoch nur gerechtfertigt, wenn dadurch zugleich die liberale Ordnung stabilisiert werde. Liberale Ordnung bedeutet diesem Ansatz zufolge, dass die universellen und unveräußerlichen Menschenrechte dem durch demokratische Mehrheitsentscheidungen zustande gekommenen Recht vorausgehen. In Rawls’ Verständnis ist das Recht also weniger Ausdruck des Gemeinwillens als Instrument zum Schutz der individuellen Autonomie.

Während es Rawls in seiner liberalen ‚Theorie der Gerechtigkeit‘ also vor allem um Freiheit und (Chancen-)Gleichheit geht, kritisiert Jürgen Habermas mit seinem deliberativen Ansatz, dass diese Rechte im Liberalismus wie Republikanismus überbetont seien, weil in einem demokratischen Rechtsstaat die Menschenrechte und die Volkssouveränität ‚gleichursprünglich‘ sind, wodurch Recht und Moral, Legalität und Legitimität, in Übereinstimmung gebracht werden. Deshalb, so seine Schlussfolgerung, sind in einem demokratischen Rechtsstaat die Gesetze grundsätzlich zu befolgen. Zwar dürfe daraus kein blinder Gehorsam, kein ‚autoritärer Legalismus‘ folgen, vielmehr verbleibe den Bürgern die Möglichkeit, Gesetze des Parlaments und Maßnahmen der Regierungen einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Allerdings müssen sich zivil Ungehorsame mit der Verfassung identifizieren. „Ziviler Ungehorsam wird damit zu einem Ausdruck von Verfassungspatriotismus“ (63); er ist moralisch begründeter Protest, ein öffentlicher Akt, der die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen einschließt, ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im Ganzen aufzugeben. Dieser verlangt daher erstens die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen, dass zweitens der Ungehorsam symbolischen Charakter hat, und dass er sich drittens auf gewaltfreie Mittel beschränkt. Damit wird ziviler Ungehorsam in der Tat zum Ausdruck von Verfassungspatriotismus, weil im demokratischen Rechtsstaat die Loyalität weder der politischen Gemeinschaft noch den einfachen Gesetzen, sondern allein der Verfassung gilt.

Ferner argumentiert Habermas, dass sich der zivile Ungehorsam auf ein dynamisches Verständnis der Verfassung stützt, die kein fertiges Gebilde, sondern ein revisionsbedürftiges Unternehmen sei, das darauf angelegt ist, die Rechte unter wechselnden Umständen besser zu interpretieren, also lebendig zu sein. Schließlich wirke dieser Ungehorsam auch integrierend, weil die Bürger von der politischen Willensbildung, die von den Parteien, Verbänden und der Wirtschaft dominiert wird, sonst weitgehend ausgeschlossen blieben. Ziviler Ungehorsam steht für Habermas also nicht im Widerspruch zum demokratischen Rechtsstaat, sondern ist Teil dieser Ordnung (85).

So weit, so überzeugend, könnte man sagen. Wie aber ist es zu beurteilen, wenn ziviler Ungehorsam nicht auf Integration und Stabilität zielt, sondern an den Fundamenten rüttelt, weil die gegebene Ordnung nicht als gut und gerecht erscheint? Solchen radikaldemokratischen Theorien geht es darum, das genuin Politische, also die den Institutionen und deren Funktionen vorausliegenden, den formellen Prozess aber bestimmenden Prämissen, die Machtungleichgewichte und strukturellen Gerechtigkeitsdefizite, aufzuweisen. Es geht dann nicht mehr darum, einen Konsens herzustellen, sondern ihn zu dekonstruieren, die Fundamente zu hinterfragen. Das gilt insbesondere für das bestimmende Verhältnis von Recht und Macht, weil das Recht mit Zwang durchgesetzt werden kann und zudem über die definitorische Macht verfügt. „Viele radikaldemokratischen Ansätze“, so die Autorin, „lehnen daher den zivilen Ungehorsam ab, weil er der bestehenden Ordnung zu nahe steht, zu ihrer Stabilisierung beiträgt und nicht deren Infragestellung dient“ (100). Sie stehen „damit für eine kontinuierliche Revisionsbereitschaft und eine Anerkennung der Unsicherheit demokratischer Gesellschaften“ (120) und können deshalb als disruptive Form einer Verfassungsinterpretation, als Dekonstruktion etablierter Interpretationen betrachtet werden (154).

Schließen sich diese radikale Infragestellung der Annahmen demokratischer Gesellschaften und eine konstruktive Verfassungsinterpretation deshalb aus? Als eine Art von Kompromiss trägt Akbarian nun eine ethisch begründete Konzeption zivilen Ungehorsams vor, in dem der Bruch von Gesetzen die Verwirklichung eines höheren moralischen Gesetzes darstellt, dessen Maßstab das eigene Gewissen oder religiöse und spirituelle Überzeugungen sind. Prominente Zeugen dieser Auffassung sind einerseits der Philosoph Sokrates, der sich in der Konsequenz seiner Haltung das Leben nimmt, andererseits die politischer agierenden Henry David Thoreau, Mohandas Karamchand Gandhi sowie Martin Luther King. Bei allen Unterschieden ist ihnen gemeinsam, dass für sie eine höhere Wahrheit verpflichtender ist als das staatliche Gesetz. Als ein zeitgenössisches Beispiel dafür kann die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen (Art. 12a, Abs. 2 GG) dienen, die belegt, dass eigene Glaubensüberzeugungen mit staatlichem Recht vereinbar sein können, obwohl sie anderen normativen Welten entstammen (136); die Autorin nennt das ‚Rechtspluralismus‘ (122). Ethisch motivierter Ungehorsam dürfe als Verfassungsinterpretation aber nur dann angesehen werden, wenn sich in ihm die Hoffnung auf eine bessere Zukunft der Verfassung, nicht aber die Hoffnung auf eine Revolution zeige. „Wenn die Welt durch die Verfassung verändert werden soll, dürfen Vision und Realität nicht zu weit auseinanderliegen“ (139). Ethischer Ungehorsam „praktiziert im Hier und Jetzt schon jene gute Ordnung, die er für die Zukunft erst erträumt“ (154). Man mag darin eine Annäherung zwischen demokratisch und radikaldemokratisch motiviertem Ungehorsam ausmachen.

Gegen Ende ihrer Schrift wird die Autorin konkret politisch, wenn sie den Klimaaktivist:innen gerechtfertigten zivilen Ungehorsam zubilligt – entgegen einer verbreiteten öffentlichen, aber auch politischen Auffassung, die sie gern als ‚Extremisten‘ oder gar ‚Kriminelle‘ einstuft. Diesen Ungehorsamen gehe es darum, die Erde für die Menschheit zu erhalten, die globale Abhängigkeit der Menschen untereinander und zwischen Mensch und Natur zu erkennen. Ein solcher ziviler Ungehorsam zeichne sich durch eine Richtigkeitsüberzeugung aus, ohne sie jedoch mit einem Totalitätsanspruch durchsetzen zu wollen, und der deshalb gewaltfrei sein muss. Dabei sollte die Einsicht bedacht werden, dass Protestbewegungen oftmals erst in der Retrospektive legitim erscheinen (148), nicht zuletzt deshalb, weil ‚Privilegierte ihre Privilegien selten freiwillig aufgeben‘ (Martin Luther King) – für große Teile der Weltbevölkerung könnte es dann aber bereits zu spät sein. Doch auch für Demokratien könnte es zu spät sein: Wenn Wetterereignisse zu unablässigen Katastrophen führen, helfen allenfalls noch diktatorische Maßnahmen, für die die jetzt schon häufig erklärten Notstände ein unverkennbares Indiz bilden.

Abschließend erklärt Samira Akbarian, dass sie mit den dargestellten Zugängen keine einheitliche Theorie des zivilen Ungehorsams vorlegen, sondern aufzeigen wollte, dass die demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung Raum für Widerspruch und Träume, für ein dynamisches Verfassungsverständnis bietet, um die Vision einer gerechten, guten Gesellschaft auf den rechtsstaatlichen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit zu verwirklichen – auch wenn es dazu manchmal erforderlich ist, das Recht zu brechen.

Die anregende, sehr selbstbewusst im Ich-Modus verfasste Schrift – für eine wissenschaftliche Arbeit eher ungewöhnlich – lässt allerdings den Bezug zur Brüderlichkeit, also zum sozialen Rechtsstaat vermissen, um den es den ungehorsam Widerständischen doch auch geht. Durch den Rückgriff auf ein überpositives Naturrechtsdenken ließe sich die Verbindung von Recht und Moral, die in Artikel 1 des Grundgesetzes kodifiziert ist, noch deutlicher darstellen.

Ernesto Grassi – Reisen ohne anzukommen

ein Gespräch

Ernesto Grassi (1902-1991) studierte Philosophie an der Universität Mailand, wo er 1925 promovierte. 1928 ging er zu Heidegger nach Freiburg, wo er bis 1938 als Lektor für Italienisch und Lehrbeauftragter für Philosophie lehrte. 1938 ging er nach Berlin und gründete dort 1942 das Institut studia humanitatis. Nach dem Weltkrieg war er 1947 für das Erscheinen von Heideggers Humanismusbrief verantwortlich und gründete 1948 in München das Centro italiano di studi umanistici e filosofici. Ab 1965 leitete er bis zu seiner Emeritierung 1973 das Seminar für Philosophie und Geistesgeschichte des Humanismus an der LMU. – Ab 1955 war Grassi bis 1980 Herausgeber der einflussreichen Taschenbuchreihe Rowohlts deutsche Enzyklopädie.

Widerspruch: Herr Grassi, Sie sind Italiener. Ist es richtig, dass Sie schon vor 1933 nach Deutschland gekommen sind?

Grassi: Ja, es war 1928. Vorher war ich allerdings in Frankreich. Kurz nachdem ich meinen Doktor gemacht habe, bin ich zu Maurice Blondel gegangen, der damals durch sein Buch „L’action“ in Italien berühmt geworden war.

Widerspruch: Ihr Studium haben Sie also noch in Italien beendet?

Grassi: Ja. Nach dem Gymnasium war ich 1924 einer der drei einzigen Studenten der katholischen Universität in Mailand, die im selben Jahr von Pater Gemelli gegründet worden war. Gemelli war eine höchst zweifelhafte Figur: ein Franziskaner, der erst Sozialist war, sich dann bekehrte und die katholische Universität gegründet hat. Mein Vater hatte in Pavia Medizin studiert, und mit ihm zur gleichen Zeit Gemelli; damals war er noch sozialistischer Revolutionär. Als mein Vater erfuhr, dass ich mit ihm in Beziehung stand, warnte er mich: „Hüte Dich vor dem, der ist ein großer Gauner. Der hat bei Golgi, dem großen Gehirnpathologen, den Spiritus für die anatomischen Präparate geklaut und verkauft, um an Geld zu kommen.“ Gemelli war ein unglaubliches organisatorisches Talent.

Widerspruch: Bei wem haben Sie hauptsächlich studiert? Welche philosophische Richtung?

Grassi: Mit Gemelli habe ich schnell Krach bekommen. Von der katholischen Universität bin ich dann auf die öffentliche in Mailand gewechselt. Dort hatte ich einen großartigen Lehrer, namens Martinetti. Martinetti war ein merkwürdiger Mensch. Er war katholisch und ein entschiedener Gegner von Croce und Gentile, den damaligen Vertretern des deutschen Idealismus. Er war sonst sehr sanft, aber wenn drei Namen fielen, Gentile, Croce und Gemelli, dann wurde er rot; also wirklich wie ein Huhn. Er unterbrach dann einfach seine Vorlesungen, die er über Kant gehalten hatte. Leider war er so vertieft in seine Philosophie, dass er sich um uns Studenten wenig kümmerte, auch nicht um meine Doktorarbeit. Er las immer schon um 7 Uhr morgens, weil er nur wenig Studenten haben wollte.

Widerspruch: Mussolini und der italienische Faschismus sind ja schon 1923 an die Macht gekommen. Welche Einflüsse hatte der Faschismus auf die italienische Universität?

Grassi: Alle Professoren mussten einen Treueeid auf den Faschismus schwören. Martinelli war einer der vier einzigen Professoren, die sich geweigert haben, zu schwören. Überhaupt wollte er mit der Institution der Universität nichts zu tun haben. Er ging immer mit einer kleinen Mappe herum. Und als ich ihn eines Tages danach fragte, machte er sie auf, und da waren Krawatten darin. „Was soll das?“ fragte ich. Und er sagte: „Ich werde nie zugeben, dass ich ein Universitätsprofessor bin. Wenn ich gefragt werde, dann sage ich, ich bin Krawattenverkäufer.“

Widerspruch: Sie kommen also aus einer katholischen Tradition?

Grassi: Ja, aber ich wandte mich bald von der katholischen Tradition ab und studierte den italienischen Idealismus, d.h. vor allem Gentile und Croce. Der Idealismus war in Italien eine Philosophie, die mit dem Katholizismus nichts zu tun hatte.

Widerspruch: Nach dem Abschluss Ihres Studiums gingen Sie nach Frankreich zu Maurice Blondel?

Grassi: Blondel war ein großartiger, rührender Mann, aber wieder so katholisch. Er las nicht mehr, weil er schon fast blind war, und so ging ich privat zu ihm für ein paar Stunden, um ihn wenigstens zu hören. Nach drei Monaten ging das nicht mehr. Später kam einmal jemand nach einem Vortrag zu mir und sagte, er habe einen Brief von Blondel, in dem er schreibt, ich sei zu einem gewissen Heidegger nach Deutschland gegangen, der wohl so eine Art Gentile sei.

Widerspruch: Von Frankreich aus sind Sie nach Deutschland gekommen?

Grassi: Zuerst bin ich zurück nach Italien und habe eine Zeit am Gymnasium unterrichtet. Nach Deutschland bin ich 1928 gekommen. Ich war damals 26 Jahre alt. Anfangs habe ich unter anderen Max Scheler gehört, aber gemerkt, dass mir das nicht zusagte. Ich war nur ein einziges Mal in Marburg bei Heidegger im Seminar gewesen – „Sein und Zeit“ war gerade erschienen –, aber ich habe gemerkt, dass für mich seine Philosophie die entscheidende Herausforderung war. Heidegger sagte zu mir jedoch, es habe gar keinen Sinn, jetzt in Marburg zu bleiben, ich solle doch gleich nach Freiburg kommen, was ich dann tat.

Widerspruch: Wie war Ihr Verhältnis zu Heidegger?

Grassi: Heidegger war ein unglaublicher Pädagoge, erbarmungslos gegen uns Schüler. Wir interpretierten bei ihm damals das IV. Buch der ‚Metaphysik‘; und er forderte immer: „Ja, lest doch, was im Buch steht, und fangt nicht an, selbst zu philosophieren.“ Also, ich habe mir gesagt, nur mit ihm. Von 1929 bis 1931 habe ich an seinen Seminaren teilgenommen. Bei den Vorlesungen war auch der Spanier Ortega y Gasset und sein Schüler Zubiri. Der war ein sehr schöner Mann, und alle Mädchen haben sofort auf ihn reagiert; und er war Jesuit, was aber niemand wusste. Ich fragte einmal Heidegger, ob er Zubiri kenne. Ja, meinte er. ,,Wissen Sie, was er ist?“ „Nein, wieso?“ Ich sagte: „Er ist Jesuit.“ „Herrgott“, rief er, ,und ich glaubte immer, doch eine Nase für Jesuiten zu haben. Das hätte ich nie vermutet!“ Jesuitisch jedenfalls war Heidegger, der ja ursprünglich auch vom Katholizismus herkommt, keineswegs. – Zudem war Heidegger keineswegs altprofessoral, wie etwa noch Husserl, dessen letzte Vorlesung über Descartes ich noch gehört habe. Heidegger war gegenüber den Studenten gar nicht hochnäsig, sondern immer neugierig. Aber er war unglaublich sensibel gegenüber öffentlicher Kritik. Damals war kurz zuvor sein Buch über Kant erschienen, und er war nach Frankfurt zu einem Vortrag eingeladen worden. Die „Frankfurter Zeitung“ veröffentlichte eine scharfe Kritik, die ein dortiger Professor geschrieben hatte. Ich fragte ihn, wie es in Frankfurt war. „Ich werde dort niemals mehr lesen.“ „Warum?“ „Diese Kritik, bitte lesen Sie!“

Widerspruch: Wie haben Sie Heideggers Engagement für den Nationalsozialismus damals aufgenommen? Führte dieses Engagement zum Bruch zwischen Ihnen?

Grassi: Ich war in Freiburg zuerst italienischer Lektor, habe dann einen Lehrauftrag erhalten und wurde Honorarprofessor. Damals hatte ich mich mit einem Juden angefreundet, von dem Heidegger mir sagte, dass er der einzige sei, der wirklich etwas von ihm verstehe; die anderen seien noch zu sehr Schüler. Das war Werner Szilasi, ein Schüler Husserls. Eines Tages hat Heidegger wegen des Problems des Judentums im Nationalsozialismus mit Szilasi gebrochen. Wir Italiener hätten in dieser Situation im Faschismus wenigstens gesagt: „Verzeih mir, ich bin dazu verpflichtet; aber wir bleiben Freunde.“ Das war bei Heidegger gar nicht. Ich bin nicht mehr in seine Vorlesungen gegangen.

Widerspruch: Gab es für Sie nicht auch philosophische Gründe, sich von Heidegger zu trennen?

Grassi: Selbstverständlich, das war Heideggers Anti-Humanismus. Er lehnte die philosophische Bedeutung des Humanismus ab. Nicht nur in „Sein und Zeit“, sondern auch in seinem „Brief über den Humanismus“, wo er den Humanismus einfach mit dem römischen homo humanus gleichsetzte. Seiner Auffassung nach umfasst die humanistische Konzeption nicht das Problem des Seins, sondern reduziert sich nur auf eine Anthropologie.

Widerspruch: Aber Ihre Habilitationsschrift über die Platonische Metaphysik haben Sie trotzdem Heidegger gewidmet?

Grassi: Ich muss sagen, dass ich das Verständnis der Antike Heidegger verdanke. Die Italiener waren solche Hegelianer, dass sie sagten: „die Antike, schön; aber heute haben wir nichts mehr damit zu tun“. Hier hat Heidegger einen Zugang zur Antike eröffnet. Meine Habilitation, eine Neuinterpretation des „Menon“, war ein erstes Echo darauf, und ich habe diese Arbeit Heidegger gewidmet. Croce hat damals gewollt, dass das Buch bei ihm erscheint. Er wusste damals nichts von Heidegger, sonst hätte er das Angebot niemals gemacht.

Widerspruch: Haben Sie Heidegger nach 1945 noch einmal getroffen?

Grassi: Ich habe ihn gleich drei Wochen nach Kriegsende in seiner Hütte bei Todtnauberg besucht, wo er mir das Manuskript zur Veröffentlichung seines „Briefs über den Humanismus“ gegeben hat. Also, diese Beziehung war noch da.

Widerspruch: Überrascht Sie die öffentliche Diskussion heute über Heideggers Rolle im Nationalsozialismus?

Grassi: Nein, Heidegger war vielleicht der einzige wirkliche Nationalsozialist; darüber zu diskutieren ist sinnlos. Die eigentliche Frage – die heute so journalistisch abgehandelt wird – ist, warum dieser Mann von seinem spekulativen Standpunkt den Nationalsozialismus für richtig hielt. Es ist ein wissenschaftliches Problem, es hängt aber eben auch mit seinem Charakter zusammen. Ich erinnere mich, dass er einmal – er war schon Rektor gewesen und hatte sich zurückgezogen – sehr schlechter Laune war. Ich dachte, weil man ihn abgesetzt hatte. Es war aber, weil die Nazis ihn aus dem Komitee zur Herausgabe des Nietzsche-Werks entlassen hatten. Ich gratulierte ihm und meinte, dass es auch so gute Leute wie Walter Friedrich Otto und Karl Reinhardt getroffen hatte. Seine Antwort war buchstäblich: „Die Sache ist keineswegs so einfach. Heute morgen habe ich mich gegenüber der Nachwelt gerächt. Ich habe Aufzeichnungen verbrannt.“

Widerspruch: Nach Ihrer Habilitation, ab 1933, waren Sie in Berlin.

Grassi: Ja, ich habe dort als Honorarprofessor an der Universität Vorlesungen gehalten. Hauptsächlich aber arbeitete ich an der Gründung des italienischen Instituts „Studia humanitatis“ unter der Schirmherrschaft der „Italienischen Akademie“, da ich während der Nazi-Zeit den günstigen Moment sah, unsere humanistische Tradition gegen die Verbreitung des Nationalsozialismus einbringen zu können. Mit Guardini, auch Italiener und nach dem Krieg ebenfalls in München, arbeitete ich sehr eng in Berlin zusammen. Wir konnten seine Arbeiten, die hier nicht gedruckt werden durften, über das Institut, das ja italienisch war, in Italien drucken und den Lesern in Deutschland zukommen lassen. Ich selbst konnte frei arbeiten. Dann wurden die Jahrbücher des Instituts verboten, und ich bin nur durch Zufall lebendig aus Berlin herausgekommen.

Widerspruch: Wann war das?

Grassi: 1943. Nachdem Mussolini gestürzt war und Italien unter Badoglio das Bündnis mit dem Nationalsozialismus aufgekündigt hatte, bin ich aus Deutschland weggegangen. Zuerst war ich in Italien, dann in der Schweiz, wo ich 1945 in Zürich Vorlesungen gehalten und mit Szilasi die Reihe „Geistige Überlieferung“ herausgegeben habe.

Widerspruch: Wie kam es dann zur Berufung nach München?

Grassi: Ich kam zunächst von Zürich zu Gastvorlesungen nach München. 1945 fand in Rom der erste europäische Kongress für Philosophie nach dem Krieg statt, und wir hatten es zusammen mit den Amerikanern erreicht, daß drei Referenten aus Deutschland, die damals eigentlich noch nicht durften, kommen konnten. Einer davon war der bayerische Kultusminister Hundhammer. – Apropos, Rom. Ich kann eine komische Geschichte erzählen. Die drei Deutschen kamen also durch unsere Vermittlung. Der Kongress fand im Senat statt, und der Senat hatte Diener. Ich hörte, als die Deutschen in ihrer Sprache referierten, wie sich zwei Diener unterhielten und der eine zum anderen sagte: „Hast Du es gemerkt? Sie sind schon wieder da.“ – Nun, die anschließende Berufung und Ernennung als Ordinarius für Geistesgeschichte des Humanismus erfolgte durch den Nachfolger von Hundhammer, ein Kollege, der mich noch aus der Freiburger Zeit kannte.

Widerspruch: War die Errichtung dieses Ordinariats, das ja in München keine Tradition hatte, unproblematisch?

Grassi: Ja. Meine Aufgabe war es, all die wissenschaftlichen Beziehungen, die auf dem Gebiet des Humanismus abgebrochen waren, wiederherzustellen. Das Sekretariat war damals im Prinz-Carl-Palais, nicht in der Universität.

Widerspruch: Hatten Sie philosophische Kontakte zu den anderen Münchner Philosophen Aloys Wenzl, Alois Dempf oder Max Müller?

Grassi: Nein, Max Müller kannte ich noch von Freiburg her. Aber philosophisch konnte ich nicht viel mit ihm anfangen.

Widerspruch: Helmut Kuhn?

Grassi: Nein, ich hatte ihn aber früher einmal kennengelernt. – Stattdessen haben Sedlmayr und ich gemeinsame Vorlesungen gehalten. Ich kannte Wenzl.

Widerspruch: Romano Guardini?

Grassi: Die Beziehungen zu Guardini, die in Berlin sehr intim waren, bestanden, als ich hierher kam, kaum mehr.

Widerspruch: Henry Deku?

Grassi: Meines Wissens ist er mit den Amerikanern 1945 hierher gekommen und hatte durch sie hier in München eine Stelle erhalten. Er war ein ausgezeichneter Lehrer der Scholastik. Aber als ich ihn einmal fragte, ob ich ihm nicht helfen könnte, bürokratisch zu einer besseren Stelle zu gelangen, lehnte er ab. Er war in seiner Bescheidenheit ganz zufrieden.

Widerspruch: Die Institute waren also getrennt. Jeder konnte in seinem Institut frei schalten und walten und Kontakte oder Auseinandersetzungen gab es kaum?

Grassi: Ja, ich habe mich gehütet, bei einem anderen Institut irgendwie mitreden zu wollen. Und außerdem hatte ich nie irgendeinen Sinn für Bürokratie gehabt.

Widerspruch: Wissen Sie, wie in München „1945“ aufgearbeitet wurde?

Grassi: Das waren – wie es immer ist – interne Probleme der verschiedenen Fachseminare. Ich habe mich in den 50er Jahren schwerpunktmäßig bemüht, interdisziplinäre Veranstaltungen anzubieten und durchzuführen. Etwa über Kunst mit dem Kunsthistoriker Sedlmayr oder über modernes naturwissenschaftliches Denken mit dem Biologen und Mediziner Uexküll. In den 50er Jahren, aber auch später, habe ich daran gearbeitet, den italienischen Humanismus auf die antike Philosophie zu beziehen, also die antiken Voraussetzungen des modernen Humanismus herauszuarbeiten. Das habe ich als meine Aufgabe gesehen, auch die 22-jährige Herausgabe vor Rowohlts „Enzyklopädie und Klassiker“.

Widerspruch: Hatte die Philosophie, die nach 1945 in München gelehrt wurde, einen einheitlichen, hervorstechenden Charakter, so dass man von einer typisch „Münchner Philosophie“ sprechen könnte?

Grassi: Nein. Es gab die „Frankfurter Philosophie“, aber keine Münchner. Das Philosophieangebot in München war sehr katholisch.

Widerspruch: Wie war es damals mit den Studenten? Sie kamen ja nicht von den Gymnasien, sondern aus dem Krieg mit ganz eigenen Erfahrungen. Hat sich das nicht in den Seminaren niedergeschlagen?

Grassi: Das müssen Sie die damaligen Studenten fragen.

Widerspruch: Ende der 60er Jahre haben Sie die jugoslawischen “Praxis“-Philosophen eingeladen und mit ihnen eine Vorlesungsreihe über Humanismus und Marxismus veranstaltet.

Grassi: Mein Anliegen war es, den Humanismus der Renaissance nicht nur rückwärts zu seinen antiken Quellen hin zu verfolgen, sondern auch vorwärts hin zu Marx. Nach dem Krieg erschienen ja auch Sartres Abhandlungen über das Verhältnis von Existentialismus, Humanismus und Marxismus. Auf der anderen Seite sah ich meine Aufgabe darin, interessante, für die Studenten anregende Veranstaltungen durchzuführen. Und dazu geh6rte es auch, Leute nach München zu holen und ihnen Gehör zu verschaffen.

Widerspruch: War Ihre Haltung zum Marxismus Ausdruck der 60er Jahre oder hatte sie schon frühere Wurzeln?

Grassi: Ja, gewisse Ursprünge waren schon da, aber die eigentlich intensivere Beschäftigung stammt zweifellos aus den 60er Jahren im Zusammenhang mit der Studentenbewegung.

Widerspruch: Wie ist Ihre Öffnung zum Marxismus hin aufgenommen worden?

Grassi: Es gab viel Kritik, auch von Studenten, denen dieser Marxismus nicht gefallen hat. Aber auch von Seiten der Universität. Damals war die Situation so, dass ich Drohbriefe erhalten habe, als ich es wagte, die jugoslawischen Marxisten hierher einzuladen. Es war – trotz solch unschöner Ereignisse – jedenfalls für mein philosophisches Verständnis eine aufregende Zeit. Danach habe ich noch für den Fink-Verlag die Reihe ,Humanistische Bibliothek“ herausgegeben und Vorlesungen an der amerikanischen Universität in Columbia, N.Y. und Pennsylvania und in Südamerika gehalten.

Widerspruch: Lieber Herr Grassi, wir danken Ihnen für das interessante Gespräch.

(Das Gespräch führten: Konrad Lotter und Alexander von Pechmann)