Dausner – Migration und Hospitalität

René W. Dausner (Hg)

Migration und Hospitalität. Im interdisziplinären Gespräch mit Donatella Di Cesare

br., 224 Seiten, 29,00 Euro

Baden-Baden 2025 (Nomos-Verlag)

von Bernhard Schindlbeck

Es geht hier um ein eminent wichtiges und interessantes Buch, das den Leser, der sich ernsthaft darauf einlässt, wirklich ins Nachdenken bringt. Wichtig ist es schon deshalb, weil es dankenswerterweise deutlich macht, inwiefern seit 2015 die politische, aber auch die akademische Diskussion über Migration von einem extrem verengten und bornierten Standpunkt aus, vorwiegend dem einer allfällig behaupteten „territorialen Souveränität“ einer vermeintlich „autochthonen Bevölkerung“ geführt wird. Ziel des Buches ist, wie Herausgeber René Dausner schreibt, den „innovativen Ansatz der italienischen Philosophin Donatella Di Cesare aufzugreifen und in einem ausführlicheren Kontext zur Geltung zu bringen“ (9). Die Beiträge beziehen sich in unterschiedlicher – zustimmender, kritischer, ergänzender und weiterführender – Weise auf Donatella Di Cesares Buch Philosophie der Migration (deutsch 2024), dessen aussagekräftiger Originaltitel Stranieri residenti. Una filosofia della migrazioni im Deutschen nicht hinreichend zur Geltung kommt; denn, so Dausner, die „zentrale Figur des Buches ist der ansässige Fremde“ (10). Es geht also um den Umgang mit Fremden, Fremdheit und Alterität, um Grenzen bzw. Ausgrenzung, Territorien, Wanderung, Gastfreundschaft, gemeinsames Wohnen, Recht und Rechtlosigkeit.

Nach der Einleitung des Herausgebers folgt zunächst Di Cesares eigener Beitrag Wer sind die Migranten? Versuch einer Phänomenologie, bevor in zehn Aufsätzen aus mehreren Perspektiven verschiedene Interpretationen, Einwände, Bezüge zu anderen philosophischen Ansätzen (vor allem zu Derrida und Levinas) und zu historischen Vorgängen und Entwicklungen entfaltet und diskutiert werden. Den Schluss bildet eine Replik Di Cesares auf die kritischen Anmerkungen und auf Darstellungen, in denen sie sich nicht richtig verstanden sieht.

Johann Szews (Magdeburg) nimmt im Ausgang von Carl Schmitts Demokratie-Verständnis („Zur Demokratie gehört also erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen“) das in den meisten politischen Migrationskonzepten heute vorherrschende Phantasma der Homogenität der in den staatlichen Grenzen lebenden Bevölkerung in den Blick und zeigt, inwiefern die Vorstellung der Homogenität der Bevölkerung eine von (nicht nur rechtsextremen) Politikern gern und gezielt bediente Vorstellung ist, um die „Identität eines Volkes“ zu konstruieren, „bevor soziale Unterschiede ins Spiel kommen können“ (93). Die behauptete Homogenität einer angeblichen autochthonen Bevölkerung hat selbstredend einen ideologisch-integrierenden Zweck, der zu der Exklusionsdynamik führt, die gegenwärtig zu beobachten ist. „Weil die Volksgemeinschaft auf Bestätigung gegenüber der Realität angewiesen ist, sich immer wieder neu gegen die letztendliche Unbestimmtheit der Grenzen des Volkes bestimmen muss, werden ständig ‚Gemeinschaftsfremde‘ markiert und ausgegrenzt“ (94). Dagegen formuliert Di Cesare „eine migrationsphilosophische Intervention, die jedem Phantasma der Homogenität widerspricht und stattdessen die Position irreduzibler Heterogenität und Fremdheit einnimmt. Es geht ihr um eine Umkehrung der Perspektive: Die Philosophie sollte aus der Perspektive der Migrant:innen denken, und nicht den Blick der Volksgemeinschaft oder der staatlichen Souveränität übernehmen“ (98 f.).

Eine wichtige Klarheit schaffen Andreas Hetzel und Amanda Malerba (Hildesheim) mit der Feststellung: „Di Cesare sucht nicht [wie so viele andere Publikationen, kann man als Leser gedanklich ergänzen], einfach nach Antworten auf das vermeintliche ‚Problem‘ der Migration oder auf eine vermeintliche ‚Migrationskrise‘. Dieser Begriff, der seit 2015 auch in der akademischen Philosophie verwendet wird, zeichnet die Sesshaftigkeit und das Privileg, über ein Territorium als exklusiven Besitz zu verfügen, von vornherein als Normalform aus. Dafür steht exemplarisch die von der GAP (Gesellschaft für analytische Philosophie) im Jahr 2015 ohne jede Ironie ausgeschriebene Preisfrage ‚Welche und wieviele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?‘ In dieser Frage manifestiert sich ein im Sinne Michel Foucaults ‚gouvernementales‘ oder im Sinne Jacques Rancières ‚polizeiliches‘ Verständnis des Philosophierens als Instanz einer sozialtechnischen Problemlösung bzw. einer Abarbeitung von Kollateralschäden des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses“ (48). In ihrem Beitrag Migration und Kohabitation referieren sie (ausführlicher als einige andere Autoren) Di Cesares Vergleich des Umgangs und Zusammenwohnens mit den Fremden in den antiken Städten Athen, Rom und Jerusalem. Athen war die „erdverbundene“ souveränistische Stadt der Autochthonie, die anderen die Zugehörigkeit strikt verweigerte, während Rom mit seiner Expansionspolitik und dem „Versuch, die Eroberten an das Imperium zu binden“ (52), in seinem offeneren Konzept die Bürgerschaft „ausschließlich juristisch“ definierte und von Geburt, Herkunft und Wohnort löste. Schon Aeneas war ja ein Flüchtling. „Das biblische Jerusalem“ jedoch, „das uns aus der Tora und dem Talmud bekannt ist, erlaubt uns aus Di Cesares Sicht, die Dichotomie von Staatsbürgern und Fremden vollends zu dekonstruieren. Diese Dekonstruktion wird möglich, weil sich Fremdsein und Wohnen in der ‚hebräischen Landschaft‘ nicht trennen lassen. Jerusalem ist vor allem die Stadt des [hebr.] ger, des ansässigen Fremden: Alle, die ‚hier‘ sind, sind ‚nicht von hier‘, so dass die Rede von Fremden ihren Sinn verliert.“ Die Fremdheit bilde damit, wird Di Cesare zitiert, „den Grund und das Fundament von Gemeinschaft“ (53).

Judith Kohlenberger (Wien) fragt ganz direkt: Wem gehört das Land?, um das „Spannungsverhältnis zwischen Universalität und Souveränismus“, in dem der „ansässige Fremde“ sich befindet, auszuloten. „Der universelle Anspruch von Menschenrechten stand von Beginn an den speziellen Rechten, die der Staatsbürgerin zuteilwerden, diametral gegenüber“ (153). Sie verweist auch auf das von Chantal Mouffe konstatierte „demokratische Paradox“, dass die von den politischen Prozessen Ausgeschlossenen als ansässige Fremde dennoch den von den Eingeschlossenen gemachten Gesetzen (z.B. als Steuerzahler) unterworfen sind, ohne auf diese Einfluss nehmen zu können. „Ja mehr noch, sie sehen sich dem rechtlichen Zirkelschluss gegenüber, dass das Volk bestimmt, wer auch perspektivisch zum Volk gehören darf, und zu welchen Bedingungen“ (152). Eine unfreiwillige Bestätigung für diesen territorialen Souveränismus und die Sesshaftigkeit als „Privileg, über ein Territorium als exklusiven Besitz zu verfügen“ (Hetzel/Malerba, 48), liefert etwa Julian Nida-Rümelins Buch Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration (2017), in dem der Autor genau jenen national-territorialen Besitz-Souveränismus vertritt, gegen den Di Cesare sich wendet. Die „Legitimation von Grenzen“ begründet Nida-Rümelin mit der Analogie der eigenen Wohnung, die für alle Fremden, die nicht in der Wohnung leben, eine „legitime Grenze“ darstelle, denn: „Ich kontrolliere als Wohnungseigentümer oder Mieter den Zutritt zu dieser Wohnung und mein Status als Eigentümer oder Mieter gibt mir individuelle Rechte, darunter das Recht, den Zutritt oder den Aufenthalt zu verweigern, auch im Falle, dass die [fremde] Person gute Gründe hat, sich den Zutritt oder den Aufenthalt zu wünschen“. Nida-Rümelin entgeht hier völlig, dass er juridisch vom schon gesetzten Recht aus und völlig zirkulär argumentiert: Ich habe das Recht, weil ich das Recht habe. Der Fremde hat nur einen „Wunsch“, aber eben kein Recht. Nida-Rümelin dehnt ganz einfach die politische Ideologie des Besitzindividualismus auf einen vermeintlichen nationalstaatlichen „Besitz“ aus, um die inhumane Politik der Zurückweisung von Schutzsuchenden zu rechtfertigen. Mit Ethik hat das zwar nichts zu tun, aber genau so funktionieren die propagandistisch-ideologischen Mechanismen des gegenwärtigen Migrationsdiskurses, der dann die Floskel von der „illegalen Migration“ erfolgreich verbreitet.

Das in Di Cesares Phänomenologie so wichtige „Zusammenwohnen“, das Margit Eckolt (Osnabrück) ins Zentrum ihres Beitrags stellt, würden Nida-Rümelin und die politische Kaste, die er so gerne berät, gar nicht verstehen. „Gerade den Fremden – und hier knüpft Di Cesare an Emmanuel Levinas und Jacques Derrida an – kommt im Blick auf die Frage nach dem Wohnen besondere Bedeutung zu“ (165). Denn der Fremde „erschüttert“ das Wohnen, er „entäußert und entwurzelt“, er „entkoppelt“ von Eigentum, Zugehörigkeit und vom Haben, „und steht für eine Gestalt von Existenz, die mit einem ‚transitorischen Aufenthalt‘ verbunden ist, und so wird diese Gestalt zur ontologischen Grundfigur einer Philosophie der Migration“ (165). Zustimmend zu einem ius migrandi als Menschenrecht zitiert Eckholt ausführlich: „Der Horizont einer Gemeinschaft, der sich von der Nation, der Geburt und der Abstammung losgesagt hat und sich der im Namen des Blutes begangenen Verbrechen sowie der im Namen des Bodens geführten Kriege erinnert, die sich des Exils bewusst ist, die offen ist für Gastfreundlichkeit, die sich in die Lage versetzt, politischen Formen stattzugebnen, in denen das Immune dem Kommunen und Gemeinsamen den Vortritt lässt“ (163). Ekholt betont Di Cesares Anliegen, „die Gastfreundschaft auf [der] Ebene des Rechts zu verankern, und zwar nicht nur wie bei Immanuel Kant als ein ‚Besuchsrecht‘, sondern als ein ‚Wohnrecht‘“ (167).

Annabel Herzog (Jerusalem) kontrastiert Di Cesares Ansatz mit der von dem jüdischen Talmudisten und Religionsphilosophen Daniel Boyarin vorgeschlagenen „No-State Solution“ für Palästina; er hält als orthodoxer Jude die Diaspora für die eigentliche (oder soll man sagen „richtige“) Heimat der Juden, die somit keinen Staat im traditionellen Sinn brauchen. „Für Boyarin hat das Judentum nichts mit der Staatsbürgerschaft zu tun, und daher kann ein Jude Bürger eines jeden Landes sein. Gleichzeitig kann ein Jude nur im Talmud (einer Synekdoche für die jüdische Kultur) national zu Hause sein, der als ‚reisende Heimat‘ dient“ (81). Kritisch vermerkt Herzog die „Tatsache, dass weder Di Cesare noch Boyarin in ihren Büchern politische Leitlinien anbieten“ und „keine konkreten politischen Pläne oder Institutionen vorschlagen“ (85). Denn „das grundlegende Problem der staatszentrierten Souveränität“ und der „Starrheit der Grenzen“ bleibe ungelöst (87). Zur „Sicherung des Wohlergehens der Migrant:innen“ seien Strukturen erforderlich. Wie kann, fragt sie, „unterdrückten Menschen geholfen werden, wenn es keine Strukturen zur Bekämpfung von Herrschaft und Unterdrückung gibt? Zweifellos erhalten die Unterdrückten der Welt derzeit keine angemessene Hilfe, aber würden sie ohne demokratische Souveränität überhaupt Hilfe erhalten?“ (ebd.)

Jürgen Manemann (Hannover) rückt den ethischen Anarchismus Di Cesares in den Vordergrund. Seiner Feststellung: „Migrant:innen besitzen ein Wissen davon, dass die Ordnungen des Zusammenlebens in gewisser Weise einen künstlichen Charakter haben, mithin auch ganz anders aussehen könnten“ (62), liegt eine bedeutende (wenn auch weitgehend ignorierte) politische Einsicht hinsichtlich der Kontingenz des jeweils Bestehenden zugrunde. Di Cesares ethischer Anarchismus beinhaltet mit seinem „Potenzial von produktiven Destabilisierungen“ in seiner Konsequenz, „auch Praktiken einer ‚anarchischen Revolte‘ aufzuspüren, durch die die staatszentrierte Ordnung auf Neues hin aufgebrochen wird“ (65). Als Fazit mündet dieser Beitrag in einer Aufgabe für die Philosophie: „Di Cesare gelingt es, die Notwendigkeit eines ethischen Anarchismus dadurch auszuweisen, dass sie sich den einhegenden Mechanismen exophober Solutionismen entzieht und so das Potenzial von Philosophie als Problemlösungsverweigerungspraxis freilegt. Ein solcher Anti-Solitionismus, der gegen eine Nekropolitik in Stellung gebracht wird, dispensiert die Philosophie allerdings nicht davon, Menschen zu helfen, eine Haltung auszubilden, die eine Praxis lebbar macht, die dem Anspruch eines ethischen Anarchismus entspringt – eine Leerstelle in der ‚Philosophie der Migration‘. Eine Philosophie der Migration hätte deshalb die Aufgabe, auch die lebenspraktische Dimension von Philosophie herauszuarbeiten, um Menschen darin zu empowern, Fähigkeiten zu erwerben, um sich aktiv in das Zusammenleben einzubringen“ (65).

Eine interessante und wohl die radikalste Kritik an die Di Cesare trägt Carsten Lotz (Mannheim) bei. Unter dem Titel Die gescheiterte Migration nimmt er einen Satz aus Di Cesares Nachwort zur deutschen Ausgabe zu seinem Ausgangpunkt: „Als letzte Version des zeitgenössischen Elends, die sogar über die wirtschaftliche Erniedrigung hinausgeht, stellt der Migrant in seiner unrechtmäßigen Nacktheit das Gespenst des Gastes dar, den seiner Sakralität und seines epischen Anderswo entkleideten Fremden.“ In fünf kurzen Abschnitten unterzieht er die Begriffe „Letzte Version des zeitgenössischen Elendes“, „Unrechtmäßige Nacktheit“, „Das Gespenst des Gastes“, „Sakralität und episches Anderswo“ und „Der entkleidete Fremde“ einer so radikalen wie minutiösen Kritik, um zu zeigen, inwiefern Di Cesare „die Begrifflichkeiten einer Philosophie der Sesshaftigkeit und der Identität“ letztlich doch nicht los wird (103). „Ein ius migrandi,“ so Lotz, „kann es nicht als solches geben, weil sich ein Recht auf ein Mitglied einer Gesellschaft bezieht und der Migrant an der Grenze jener Gesellschaft steht“ (108). Er beharrt also darauf, dass die von Kant im „Dritten Definitivartikel zum ewigen Frieden“ formulierte Hospitalität „kein Recht sui generis“ sei, nur ein Besuchsrecht und kein Bleiberecht. „Der Gast kann auch wieder weggeschickt werden, denn das Recht der Hospitalität ist beides: ein Recht des Gastes und ein Recht des Wirtes, eine Pflicht des Gastes und eine Pflicht des Wirtes“ (109). Auch die allgemeine Hospitalität brauche „einen Gastgeber, der sich in seiner Verantwortung für den Gast als solcher erweist. Wenn wir alle nur noch migrieren, gibt es weder Gäste noch Gastgeber. Wenn es nur noch andere gibt und keine Hierarchie mehr, gibt es keine Gerechtigkeit mehr“ (114). Di Cesares „radikaler Pluralismus“ lasse „das Fremde nicht mehr erkennbar werden“ (ebd.). Er fragt, ob aus dem von ihr propagierten ius migrandi nicht „ein ius considendi“ werde, ein „Recht, sich niederzulassen, ein Recht zu siedeln, wie es von den Philosophen der Kolonialzeit auch geprägt wurde“ (111). Zweifelhaft an dieser Kritik ist, weshalb Hierarchie eine Bedingung für Gerechtigkeit sein sollte; ebenso die gedankliche Verbindung von Migration und Besiedlung, wie man sie aus dem Kolonialismus kennt, die durch die assoziativen Vorstellungen von Siedeln, Niederlassung und Landnahme zustande kommt. Genau gegen diese falsche Gleichsetzung von Migranten und Siedlern erhebt Di Cesare in ihrer Replik am Ende des Buches Einspruch, denn die Gleichsetzung fällt zurück in die falsche dichotomische Fixierung auf die Autochthonen und die Fremden.

In seinem Beitrag Ende oder Endlichkeit der Gastfreundschaft kritisiert Stefan Gaßmann (Münster) Di Cesares Lévinas-Interpretation, in der er den „Vorwurf an Lévinas“ entdeckt, „dass dessen Denken dazu führe, Gastfreundschaft als ‚außerpolitische, ethische Instanz‘ zu verstehen“. In einer subjektphilosophischen Wendung denke Lévinas (laut Di Cesare) lediglich die ‚Geste des Empfangs‘, ohne aber eine ‚Philosophie der Aufnahme‘ zu entwickeln, die „der konkreten Aufnahme des Anderen Rechnung“ tragen würde. „Die Antwort auf die Infragestellung durch den Anderen bliebe damit in Lévinas‘ Philosophie gleichsam aus, weil die ethische Verantwortung für den unendlichen, unbedingten Anspruch des Anderen, in der endlichen Politik nicht rein gewahrt bleiben könne und Gastfreundschaft als reale Aufnahme daher nicht rechtlich institutionalisierbar sei“ (118). Sie verbleibe also auf einer ethischen Ebene und damit in einer „außerpolitischen Sphäre“. Gaßmann wirft Di Cesare vor, dass „die Konturen dessen, was sie mit Politik im allgemeinen und einem politischen Begriff von Gastfreundschaft im Speziellen meint, reichlich farblos und unspezifisch“ bleiben; denn „abgesehen von einer emphatischen Einforderung der Aufnahme und einer das Zusammenwohnen mit Fremden ermöglichenden Politik, gibt PM (i.e. Philosophie der Migration) wenig Orientierung, welche kritischen Maßstäbe für die konkrete Umsetzung der Aufnahme die Philosophie bereitstellen könnte“ (ebd.). Im Folgenden referiert der Beitrag zentrale Stellen aus Lévinas‘ Hauptwerken Totalität und Unendlichkeit und Jenseits des Seins, um Di Cesares Interpretation zu widerlegen. In ihrer Replik antwortet sie: „Meine Kritik des Souveränismus wäre undenkbar ohne die Reflexion von Lévinas auf das souveräne Ego, das den Anderen eliminiert – bis hin zu Auschwitz. Ich habe nie behauptet, dass das Denken von Lévinas oder das von Derrida unpolitisch wäre“ (207). In seinem letzten Abschnitt aber verfällt Gaßmann selbst dann doch in den sattsam bekannten Politiker-Sound, wenn er etwa die Forderungen nach Integration („keine Abwertung von Andersheit“), Institutionen, Grenzen und Schranken sowie Rechte und Pflichten verteidigt.

Naika Foroutan (Berlin) erörtert die Ambivalenz der Hospitalität in postmigrantischen Gesellschaften und fragt: „Wem gebührt die Gastfreundschaft und wer hat das Recht, sie zu gewähren?“ Ihr Ausgangspunkt sind vor allem Ergebnisse empirischer Forschung. „Die postmigrantische Gesellschaft ist von zurückliegender und aktueller Zuwanderung eines Teils der Bevölkerung geprägt und Migration ist politisch als konstitutiver Bestandteil der Gesellschaftsordnung anerkannt – auch wenn die Einstellungen eines relevanten Teils der Bevölkerung dazu negativ sein mögen“ (131). Im Ausgang von dieser Definition wird die konkrete Spaltung der Gesellschaft „in jene, die mit Pluralität, Hybridität und Ambivalenzen umgehen können, und jene, die sich dadurch verunsichert fühlen oder diese radikal ablehnen“, beschrieben. Auch Migranten der zweiten oder dritten Generation, die sich selber inzwischen zur „ursprünglichen“ Bevölkerung zählen, können ihre vermeinten „Privilegien“ durch Neuankömmlinge bedroht sehen. Mit einer solchen „zunehmenden demographischen und generationalen Heterogenität pluralisieren und hybridisieren“ sich Herkünfte, was „postmigrantische Aushandlungen“ (132), damit aber auch das Versprechen der Gleichheit erschwert, da immer mehr Gruppen das Recht der Gleichheit beanspruchen. „Migration ist dabei zu einer Chiffre geworden, in der die Abwehrphantasien kulminieren“ (139). Wenn die Nachfahren von Migranten selber den Anspruch erheben, „zu entscheiden, wer willkommen ist und wer nicht“, dann wird „die Idee der Hospitalität zunehmend unschärfer“ (148). Foroutans Fazit, dass die Migranten damit „auf eine zukünftige Art des Zusammenwohnens“ zeigen, die (Di Cesares Denken entsprechend) „nicht im Bann der Verwurzelung verbleibt, sondern in der Öffnung einer vom Besitz des Territoriums befreiten Bürgerschaft und einer Gastfreundschaft existiert“ (148), scheint eher ein Wunschdenken als in empirischer Analyse fundiert zu sein.

Regina Polack (Wien) überlegt, in welcher Weise Di Cesares Philosophie mögliche Anschlüsse für die praktische Theologie, d.h. für ihre Arbeit als Pastoraltheologin bereithält. Das vielfältige konkrete historische Versagen des Christentums im Umgang mit Fremden, z.B. eroberten Völkern, nennt sie „Schmerzpunkte für die deutschsprachige Theologie“, die es zu erkennen gilt und zu einer Umkehr nötigen. Einigermaßen seltsam mutet ihre Frage an: „Haben wir das gemeinsame Wohnen auf der Erde verlernt, das Di Cesare so eindringlich beschreibt …?“ Denn die Rückfrage würde lauten: Haben wir (wer immer das ist) es denn jemals gekonnt? In der alltäglichen Arbeit in der christlichen Gemeinde jedenfalls muss die Theologin auch bei nur kleinen Schritten in Richtung der Anerkennung von Migranten-Rechten „auf die Perspektive der Sesshaften Rücksicht nehmen“ (194), um überhaupt Gehör zu finden. „Politisch sind Di Cesares Forderungen derzeit in Europa schlicht und ergreifend nicht realisierbar“ (195).

Isabella Bruckner (Rom) sucht zu Di Cesares Migrationsphilosophie biblisch-christliche Ressourcen europäischer Gastlichkeit, sind doch die Erzählungen im Alten und Neuen Testament voll mit den Themen der Fremdheit, der (Nicht-)Zugehörigkeit, der Wanderung und der Gastlichkeit, und in all ihrer Fülle hilfreiche und notwendige Interpretamente, die implizit deutlich machen, was einer analytisch-philosophischen Auseinandersetzung mit dem Thema und ihrem letztendlich immer utilitaristischen Bezug für ein echtes Verständnis mit der Problematik fehlt. Neben den vielen etymologischen Verweisen werden natürlich die (bekannten oder weniger bekannten) relevanten Textstellen genannt, „Erzählungen des Fluchs, wo die Gastfreundschaft den Fremden verweigert oder sie sogar gewaltsam missbraucht wird“ (178), das christliche Gleichnis vom barmherzigen Samariter, oder der Spruch Gottes als Weltenrichter am Ende der Zeit, der in Matthäus 25,34 die Aufnahme des Fremden als das entscheidende Kriterium für die Trennung der Erlösten von den Verfluchten benennt, was Bruckner aber nicht wörtlich zitiert. („Geht weg von mir ihr Verfluchten, … denn ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen.“) Leser, denen alles Theologische suspekt ist, können diese eschatologische Trennung als Metapher für die Unterscheidung von gelingendem und misslingendem Leben im Diesseits interpretieren. Am wichtigsten in dieser theologisch-phänomenologischen Herangehensweise ist aber wohl, „dass Gott selbst der Fremde/Gast ist“ (177). Zum Beispiel in der Erzählung von Abraham und den drei Fremden. Auch auf die Bedeutung der Gastlichkeit in der von Benedikt von Nursia und seinen Regeln begründeten Gemeinschaft der klösterlichen Lebensform geht Bruckner ausführlich ein.

Der nicht zu übersehende Unterschied zwischen Di Cesares phänomenologischer Philosophie und der analytischen Philosophie (den, wie erwähnt, auch Hetzel und Malerba hervorheben) wird von Di Cesare selbst ausdrücklich thematisiert, nämlich in ihrer entrüsteten Replik auf einen Gedanken Judith Kohlenbergers, die gegen Ende ihres Aufsatzes schreibt: „Di Cesares Konzept des ‚Zusammenwohnens‘ erinnert in seiner gleichzeitigen Schlichtheit wie Radikalität an das Gedankenexperiment des Schweizer Philosophen Andreas Cassee, das wiederum auf den ‚Schleier des Nichtwissens‘ von John Rawls zurückgeht.“ Cassee fragt in seinem Essay Globale Bewegungsfreiheit (2016) so ähnlich wie Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit: „Auf welche Grundsätze für den Umgang mit internationaler Migration würden wir uns einigen, wenn wir nicht wüssten, welche Staatsangehörigkeit wir besitzen, welcher sozialen Schicht wir angehören und welche Vorstellung von einem gelingenden Leben wir verfolgen?“ (159) Wenn man so einen hypothetischen Moment vor der eigenen Geburt imaginiert, kann man eine Antwort geben auf die Fragen, „welche Einwanderungsgesetze, welche Grenzkontrollen (und deren Durchsetzung), welche Form der humanitären Aufnahme (und Höhe der Kontingente), welches internationalisierte Passsystem würden wir uns wünschen?“ (ebd.) Das sog. „Gedankenexperiment“ läuft also schlicht darauf hinaus, sich in einen an einer europäischen Grenze zurückgewiesenen afrikanischen Flüchtling, der gerade dem Ertrinken im Mittelmeer zufällig entronnen ist, hineinzuversetzen. Aber genau diese Empathie wird ja von den europäischen Politikern (und den meisten Bürgern) bekanntlich massiv abgelehnt. Di Cesares Einwand lautet: „Schon aufgrund meines philosophischen Hintergrunds habe ich mich nie des Instrumentariums eines Gedankenexperiments bedient, ein Verfahren, das bekanntlich im Denken analytischer Prägung verbreitet ist und das ich wegen seiner heillosen ethischen Konsequenzen heftig kritisiert habe – sowohl in Philosophie der Migration (gerade mit Bezug auf Rawls) als auch beispielsweise in Folter (2023). Jenseits dieser methodischen Notiz fällt bei diesem Urteil jedoch das grundsätzliche Missverständnis gerade bezüglich eines so heiklen und komplexen Themas in die Augen“ (216). Was die analytischen Moralphilosophen, die sich so gerne auf „unsere Intuitionen“ (z.B. Harry G. Frankfurt: „our moral intuitions“) verlassen, nicht begreifen wollen, ist, dass diese Intuitionen (wie Nida Rümelins Buch Über Grenzen denken unfreiwillig bestätigt) immer schon von den bestehenden (herrschenden) Verhältnissen und jahrhundertealten egoistischen Praktiken geprägt sind, deren Legitimität erst aufzuweisen die Aufgabe der Moralphilosophie wäre; kurzum: dass sie einem von ihnen nicht erkannten Zirkelschluss das Wort reden. (Unsere Intuition: Dass nur ich bestimme, wer außer mir in meiner Wohnung oder meinem Haus wohnen darf, ist doch selbstverständlich. Analog bestimmen wir, wer in unser Land kommen darf. Olaf Scholz: „Wir dürfen uns aussuchen, wer zu uns kommen darf und wer nicht.“) Nicht zuletzt in dieser scharfen Abgrenzung von einem sowohl in philosophischer als auch ethischer Hinsicht desaströsen Denken wird mit dem Buch das von Dausner in der Einleitung gesetzte Ziel erreicht, Di Cesares innovative Philosophie der Migration in einem umfassenderen Kontext darzustellen. Und es wird deutlich, wie notwendig in einer sich immer stärker abschottenden „Festung Europa“ die Auseinandersetzung mit ihr ist.

Carlos Ulises Moulines – „nomen est omen“


Carlos Ulises Moulines (* 1946 in Caracas, Venezuela) studierte in Barcelona Physik, Philosophie und Psychologie und promovierte 1975 in Logik und Wissenschaftstheorie. Von 1993 bis 2012 war er Ordinarius für Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie an der Universität München und Vorsitzender des Instituts. Er ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und war von 1997 bis 2000 Präsident der Gesellschaft für Analytische Philosophie.

Das Angebot des Widerspruch, eine kurze Selbstbiographie für die Rubrik „Münchner Philosophie“ zu schreiben, nehme ich gerne wahr. Es stellt eine willkommene Gelegenheit dar, mir Gedanken darüber zu machen, wieso ich Philosoph, dazu noch „Münchner Philosoph“, geworden bin, und die Ergebnisse all denen mitzuteilen, die erfahren möchten, was zur Fauna der Münchner Philosophie gehört.

Als meine Eltern beschlossen, mir als Vornamen die hispanisierte Version des altgriechischen „Odysseus“ zu geben, ahnten sie wohl nicht, wie sehr sie dadurch meinen Lebenslauf vorbestimmten. Inzwischen bin ich zu der festen Überzeugung gelangt, dass im lateinischen Spruch „nomen est omen“ ein Körnchen Wahrheit steckt – auch wenn Sie, liebe LeserInnen, dies als einen des Philosophen unwürdigen Aberglauben abtun sollten! Das ständige Herumvagabundieren des Helden von Homer habe ich, teils gewollt, teils ungewollt, nach Kräften nachgeahmt, und zwar nicht nur in geographischer, sondern auch in geistiger Hinsicht.

Ich bin in Venezuela geboren, wohin die Wirren des spanischen Bürgerkriegs und des Zweiten Weltkriegs meine Eltern verschlagen hatten. Sie waren Anhänger der spanischen Republik und mussten aufgrund von Francos Sieg zunächst nach Frankreich fliehen. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen wurden sie als „Fremdarbeiter“ nach Deutschland verschleppt. Abgesehen von den Phosphor-Bomben und von einem (verhältnismäßig kurzen) Aufenthalt meines Vaters in den Kerkern der Gestapo, war ihre Zeit in Nazi-Deutschland nicht so schlimm, wie sie zunächst befürchtet hatten. Als der Krieg zu Ende ging, gelang es ihnen unter abenteuerlichen Umständen, nach Venezuela auszuwandern.

Die deutsche Erfahrung meiner Eltern sollte sich als entscheidend für meine spätere Laufbahn erweisen, und dies aus zweierlei Gründen: Erstens haben sie mir seit frühester Kindheit eingeprägt, dass Deutschland nach wie vor, trotz Hitler & Co., eine grosse Kulturnation sei; und zweitens ließen sie mich öfters, da sie gute Freundschaften in Deutschland geknüpft hatten, die Ferien hier verbringen, wo ich zwar nie systematisch, wohl aber irgendwie funktional mit den Rudimenten der Sprache Brechts und mit der Komplexität der deutschen Seele einigermaßen vertraut wurde.

In Caracas machte mein Vater, der eine Ausbildung als chemischer Ingenieur hatte, eine wissenschaftlich-technische Buchhandlung auf, die sehr erfolgreich wurde. Jeden Tag nach dem Schulunterricht half ich ihm ein bisschen als Mann bzw. Kind für alles, und war notgedrungen konfrontiert mit Titeln der Art von „Partial Differential Equations“, „Thermodynamics of Irreversible Processes“ oder „Dynamics of Viscous Fluids“. Ich hatte zwar nicht die leiseste Ahnung, was sich hinter diesen Bezeichnungen verbergen konnte, doch beeindruckten sie mich sehr und blieben im Unterbewusstsein haften, gekoppelt mit der Mahnung: „Irgendwann musst du mal herausfinden, was dahintersteckt“. Unter den regelmässigen Kunden der Buchhandlung befanden sich viele Dozenten der naturwissenschaftlichen Fakultäten oder der Technischen Hochschule, die oft mit meinem Vater ins Gespräch kamen und Namen wie „Einstein“ oder „Darwin“, bzw. Wörter wie „Quanten“ und „Relativitätstheorie“ fallen ließen. Auch diese geheimnisumwobenen Ausdrücke regten meine Phantasie an.

Die Bücher, die ich zuhause in der umfangreichen, fünfsprachigen Bibliothek vorfand, waren von ganz anderer Art als die der Buchhandlung: vor allem politische Essays, Studien zur neueren Geschichte Lateinamerikas, Spaniens und Europas, viele Klassiker der Weltliteratur – und praktisch alle gesellschaftskritischen Schriften eines gewissen Bertrand Russell. Meine Eltern waren begeisterte Russell-Leser. Ich blätterte ab und zu mal rein, und nahm mir vor, irgendwann später Russells Essays genauer zu lesen. Aber damals zog ich selbstverständlich die Romane von Jules Verne oder die Erzählungen von Edgar Allan Poe bei weitem vor.

Angesichts der zunehmend instabilen Lage in Venezuela schickten mich meine Eltern, als ich kaum 13 Jahre alt war, zum Besuch des Gymnasiums nach Katalonien, zunächst in eine Kleinstadt zu einer Tante, dann nach Barcelona, wo ich das Abitur machte. Das war eine Zeit, an die ich mich heute noch mit Abscheu erinnere. Das Spanien der 60er Jahre litt noch unter einer grässlichen Diktatur. Die Oppositionellen wurden zwar nicht mehr so oft erschossen wie in den 40er und 50er Jahren – das war auch nicht mehr nötig, und zudem übte das Ausland einen gewissen Druck aufs Regime aus –, aber die bleierne, erstickende Atmosphäre war überall zu spüren: In den Polizeirevieren wurde systematisch gefoltert, Telefone wurden abgehört, nicht-gläubige Schüler wurden gezwungen, an der Schulmesse teilzunehmen, der öffentliche Gebrauch der Minderheiten-Sprachen, wie etwa des Katalanischen, war strikt verboten, viele, auch eher harmlose Bücher, wie etwa über Evolutionstheorie oder Sexualkunde, waren einfach nicht zu bekommen, usw. Und vor allem – man musste ständig aufpassen, was man sagte, und vor wem man es sagte.

Diese Erfahrungen waren schlimm, aber auch prägend. Seitdem weiß ich ganz genau, was für einen unermesslichen Wert es bedeutet, in einer echt freiheitlichen Gesellschaft zu leben. Es bedeutet nämlich, dass der Staat uns alle gefälligst in Ruhe lassen sollte, was unsere Meinungen und Überzeugungen anbelangt. Diese an sich banale Selbstverständlichkeit ist nach wie vor alles andere als gesichert. Nicht nur im heutigen, als so dynamisch und demokratisch gepriesenen Spanien gibt es immer noch eine beträchtliche Anzahl von Dummköpfen, die innerlich (oder sogar öffentlich) dem Franco-Regime nachtrauern. Auch in den älteren westlichen Demokratien findet allmählich und heimtückisch ein Rückgang in Richtung Reglementierung der Meinungsvielfalt statt, und zwar nicht nur in George Bushs Reich, sondern auch in Europa. Wir alle, die jüngere Generation aber ganz besonders, sollten auf der Hut sein. Es versteht sich von selbst, dass jeder Einschnitt in die Meinungsfreiheit, so klein er auch erscheinen mag, gerade für die Philosophie, aber nicht nur für sie, tödliches Gift darstellt.

Nach dem Abitur beschloss ich zunächst, mein Studium der Physik an der Universität Barcelona zu beginnen. Die offizielle Motivation war, dass ich wissen wollte, wie die Welt beschaffen ist. Der heimliche Grund aber war, dass ich endlich herausfinden wollte, was sich hinter den geheimnisvollen Titeln in der väterlichen Buchhandlung versteckte. Allerdings hatte ich damals schon auch damit angefangen, zahlreiche philosophische Texte verschiedenster Provenienz zu lesen. Ich hatte drei Lieblingsautoren. Einer war gewiss, schon aus familiären Gründen, Russell, hauptsächlich wegen seiner mathematikphilosophischen und erkenntnistheoretischen Werke, die mich sehr interessierten. Ein zweiter war der Tractatus-Wittgenstein, von dessen Existenz ich durch Russell erfahren hatte. Tag für Tag, Woche für Woche ackerte ich mich zusammen mit einem Freund durch jeden einzelnen Absatz dieses geheimnisvollen Werks durch. Wir verstanden wenig, aber fanden es sehr spannend. Die zwei Grundpfeiler von Wittgensteins Philosophie, die er im Vorwort explizit angibt: „Alles, was sich sagen lässt, lässt sich auch klar sagen“ und „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, empfand ich als absolut richtungsweisend, bedauerte allerdings, dass der Autor selbst offenbar nicht imstande war, sich daran zu halten. Trotz meiner eher kritischen Einstellung gegenüber Wittgensteins Stil des Philosophierens bin ich immer wieder auf Wittgenstein zurückgekommen. Jahre später sollte ich die Philosophischen Untersuchungen und Zettel ins Spanische übertragen.

Der dritte Lieblingsautor jener Zeit – und das wird manch einen, der meine philosophische Laufbahn kennt, überraschen – war Heidegger, insbesondere seine späteren Schriften. Ich war sogar davon überzeugt, dass ich sie verstand. Von Heideggers Zauberkunststücken mit der altgriechischen und der deutschen Sprache war ich regelrecht fasziniert. Während meines Physikstudiums, als ich mich durch die öden Differentialgleichungen gelangweilt fühlte, griff ich immer wieder zu den Holzwegen oder zu Was heisst Denken und bekam dabei das Gefühl, dass sich mir eine magische, erfrischende Welt öffnete. Doch bei der Lektüre von Heideggers Vorlesungen über Metaphysik stieß ich eines Tages auf die berüchtigte Stelle über „die innere Wahrheit der nationalsozialistischen Bewegung“. Es war ein regelrechter Schock. Die darauffolgende Entdeckung von Heideggers Rektoratsrede gab mir den Rest. Die Heidegger-Welle war für mich nun endgültig vorbei.

Heute weiß ich, dass dies ein voreiliger, philosophisch nicht gut fundierter Schluss war. Auch Frege war Antisemit – was jedoch seine logische Konstruktion der natürlichen Zahlen keineswegs falsch oder uninteressant macht. In jener Zeit aber wurde für mich durch diese Erfahrung klar, welche Art von Philosophie ich nicht ernst nehmen wollte; nicht klar dagegen war, welche ich ernst nehmen sollte, und ob ich mich überhaupt mit Philosophie systematisch beschäftigen wollte.

In dieser existenziell problematischen Lage half mir das Physik-Studium selbst zur endgültigen Entscheidung. Ich stand diesem zunehmend kritisch gegenüber. Nicht, weil mich der Stoff nicht interessiert hätte. Vielmehr ging es um die völlig kritiklose, dogmatische Art und Weise, wie er übermittelt wurde. Ich hatte das Gefühl, wie in einer erbarmungslos disziplinierten Armee, nur alles schlucken zu dürfen, was die Dozenten erzählten, und zur Anwendung fauler Tricks gedrillt zu werden, um Gleichungen zu lösen, oder um zu bewirken, dass unsere Laborversuche genau das zeigten, was ohnehin zu erwarten war. Jahre später las ich Thomas Kuhns Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, insbesondere das, was er als die „normale Wissenschaft“ und das „puzzle-solving“ beschreibt, und ich erinnerte mich: „Tja! Genauso war es bei meinem Physik-Studium!“. Auch demgegenüber bin ich heute klüger geworden und weiss, dass gerade diese brutal-dogmatische Art, den angehenden Physikern die Grundlagen des Fachs einzuhämmern, eine wesentliche Voraussetzung für die unglaubliche Erfolgsstory der Physik ausmacht. Damals sah ich das aber nicht ein. Ein anekdotischer Vorfall brachte dann das Fass endgültig zum Überlaufen. In der Mechanik-Vorlesung erzählte uns der Dozent, dass das sog. Zweite Prinzip Newtons den absolut zentralen Grundsatz der Mechanik darstelle, da es die Definition des Kraftbegriffs beinhalte. Ich hob die Hand und fragte, wieso dieser Satz so fundamental sei, wenn er eine Definition darstellt; denn eine Definition ist nur eine sprachliche Konvention über den Gebrauch eines Terms, die keine neuen Erkenntnisse liefert. Der Dozent zeigte sich durch meinen Einspruch sehr verärgert und erwiderte, wer solche blödsinnigen Fragen stelle, solle gleich zur Philosophie übergehen.

Was ich dann auch tat. Ich begann mein formelles Studium der Philosophie. Das Physik-Studium habe ich allerdings nicht ganz aufgegeben, sondern nur etwas verlangsamt. Ich studierte beide Fächer parallel, um mich u. a. der lästigen Frage um Newtons Zweites Prinzip zu entledigen. Später dann sollte ich erfahren, dass die Frage nach dem logisch-methodologi­schen Status dieses Prinzips in der Tat keineswegs trivial ist, und dass bedeutende Physiker und Wissenschaftstheoretiker sich damit seit Ernst Machs Zeiten herumgeschlagen haben. Ich selber meine inzwischen, eine Lösung dazu gefunden zu haben, die ich in einigen meiner Schriften dargelegt habe.

So bin ich also dank der schroffen Zurechtweisung meines Mechanik-Lehrers zum Philosophen und Wissenschaftstheoretiker geworden.

In der barcelonesischen Fakultät für Philosophie hatte ich das Glück, durch einen frischgebackenen Schüler von Hans Hermes, Jesús Mosterín, eine gute Ausbildung in der modernen Logik und der axiomatischen Mengenlehre zu bekommen, was im damaligen Spanien keineswegs selbstverständlich war. Es war aber nicht so sehr die „reine“ Logik, die mich anspornte, sondern die Möglichkeiten ihrer Anwendungen auf erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Probleme. Nun fiel mir mehr oder wenig zufällig Carnaps Logischer Aufbau der Welt in die Hände. Es war ein Aha-Erlebnis. Hier ist endlich einer, dachte ich, der Russells „Maxime des wissenschaftlichen Philosophierens“ (nämlich intuitive Schlüsse durch logische Konstruktionen, auch im Fall der empirischen Erkenntnis, zu ersetzen) wirklich in die Tat umsetzt. Meine Magisterarbeit widmete ich in der Hauptsache der Analyse und Revision von Carnaps „Konstitutionssystem“. In erweiterter Form erschien meine Untersuchung ein paar Jahre später als Buch. Seitdem hat mich das Interesse an Carnaps hochkomplexem Werk und an den Möglichkeiten, sein Programm irgendwie weiterzuführen, nie ganz verlassen, und nach dem erwähnten Buch habe ich dazu noch einige Aufsätze sowohl ideengeschichtlicher als auch systematischer Art veröffentlicht.

In dieser Zeit bekam ich ein ernstes Problem mit den spanischen Behörden. Bei einer Demonstration gegen das Franco-Regime wurde ich verhaftet. Da ich einen venezolanischen Pass bei mir hatte, wurde ich nicht – wie sonst üblich – verprügelt und eingekerkert, dafür aber des Landes verwiesen. Nun war aber das damalige Spanien zwar ein Polizeistaat, aber kein perfekter: Francos Schergen haben es nämlich versäumt, sowohl der Universitätsverwaltung wie auch ihren Konsulaten in Europa mitzuteilen, dass ich ein unerwünschter Ausländer war. So fuhr ich mal nach Frankreich, mal nach Italien, mal nach England, um mir dort beim Konsulat ein Touristen-Visum für sechs Monate zu besorgen, womit ich wieder nach Barcelona kam, mich für die Kurse einschrieb und weiterstudierte. Ich wurde sozusagen zu einem Untergrund-Studenten. Dieses Katz-und-Maus-Spiel dauerte drei Jahre. Natürlich war es sehr stressig, aber ich habe es doch bis zum Magisterabschluss (für den ich ironischerweise einen Preis bekam) geschafft.

Mir war aber klar, dass dieses Spiel nicht ewig lange dauern konnte, und dass ich in Spanien sowieso keine Chance hatte. Die Rettung kam quasi in letzter Minute durch ein DAAD-Promotionsstipendium, was meine in Ansätzen schon vorhandene Germanophilie erheblich verstärkte. Im Wintersemester 1970/71 „flüchtete“ich nach München, um im damals von Wolfgang Stegmüller geleiteten „Seminar für Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie“ zu promovieren, was vier Jahre später auch geschah. Als ich nach München kam, betrachtete ich mich selber als „Carnapianer“ und dachte, nun käme ich in die Obhut des bedeutendsten Carnapianers Europas. Doch damals war Stegmüller schon in eine – wie er selber später sagte – „tiefe geistige Krise“ geraten. Teilweise durch die Lektüre Kuhns, aber auch aus anderen Überlegungen heraus, sah er nun unüberwindliche Schwierigkeiten in der herkömmlichen Auffassung der Struktur und Funktionsweise der empirischen Wissenschaften. Als Reaktion darauf, und gerade als ich mein Promotionsstudium in München begann, fingen Stegmüller und einige seiner Schüler sich intensiv mit dem neuartigen, vielversprechenden Ansatz von Joseph D. Sneed zu beschäftigen.

Stegmüller leitete damals ein DFG-Projekt zu dieser Thematik, an dem ich als Mitarbeiter mitwirken durfte. In diesem Zusammenhang lernte ich auch Sneed, der als Gastprofessor nach München kam, und Wolfgang Balzer, ebenfalls ein Doktorand Stegmüllers, kennen. Mit ihnen (und mit Stegmüller bis zu seinem frühen Tod) verbindet mich seitdem eine dauerhafte Freundschaft und eine enge, langjährige Zusammenarbeit. Aus dieser Zusammenarbeit entstand die wissenschaftstheoretische Forschungsrichtung, die seit Ende der 70er Jahre als „strukturalistische Wissenschaftskonzeption“ allgemein bekannt wurde, und die später in dem von Balzer, Sneed und mir verfassten Werk An Architectonic for Science kulminieren sollte.

Nach meiner Promotion mit einer Arbeit „Zur logischen Rekonstruktion der Thermodynamik“ wurde ich 1975 Assistent bei Stegmüller. Ich war im Prinzip entschlossen, meine akademische Laufbahn in Deutschland fortzusetzen. Es gab aber schon wieder ein Problem: Die Ausländerbehörde an der Ettstrasse sah nicht ein, dass ein „Dritte-Weltler“, der bloss mit einem Stipendium hierher gekommen war, auf unbestimmte Zeit in Deutschland bleiben durfte. Trotz Stegmüllers ausserordentlich freundlichem Einsatz (er hat sogar den damaligen Rektor Professor Lobkowicz dazu bewegt, ein Wort für mich einzulegen) wurden die Beamten an der Ettstrasse nicht einsichtiger, und ich musste jederzeit damit rechnen, manu militari zum Flughafen gebracht zu werden. Irgendwie kam mir die Situation bekannt vor. Doch auch diesmal kam die Rettung in letzter Sekunde. Aufgrund ziemlich zufälliger Kontakte erhielt ich das Angebot einer Dauerstelle am „Institut für philosophische Forschung“ der Nationalen Universität Mexikos, eines Landes, das ich überhaupt nicht kannte, das mir aber eine gute Zuflucht anbot. Also habe ich die Koffer gepackt.

Die Arbeitsbedingungen in Mexiko erwiesen sich als optimal. Ich musste nur zwei Stunden wöchentlich unterrichten, und den Rest konnte ich voll der Forschung widmen, zudem mit guten Publikationsmöglichkeiten. Im mexikanischen Institut habe ich natürlich meine Arbeiten innerhalb des strukturalistischen Ansatzes weitergeführt, mich aber auch zunehmend mit allgemein erkenntnistheoretischen, ontologischen und wissenschaftshistorischen Themen befasst. (In München hatte ich schon Wissenschaftsgeschichte als Nebenfach im Institut am Deutschen Museum studiert.) Seitdem sind auch sie Schwerpunkte meiner Forschung geblieben.

Während meiner mexikanischen Zeit bekam ich von der „University of California at Santa Cruz“ für ein Jahr eine Einladung als „Visiting Professor“. Es gab viele gute Dinge dort: eine entzückende Landschaft, optimale Arbeitsbedingungen (besonders in den Bibliotheken) und die Nähe zu Stanford: Jeden Freitag nachmittags fuhr ich zum Seminar von Patrick Suppes, was meine Arbeit beträchtlich förderte. Dennoch, und obwohl ich die Mög­lichkeit gehabt hätte, länger zu bleiben und meine akademische Laufbahn in den Vereinigten Staaten aufzubauen, funktionierte die „Chemie“ zwischen meiner Person und meiner US-amerikanischen Umwelt nicht so ganz richtig, so dass ich beschloss, nach Mexiko zurückzukehren. Allerdings ließ ich mir damit noch etwas Zeit: Die Rückkehr von Kalifornien nach Mexiko-Stadt dauerte – auf dem Umweg über die Stationen der Universität Campinas in Brasilien und des Zentrums für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld – ein Jahr.

Zurück im mexikanischen Institut führte ich meine Forschungstätigkeit in Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsgeschichte, Erkenntnistheorie, Ontologie und verwandten Gebieten in sehr produktiver Weise fort. Alles in allem habe ich die in Mexiko verbrachten acht Jahre in guter Erinnerung, auch in privater Hinsicht. Dort habe ich meine Frau kennengelernt, zahlreiche feste Freundschaften geschlossen und hoch motivierte Schüler gehabt, die später zu angesehenen Professoren wurden. Dennoch verblieb mir immer noch eine gewisse Sehnsucht nach dem alten Europa, sprich Deutschland. Als ich einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie an der Universität Bielefeld erhielt, habe ich ihn nach reiflicher Überlegung angenommen. 1984 siedelten meine Frau und ich aus dem sonnigen Mexiko ins nebelige Bielefeld um. Auch hier empfing mich eine sehr anregende, aufgeschlossene Forschungsatmosphäre. Ich stellte fest, dass der ansonsten nur als Floskel verwendete Terminus „Interdisziplinarität“ an der Universität Bielefeld alltägliche Wirklichkeit war. Insbesondere nahm ich an einigen gemeinsamen Vorhaben mit Kollegen der Wissenschaftssoziologie und der Wissenschaftsgeschichte im „Schwerpunkt Wissenschaftsforschung“ teil.

Aber es kam endlich auch der Augenblick, die ostwestfälische Insel auf meiner Odyssee zu verlassen. 1988 nahm ich einen Ruf an die Freie Universität Berlin an. Nach einigen anfänglichen Schwierigkeiten haben wir uns in Berlin sehr gut eingelebt. Eines Novemberabends des Wunderjahres 1989 standen meine Frau und ich an der Berliner Mauer und sahen das Wunder geschehen. Damals haben wir uns – wie alle anderen, die da waren – unheimlich gefreut. Was ich damals noch nicht wissen konnte, war, dass dieses Wunder auf die Dauer die langsame Agonie der FU Berlin, und insbesondere seines philosophischen Instituts, bedeuten könnte. Als diese Bedrohung immer spürbarer wurde, habe ich den Ruf als Nachfolger Stegmüllers an der LMU erhalten – und angenommen. Der entscheidende Grund für meinen Entschluss pro München war allerdings, dass keine andere der mir bekannten philosophischen Fakultäten in Deutschland, oder sogar in Europa, eine so starke Tradition und ein so starkes Profil auf den Gebieten hat, auf denen ich mich besonders zu Hause fühle – in der Logik, in der Philosophie der Mathematik, in der Wissenschaftstheorie, und überhaupt in der formal arbeitenden Philosophie.

Seit 1993 bin ich Vorsitzender des Seminars (zeitweise Instituts) für Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie in der Philosophischen Fakultät der Universität München. Abgesehen von einem Forschungsjahr 2003/04 als Inhaber des Lehrstuhls „Blaise Pascal“ an der Pariser „Ecole Normale Supérieure“ (wo ich endlich die Zeit hatte, eine Geschichte der Wissenschaftstheorie zu schreiben, die vor kurzem in französischer Sprache erschienen ist), habe ich seit nunmehr 13 Jahren fast ununterbrochen in München gelebt und an der LMU gelehrt und geforscht. An keinem anderen Ort bin ich in meinem bisherigen Leben so lange geblieben. Und somit bin ich also nicht nur Philosoph, sondern auch Münchner Philosoph geworden, was ich als eine besondere Auszeichnung empfinde. Die Tatsache, dass ich inzwischen auch in die Bayerische Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden bin, stellt eine zusätzliche Auszeichung dar, die die erste noch verstärkt, und die mich gegenüber der Bayerischen Wissenschaftswelt besonders verpflichtet.

Und so gelangen wir, liebe LeserInnen, zum Ende meiner Odyssee. Es sieht so aus, als ob München tatsächlich mein Ithaka darstellt. Wo könnte es sonst noch sein? Gewiss, wir leben nicht in rosigen Zeiten. Das gilt aber überall und für alle Bereiche. Die Zeiten sind schlecht für die universitäre Forschung, sie sind besonders schlecht für die geisteswissenschaftliche Forschung, noch schlechter für die philosophische Forschung, und ein Grad noch schlechter für die spezifisch wissenschaftstheoretische Forschung. Und dennoch werden in der Münchner Philosophie und Wissenschaftstheorie nach wie vor Arbeiten der höchsten, international konkurrenzfähigen Qualität geleistet; wir ziehen hochmotivierte Studierenden an, auch viele aus dem Ausland, die sehr oft glänzende Abschlussarbeiten schreiben, und werden Monat für Monat von hochkarätigen Gastprofessoren aus aller Welt besucht. Ich meine, wir stehen gar nicht so schlecht da. Jedoch mindestens eine Sache brauchen wir Münchner Philosophen noch, um nicht entmutigt zu werden: Nach den letzten Jahren der unerbittlichen Stellenkürzungen, Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen, aufgezwungenen Reformpläne, die sogleich wieder obsolet werden, und anderem mehr, brauchen wir endlich gesicherte Verhältnisse und ein wenig Ruhe, um uns unseren eigentlichen Aufgaben in Forschung und Lehre voll widmen zu können. Mögen die „höheren Instanzen“ einsehen, dass gute Philosophie keinen entbehrlichen Luxus darstellt, und Erbarmen mit uns zeigen …

Osrečki – Laien. Eine Soziologie des Nichtwissens

Fran Osrečki

Laien. Eine Soziologie des Nichtwissens

br., 336 Seiten, 24,- €

Berlin 2025 (Suhrkamp-Verlag)

von Alexander von Pechmann

Die Moderne, beginnt Osrečki seine Untersuchung, gründe auf dem Versprechen der Gleichheit aller Menschen und lebe seither in den Kämpfen um diese Gleichheit. In ihr sind das ideelle Element der Inklusion aller ins gesellschaftliche System, zugleich aber auch das permanent reale Element der Ungleichheit und Exklusion miteinander verbunden. Dieses Gegensätzliche, teils Widersprüchliche ist schon oft anhand der „bürgerlichen Gesellschaft“ verhandelt worden: als citoyen gelten die Bürger als Gleiche unter Gleichen und haben gleiche Rechte; als bourgeois hingegen sind sie ungleich und grenzen einander ab: der Bürger vom Proletarier, der Besitzlose vom Besitzlosen etc. Osrečki verhandelt dieses Gegensätzliche in der Moderne jedoch nicht anhand der sozialen Gruppen oder Klassen, sondern anhand der Kategorien des Laien und des Experten, des Nichtwissenden und Unkundigen bzw. des Wissenden und Kundigen.

Entscheidend bei dieser Unterteilung sei, dass – im Unterschied zu sozialen Gruppen – in der modernen, auf Arbeitsteilung beruhenden Gesellschaft jede/r sowohl als Laie als auch als Experte gilt. So erweist sich etwa der qualifizierte Jurist als unkundiger Laie auf dem Gebiet der Sanitärinstallation oder der kenntnisreiche Postzusteller bei der Autoreparatur als kenntnisarmer Laie. In modernen Gesellschaften, so Osrečki, sind Menschen „sehr oft Laien und sehr selten Spezialisten“ (16). Laien bilden also keine bestimmte und abgrenzbare Gruppe, sondern entziehen sich gerade dieser Begrenz- und Bestimmbarkeit. Sie seien daher „überall und nirgends“ (16).

Spannend wird dieses Verhältnis von Laien und Experten dann, wenn die Laien – nach dem modernen Grundsatz der Gleichheit – meinen, in Expertensachen mitreden zu dürfen und zu können, oder umgekehrt – nach demselben Grundsatz – Experten meinen, dem unkundigen Laien ihr Expertenwissen mitteilen zu müssen und zu können. Denn dann verwischen sich die Grenzen; und die Grenzüberschreitungen liefen in der Konsequenz auf die Aufhebung eines Verhältnisses hinaus, das doch ein Element moderner arbeitsteiliger und funktional ausdifferenzierter Gesellschaften ist. Man sieht, dass ‚der Laie’ offenbar ein spannender soziologischer Gegenstand ist, um die Dynamik der modernen „bürgerlichen Gesellschaft“ verstehen und begrifflich fassen zu können.

Wo also findet man den Laien? Osrečki sagt mit Niklas Luhmann: in sozialen Systemen. Im politischen System fungiert der Laie als Wähler, der – zumindest im Parlamentarismus – dem Abgeordneten ausdrücklich seine Stimme überträgt; im ökonomischen fungiert er als Konsument, der die Produkte der Experten erwirbt und ohne Detailwissen gebraucht; im pädagogischen System ist er Schüler, der vom Lehrer Wissen erwirbt, im Gesundheitswesen nimmt er die Rolle des unkundigen Patienten ein, der sich dem kundigen Arzt anvertraut; im Kultur- und Sportbetrieb fungiert er als Zuschauer oder -hörer, der die Handlungen professioneller Akteure verfolgt. Allein im familiären System sowie unter Freunden, so Osrečki, funktioniert diese Begrifflichkeit nicht; denn weder die Liebe noch die Freundschaft lassen sich nach dem „Laie-Experte“-Schema verstehen.

Im Weiteren unterscheidet Osrečki zwischen dem „schwachen“ und dem „starken“ Laien. Laien sind oder gelten als schwach, wenn sie sich nicht artikulieren und als „wenig durchsetzungsstark“ (54) erscheinen. Als „schwach“ seien die Laien von den Sozialwissenschaften daher lange Zeit als marginal, unspezifisch und uninteressant beurteilt worden, oder sie wurden, vor allem in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, ihrer Artikulationslosigkeit wegen als dumpfe, unter Umständen auch als zivilisationsbedrohende Masse etikettiert.

In der Mitte des letzten Jahrhunderts seien dann von Talcott Parsons die Grundlagen für das gelegt worden, was Osrečki die „starken Laien“ nennt. Parsons ging davon aus, dass es ohne Laien gar keine Experten geben könne, und dass zwischen ihnen eine spezifische Art der Kooperation bestehe, die er allerdings nicht näher analysiert hatte. An diesen Gedanken der Kooperation knüpften im Weiteren dann die Soziologen Thomas H. Marshall, Theodor Geiger und Norbert Elias an. Sie nahmen an, dass es zwar weiterhin Machtunterschiede zwischen Laien und Experten gebe, dass sich jedoch – im Zuge der „Demokratisierung“ – diese Ungleichheiten zunehmend einebnen würden. Schließlich habe Luhmann mit seiner Systemtheorie die Vorlage gegeben, um die spezifische und auch notwendige Rolle der Laien oder des „Publikums“ innerhalb sozialer Systeme studieren zu können. Darauf aufbauend habe dann Rudolf Stichweh den starken oder aktiven Laien ins Zentrum gerückt und auf die wichtige Rolle hingewiesen, die Laien in modernen Gesellschaften für die sozialen Inklusionsprozesse spielen.

Verstehe ich Osrečkis Überblick über die „schwachen“ und „starken“ Laien recht, so ist er offenbar der Auffassung, dass die Sozialwissenschaften lange Zeit, von Karl Marx über Émile Durkheim bis Max Weber, mit dem abstrakten und vagen Begriff des „Laien“ nichts anzufangen wussten. Gegenstände waren für sie bestimmbare soziale Gruppen wie die Arbeiter, die Frauen, der Mittelstand etc. Fassbar und sichtbar sind Laien erst mit den „sozialen Bewegungen“ seit Ende der 60er Jahre geworden, als die Experten als „Technokraten“ auf den verschiedensten gesellschaftlichen Feldern durch Laien mit ganz unterschiedlichen Motiven herausgefordert wurden. Seither konzentrierte sich die Sozialwissenschaft nicht nur auf die Untersuchung dieser „starken Laien“, sondern sympathisierte und unterstützte oft auch deren „bürgerschaftliches Engagement“ (171) gegen das Expertenwissen, von dem sie sich eine Demokratisierung und einen Abbau von Herrschaft erwartete. Bei dieser idealisierenden Konzentration auf die engagierten und meinungsstarken Laien ließ sie jedoch, so Osrečkis Kritik, die ‚schweigende Mehrheit’ der indifferenten Laien weitgehend außer Acht.

Den entscheidenden und neuen Gesichtspunkt seiner Untersuchung sehe ich nun darin, dass er nicht mehr jenen „starken Laien“, den engagierten Bürger:innen, eine gestaltende und verändernde Handlungsmacht zuspricht und zutraut, die sich weitgehend verflüchtigt habe, sondern dass er umgekehrt gerade der „Unwissenheit“, die den Laien gegenüber dem Experten auszeichnet, eine eigentümliche Macht im Rahmen der Reproduktion der gegenwärtigen sozialen Systeme zuweist. Um diese neue „Macht der Unwissenheit“ zu erläutern, geht er davon aus, dass vormals das soziale System „versäult“ gewesen sei. Es gab unterschiedliche „Milieus“ oder „Säulen“, welche die Beziehungen zwischen Laien und Experten überwölbten und prägten. So gab man etwa als Arbeiter mehr oder weniger selbstverständlich Experten die Stimme, die die Anliegen der Arbeiter politisch vertraten; man kaufte in den Konsumgenossenschaften ein oder nahm an Arbeiterbildungsvereinen und deren Kulturangeboten teil. Ähnliches galt für die „Säulen“ des Katholizismus, des liberalen bzw. rot-grünen Bürgertums.

Doch diese „Versäulung“ der Gesellschaft sieht Osrečki schwinden; und damit ändern sich auch die Beziehungen zwischen Laien und Experten. Denn mit dem Schwinden der Milieus werde das Verhalten der Laien „überdeterminiert“, es wird diffuser, zufälliger und unberechenbarer. Diese Unbestimmtheit des Laienverhaltens bedeute für die Profis jedoch ihrerseits eine zunehmende Unwissenheit vom Laien. So wissen die Parteien nicht nur immer weniger über ihre ‚Wechselwähler’, sie müssen ihnen in ihrer Programmatik auch hinterherlaufen; gleichfalls können Wirtschaft und Handel das Konsumverhalten ihrer Käufer immer weniger vorhersehen, so dass ihre Investitionen riskanter werden; Lehrer sehen sich durch das unberechenbare Verhalten ihrer Schüler zunehmend überfordert, usw. Diese „Macht der Unwissenheit“ erkennt Osrečki auf Seiten der Laien darin, dass ihre jeweilige soziale Rolle für sie selbst ungewisser und unvorhersehbarer wird – er spricht vom „Nichtwissen um die genaue Präferenzordnung“ (242) –, und dass sie gerade durch dieses Nichtwissen ihre Macht auf die ratloser werdenden Experten ausüben.

Nun ist diese Auflösung der ‚alten Ordnung’ oder der ‚Entsäulung’ seit Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ und dann erneut durch Andreas Reckwitz’ „Gesellschaft der Singularitäten“ von den Sozialwissenschaften oft beschrieben worden. Verstehe ich Osrečki richtig, dann bedeutet für ihn diese Auflösung jedoch zugleich einen Zuwachs an Freiheit. Auf der Seite der Experten finde eine Autonomisierung der Systeme statt, die programmatisch nicht mehr an die diffuser gewordenen Bedürfnisse und Interessen ihrer ‚Kunden’ gebunden sind und daher in ihrer Programmgestaltung unabhängiger, aber auch unbestimmter geworden sind. Auf der Seite der Laien hingegen ist mit der Entsäulung der Gesellschaft die Freiheit zur eigenen Meinung im Rahmen der Öffentlichkeit, zur Wahl verschiedener Parteien oder zur Entscheidung der Konsumenten beim Einkauf gewachsen, die doch alle tief im Versprechen moderner Gesellschaften verankert seien.

Offen bei Osrečkis „Lob der Inkonsequenz … und des Nichtwissens“ (293) in seiner Beschreibung einer solch ‚offenen Gesellschaft’ scheint mir allerdings zu sein, ob sich dieses „Nichtwissen“, das er konstatiert, sowohl auf Seiten der Laien als auch der Experten tatsächlich optimistisch als ein Zugewinn an Freiheit interpretieren lässt, oder ob es sich, eher pessimistisch, nicht doch in einer zunehmenden Unberechenbarkeit und Irrationalität des gesellschaftlichen Gesamtsystems ausdrückt, die – wovor andere Soziologen warnen und die Zeichen sich mehren – durchaus in ein äußerst dumpfes, diffuses wie homogenes, Wollen umschlagen kann. Das wäre jedoch der Gegensatz zu einer ausdifferenzierten und rationalen modernen Gesellschaft.