Elisabeth Gössmann – Hindernislauf

Elisabeth Gössmann (1928-2019) war Theologin und eine der ersten Vertreterinnen der feministischen Theologie in der katholischen Kirche. 1963 scheiterte ihre Habilitation am Einspruch der Deutschen Bischofskonferenz. 1978 gelang ihr zweiter Versuch im Fach Philosophie bei Eugen Biser. Erst 1990 erhielt sie eine außerplanmäßige Professur in München. Seit 1968 lehrte sie in Tokyo, dann in München und erhielt die Ehrendoktorwürde von fünf Universitäten.

Statt des Titels „Hindernislauf“ hätte ich auch einen anderen wählen können, nämlich: „Geburtsfehler weiblich“. Das war der Kommentar meines Doktorvaters, jedesmal wenn eine der 37 (in Worten: sieben und dreißig) Ablehnungen meiner Bewerbungen auf eine Professur in Deutschland, ob für Philosophie oder Theologie, ob an einer Pädagogischen Hochschule oder Universität, eingetroffen war. Doch dieser Titel ist schon vergeben.

Aber alles der Reihe nach! Als Kind einer lutherisch-katholischen, also konfessionell gemischten Ehe, wurde ich bald auf religiöse Unterschiede im Verhalten der Eltern aufmerksam, wie z. B. die Zuständigkeit verschiedener Kirchen für sie oder das beim Vater fehlende Kreuzzeichen vor und nach dem Tischgebet. Getreu dem katholisch-kirchenrechtlich geforderten Versprechen meines Vaters wurde ich in der Konfession meiner Mutter getauft und erzogen. Bei gelegentlichen Besuchen in Kirchen des lutherischen oder gar reformierten Bekenntnisses festigte sich mein kindliches Urteil, daß es mir in „unserer“ Kirche viel besser gefiel. Eine von mir in „unsere“ Kirche mitgenommene reformierte Freundin neigte ebenfalls meiner Meinung zu, kommentierte aber zu meinem Erstaunen gegenüber ihren Eltern den Gastbesuch bei der anderen Konfession folgendermaßen: „Es war so schön wie im Zirkus.“

Am meisten liebte ich die Fronleichnamsprozession, die sich über die beiden Plätze am Osnabrücker Dom bewegte. Von Blasinstrumenten begleitet, erscholl das Lied: „Kommt her, ihr Kreaturen all, die ihr vor Liebe brennt“. Zwar hatte ich an unserm Küchenherd mit dem Brennen andere als Liebeserfahrungen gemacht, aber das Unverstandene hatte seinen Reiz. Ebenso ging es mir bei den Cherubim und Seraphim, die in diesem Lied vorkamen. Ich hütete mich zu fragen, wer das denn sei. Als ich später im Studium Rudolf Ottos „tremendum et fascinosum“ kennenlernte, waren gleich die Cherubim und Seraphim meiner Kindheit wieder präsent, also wohl bei richtiger Gelegenheit. Als ich dagegen die Engellehre des Dionysius Pseudo-Areopagita studierte, blieb ich ganz kalt; offensichtlich war das eine Ernüchterung.

Mit meinen beiden Spielkameraden Friedel und Günter – sie wohnten in unserm Vorderhaus und waren von lutherischer Konfession – gab es viele religiöse Diskussionen. Daß wir nicht etwa „die Maria anbeten“, wie sie mir vorwarfen, davon konnte ich sie im 2. Schuljahr mit Hilfe des kleinen Schulkatechismus überzeugen. Es gab aber auch „ökumenische“ Übereinkunft: „Wie groß ist der liebe Gott?“ – „Größer als unser Vatter“, darin waren sich beide Jungen, ein paar Jahre älter als ich, einig. „Unser Mutter“ war von solchen Vergleichen ausgeklammert, obwohl gerade diese mir wegen ihrer (von mir noch unverstandenen) Schwangerschaft viel Anlaß zum Grübeln gab. In Gedanken stellten Friedel und Günter viele Schränke und Tische übereinander, um Gottes Größe zu ermessen, und ich bemühte mich, den großen Birnbaum auf unserm Hof oder den alten Kastanienbaum auf dem Hegertor gelegentlich dazwischen zu schieben, da mir Bäume „göttlicher“ erschienen als das tote Holz. Aber wir spürten alle drei, was wir nicht ausdrücken konnten, dass wir aus der Immanenz nicht herauskamen. Das ließ uns viele Male unwillig abbrechen, aber wir versuchten es immer wieder. – Als Friedel dann im II. Weltkrieg als HJ-Meldefahrer bei einem Bombenangriff ums Leben kam, war mir der Gedanke, dass er jetzt „alles weiß“, ein kleiner Trost.

Um diese Zeit quälte mich das erste Wahrnehmen von Subjektivität oder ähnlichem. Ich fragte mich, ob ich wohl in meine Mutter reinkriechen, aus ihren Augen schauen und mit ihrem Kopf denken, aber dann wieder in meine beschränkte Größe und Denkkraft zurückkehren könne. Als ich mich wohl von der Unmöglichkeit dieses Identitätswechsels und der Unwiderruflichkeit von Individualität überzeugt hatte, sagte ich zu ihr: „Ich gucke aus meinem Kopf, und Du guckst aus Deinem Kopf.“ Sie darauf, nicht für meine Ohren bestimmt, am Abend zum Vater: „Das Kind ist manchmal etwas überspannt.“

Ein Jahr vor Kriegsbeginn, im Frühjahr 1938, zogen wir nach Dortmund, weil meinem Vater wegen seiner „katholischen Familie“ – auch mein jüngerer Bruder wurde katholisch getauft und erzogen – eine lange verweigerte Beförderung als Zollbeamter endlich doch noch gewährt worden war. Er war im Herbst 1937, nachdem er schon viel früher ohne sein Zutun vom „Stahlhelm“ in die „SA“ überführt worden war, in die Partei eingetreten, aus Karrieregründen. 1943 wurde er noch zur Wehrmacht eingezogen.

Anfang 1943, als der Bombenkrieg gegen das Industriegebiet sich verschärfte, kamen wir in der 4. Klasse der damaligen „Oberschule für Mädchen“, mit unserer Parallelklasse und den Klassen darunter, nach Oberammergau in die Kinderlandverschickung. Unsere Klasse wohnte in der Pension einer überzeugt christlichen Familie, und wir wurden von unseren mitverschickten Lehrerinnen (mit einer Ausnahme) nicht etwa nationalsozialistisch indoktriniert, eigentlich auch nicht von den BDM-Führerinnen, die, nur wenige Jahre älter als wir, am Nachmittag für uns verantwortlich waren. Aber „von oben“ wurde uns der vorher versprochene sonntägliche Kirchenbesuch vereitelt, indem befohlen wurde, dass wir an einer zentralen HJ-Morgenfeier teilzunehmen hätten. Wir gingen zum Pfarrer von Oberammergau, und der legte noch eine Messe ein zu einer uns möglichen Zeit, die dann im Ort „KLV-Messe“ hieß.

Nach Aufenthalten an verschiedenen ländlichen Evakuierungsorten und Tieffliegerbeschuss auf dem weiten Schulweg per Rad und per Bahn im Jahr 1944 kam es am Kriegsende, nachdem unsere Dortmunder Wohnung längst ausgebombt war, in Rhede an der Ems noch zu direkten Fronterfahrungen. Als die Front näherrückte, mussten wir 15-16-jährigen Mädchen die Schützengräben auswerfen und für die Soldaten kochen. Dann wurde die Brücke gesprengt, und die Bewohner wurden in die moorige Gegend von Rhederfeld evakuiert. Die schwere Artillerie beider Seiten schoss über uns hinweg. Der Ort Rhede wurde bei seiner Einnahme durch die Alliierten fast völlig zerstört, auch unsere letzte Habe in der provisorischen Unterkunft.

Die Bauern errichteten Nissenhütten auf der Deele ihrer abgebrannten Höfe. Wir Mädchen mussten die Gräben wieder zuschütten und waren voller Sorge, ob wir wohl demnächst irgendwohin verschleppt würden. Ich praktizierte mein erstes Englisch, um zwischen den Bauern und der Besatzung zu vermitteln.

Im Herbst 1945 kam unser Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurück, völlig abgemagert. Wenige Wochen später traf der Bescheid ein, er sei wegen der Mitgliedschaft bei nationalsozialistischen Organisationen aus dem Beamtendienst entlassen. Unser Konto wurde gesperrt, 300 Mark pro Monat durften abgehoben werden. Es war berechenbar, wie lange das reicht. Mein Vater eröffnete mir, wenn ich bis Frühjahr 1947 das Abitur schaffen würde, könne er mir noch helfen, sonst nicht. Ich hatte Unterricht in den drei Fremdsprachen bei einer Studentin aus dem Dorf, in der Nissenhütte auf der Deele ihres abgebrannten elterlichen Hofes, und nachdem wir ein Lehrbuch aufgetrieben hatten, gelang es meinem Vater auch, meine mathematischen Lücken zu füllen, obwohl er zur landwirtschaftlichen Arbeit „dienstverpflichtet“ war. Ich ging im Frühjahr 1946 frech in die oberste Klasse der Mädchen-Oberschule in Leer/Ostfriesland, wo ich auch vor dem Kriegsende schon war, und kam in der neuen Klasse ganz gut mit. Nur ein Lehrer merkte etwas und wollte mich zurückstufen. Meine Mutter tauschte eine goldene Brosche, ein Andenken von ihrer Mutter, gegen Speck und fuhr am nächsten Morgen nach Leer, um den Lehrer „herumzukriegen“, aber der war inzwischen vom gleichen Schicksal ereilt wie mein Vater. Die Hürde Abitur wurde planmäßig im Frühjahr 1947, nach einem kalten Winter ohne Kohlen, genommen.

Mein Vater war bis dahin sogar schon „entnazifiziert“ und wieder im Beruf, und ich durfte studieren. Nach dem, was ich erlebt hatte – die Ängste im Luftschutzkeller vor dem Verschüttetwerden, der Anblick der gefallenen Soldaten in Rhede, die Zerstörung der alten Straßen mit den schönen Ackerbürgerhäusern in Osnabrück, die ich als Kind so geliebt hatte –, was sollte ich anderes studieren als Theologie und Philosophie? Ich fühlte mich veranlasst, nur noch „sub specie aeternitatis“ zu leben und mich an nichts Vergängliches mehr zu hängen. Also beschloss ich das Studium dieser beiden Fächer, und als gesichertes „Schulfach“ (Konzession an den Vater) noch Germanistik dazu. Ich besuchte alle Vorlesungen und Seminare mit metaphysischen Themen – in der Nachkriegszeit waren es gar nicht wenige – und legte in der Theologie den Schwerpunkt auf die Dogmatik. Im Mai 1952 bestand ich in Münster das Staatsexamen und ging nach München, wo ich zuvor schon ein Semester studiert hatte.

Es war mir nämlich die neue theologische Promotionsordnung der LMU unter die Augen gekommen, in der gegenüber der alten ein Satz fehlte: Es stand nicht mehr darin, der Kandidat müsse bereits die Diakonatsweihe empfangen haben. Mit einer Freundin war ich schon in den Pfingstferien 1951 nach München getrampt, um an meinen späteren Doktorvater, Prof. Michael Schmaus, die Frage zu richten: „Bedeutet das, dass wir auch?“ – „Ja, aber nur, wenn Ihr nicht mit einer durchschnittlichen Arbeit kommt, sonst gibt es sicher Schwierigkeiten.“ Er ließ mich gar nicht ausreden, denn er kannte mich noch aus seinem Seminar im Jahr zuvor, als ich mich schon einmal nach einer solchen Möglichkeit erkundigt und er daraufhin nur gelächelt hatte. Im November 1954 wurden wir zu zweit als Frauen in Theologie promoviert, 10 Jahre früher, als dies an anderen westdeutschen Universitäten möglich war.

Das Promotionsstudium war für mich eine Bekehrung zur Geschichtlichkeit; nicht dass ich das metaphysische Denken, das mir ja im Mittelalter noch reichlich begegnen sollte, beiseite warf, aber ich lernte, besonders durch unsere Lektüren im „Grabmann-Institut zur Erforschung der Philosophie und Theologie des Mittelalters“, die der Frühscholastik, der Mystiktheorie (Richard von St. Viktor) und der Franziskanertheologie gewidmet waren, in Spannung dazu auch das heilsgeschichtliche Denken kennen sowie die allmähliche Entwicklung, die zu christlichen Dogmen geführt hatte, über deren Vorformen zu reflektieren, ich bis heute als sehr sinnvoll empfinde. Mit seinem großen theologiegeschichtlichen Wissen brachte Schmaus uns bei, Begriffe in ihrer Gewordenheit und Wandelbarkeit zu rezipieren, auch in ihrem verschiedenen Gebrauch bei unterschiedlichen Schulen. Er sprach von der Notwendigkeit des Übersetzens von einem veralteten Weltbild in ein neues. Ich entdeckte aber auch bei der Vorbereitung meiner Doktorarbeit, wie viele mittelalterliche Schriftstellerinnen, die entweder als Mystikerinnen oder als Dichterinnen klassifiziert wurden, sich theologisch kompetent geäußert hatten, und bezog sie in meine Dissertation ein.

Genau ein Jahr nach meiner Promotion saßen wir, nun als junge Familie, im Flugzeug nach Tokyo, wo zur ersten noch eine zweite Tochter hinzukam. Helfende Hände, so dass ich beruflich tätig sein konnte, gab es damals noch genug. Beide arbeiteten wir an der Sophia-Universität in der Deutschen Abteilung, und ich zusätzlich an einer Frauenuniversität, wo ich, neben dem obligaten Sprachunterricht, in englischer Sprache Vorlesungen über „Mediaeval Philosophy“ und „Modern Christian Philosophy“ halten konnte. Hier lag mein Schwerpunkt. Dass ich dafür nur mit meinem deutschen Schulenglisch ausgerüstet war, möchte ich nicht als Hürde bezeichnen. Zwar brauchte ich viel Vorbereitungszeit, um englischsprachige Sekundärliteratur zu lesen, die mir das notwendige Vokabular verschaffte, aber es ging mir einigermaßen leicht von der Zunge. Viele Studentinnen im damaligen International College verstanden mich sogar besser als ihre amerikanischen Dozentinnen, kein Wunder, da ich als non-native speaker sehr langsam sprach.

In dieser Zeit begann ich, mich mit dem Buddhismus zu befassen und die figürliche Kunst dieser Religion in den japanischen Tempeln wertzuschätzen. Ich fand auch noch Zeit, meine Habilitationsschrift über eine franziskanische Summa Theologica weiterzubringen, mit der ich in dem Jahr nach der Promotion in München schon angefangen hatte. Im Sommer 1960 kehrten wir nach München zurück; denn ich brauchte zur Vollendung der Arbeit die hiesigen Bibliotheken. In dieser Zeit war ich wissenschaftliche Mitarbeiterin am Grabmann-Institut und nahm auch weiterhin an den Seminarübungen teil. Mein Wissen über die Vielfältigkeit und das divergierende Denken in den verschiedenen Schulen vertiefte sich und bewahrte mich zeitlebens davor, „die Scholastik“ – etwa in ihrem Frauenbild – über einen Kamm zu scheren.

Im Herbst 1962 gab ich bei Professor Schmaus meine Habilitationsschrift ab, und das Verfahren wurde eröffnet. Aber bald schon erhob sich Einspruch von bischöflicher Seite und wohl auch innerhalb der Fakultät; und das, obwohl Schmaus in Rom, im Aufwind der ersten Sitzungsperiode des II. Vatikanums, versucht hatte, allerwärts „gut’ Wetter“ für die „Laienhabilitation“ (Habilitation von Nichtpriestern) zu machen. Ich wurde zu Kardinal Döpfner gerufen, der mir erklärte, dass der Abbruch meines Habilitationsverfahrens keineswegs an meiner Leistung liege, sondern daran, dass „wir Bischöfe ja noch nicht wissen, was wir mit habilitierten Laien in der Theologie anfangen sollen“. Er dachte dabei an die damals noch ganz in den Händen von Geistlichen als Theologieprofessoren liegende Priesterausbildung. Nun, für männliche Laientheologen löste sich dieses Problem viel früher als für weibliche. Die theologische Habilitationshürde konnte ich nicht nehmen.

Ich ging mit den Kindern zurück nach Tokyo und übernahm 1967 an meiner Frauenuniversität die Leitung der Sektion „Humanities in English“. 1968 wurde ich zur Kyôju (full professor) befördert. Nach US-amerikanischem Vorbild waren die „Humanities“ eine kleine Abteilung, in der ein Überblick der Geisteswissenschaften, mit einem „Spritzer“ von Sozialwissenschaften, angeboten wurde. Dazu gehörte auch ein zweijähriger Kurs „Great Books of World Literature“, den zu organisieren mir viel Spaß machte. Die deutsche Philosophie- und Literaturgeschichte überblickshaft zu vermitteln, übernahm ich selbst, eine Kollegin aus der Abteilung für Englische Literatur das entsprechende Englische, ein Jesuit der Sophia-Universität, der Romanist war, gab eine Einführung in die spanische, italienische und französische Literatur, und eine russische Literaturwissenschaftlerin, die mir die damalige Sowjet-Botschaft vermittelt hatte, deckte ihren Bereich ab. Ich selbst lernte viel bei diesen Vorlesungen und dachte mehr als einmal, daß uns ein solcher Überblick in Form eines Studium generale in Deutschland doch eigentlich auch sehr nützlich wäre.

Das waren sieben relativ glücklich verlaufende und Berufsfreude erweckende Jahre, die auch durch die bunt gemischte Studentinnenschaft viel Anregung gaben. Neben den Japanerinnen studierten damals dort auch Koreanerinnen, Hongkong-Chinesinnen, Philippinerinnen, Thailänderinnen, einige wenige Amerikanerinnen aus Nord und Süd. Eine Wochenstunde gab ich aber damals schon auf Japanisch, weil ich eine solche Zukunft auf mich zukommen sah.

1974 war es dann so weit. Die Zahl der ausländischen Studentinnen nahm ab, und die Sektion „Humanities in English“ wurde aufgelöst. Ich hatte nur die Frühjahrsferien, um mich auf eine Lehrtätigkeit nur noch in japanischer Sprache umzustellen; ohne systematisches Sprachstudium eine ganz gewaltige Hürde. Nächtelang saß ich an der Vorbereitung, wobei ich die Hilfe einer bei uns wohnenden Studentin in Anspruch nehmen musste. Es war eine harte Zeit.

Aber hätte ich es nicht geschafft, wäre meine Professur nicht zu halten gewesen. Ich wurde in die Abteilung für „Westliche Philosophie“ übernommen, wo es auch eine Sektion für Christliche Studien gab, die ich später leitete. Hier konnte ich sogar Griechisch und Theologie des Neuen Testamentes lehren, daneben fiel mir aber auch die Philosophie der europäischen Antike zu. Glücklicherweise hatten wir einen japanischen Spezialisten für Kant, so dass es mir erspart blieb, mir das dafür notwendige (und z. T. im 19. Jahrhundert für die Rezeption des Deutschen Idealismus erst geschaffene) japanische Begriffswerkzeug anzueignen. Die Zusammenarbeit unter den Philosophiedozierenden gestaltete sich sehr hilfreich. Ich konnte und kann ihnen bei ihren zahlreichen Übersetzungsprojekten helfen und sie mir bei meinen Schwierigkeiten mit dem Japanischen.

1977 war freundlicherweise Prof. Eugen Biser bereit, meine bis dahin veröffentlichten mediävistischen Monographien (darunter auch die einstige „verhinderte“ Habilitationsschrift) zu begutachten, um mir eine kumulative Habilitation zu ermöglichen. Das Colloquium, das mir in der Theologischen Fakultät erspart geblieben wäre, musste ich aber ablegen und zu diesem Zweck drei Themen einreichen, bevor ich nach den Frühjahrsferien wieder nach Tokyo flog. In Moskau – die Aeroflot war die einzige für mich erschwingliche Luftlinie – musste man damals noch auf einen Fragebogen die Titel aller Bücher und Zeitschriften eintragen, die man mit sich führte. Ich hatte aber nichts als Bücher und Kopien zur Vorbereitung meiner drei Themen im Gepäck und hätte viele Fragebogen gebraucht, ganz abgesehen davon, dass die Zeit nicht reichte. Ich wagte es, ein leeres Blatt abzugeben. Ich hatte Glück, bei mir gab es keine Stichprobe. Auf dem Rückweg ging es ebenso, allerdings mit viel Herzklopfen, aus Furcht, dass mir etwas Notwendiges abgenommen werden könnte. 1978 hatte ich auf dem Weg nach Tokyo wieder das Material für drei Themen dabei, diesmal für die Habil-Vorlesung; aber ich erfuhr noch vor dem Abflug nach München, welches dieser Themen genommen wurde, und konnte mein Gepäck reduzieren. Die Habilitationshürde war also endlich genommen, wenngleich nicht im ursprünglich angestrebten Fach, aber doch zur großen Freude, auch von Professor Schmaus.

Zwar hat mir die Habilitation keinen Erfolg bei meinen Bewerbungen beschert, aber gelohnt hat sie sich doch noch. Zunächst einmal war ich recht enttäuscht und verzweifelt, wenn der japanische Postbote mir immer wieder die aus Deutschland zurückgesandten Bewerbungspapiere brachte. Denn das hebt nicht gerade das Selbstbewusstsein. Da aber in Japan schon viel früher als in Deutschland aus den USA die „Women Studies“ bekannt und an japanischen Universitäten eingeführt wurden, hatte ich Gelegenheit, meine bereits zu meiner Promotionszeit begonnenen Studien der Frauentexte aus Mittelalter und Früher Neuzeit wieder aufzugreifen und für die Vorlesung zu verwenden. In meiner Situation des beständigen Abgelehntwerdens gaben mir die alten Texte sogar Trost und Mut. Die in der Mitte des 17. Jahrhunderts für wissenschaftliche Bildung von Frauen streitende Anna Maria van Schurman etwa stellte traurig fest, dass alles weibliche Wirken, kaum hervorgebracht, schon wieder im Dunkel des Vergessens verschwinde und „von den Spuren unseres Namens nicht mehr erscheint als von den Spuren eines Schiffes im Meer“. Aber ich lernte auch, dass diese „Vorschwestern“ ihre Resignation überwinden konnten und im Rahmen des ihnen Möglichen weitermachten. Sie unterwanderten gängige Lehren und korrigierten, schon im Mittelalter und erst recht in der Renaissance, als sie männlichen Beistand erhielten, was ihnen an den androzentrischen Konzepten missfiel. Ab 1984 erschienen in München die Bände meiner Reihe „Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung“.

1986 wurden mir zum ersten Mal, nach vier Jahrzehnten akademischen Lehrens in fremden Sprachen, an den Universitäten Münster und München Lehraufträge angeboten, die ich wegen der verschiedenen Semesterzeiten japanischer und deutscher Universitäten auch annehmen konnte. In der Muttersprache zu unterrichten, so lernte ich schnell, kostet nur die Hälfte der Vorbereitungszeit. Gastprofessuren in Österreich und in der Schweiz kamen hinzu. Dass die Lehraufträge in München in Gang kamen und zur Dauereinrichtung wurden, verdanke ich der Fachschaftsvertretung Philosophie der LMU und nicht weniger Professor Beierwaltes. 1990 wurde eine außerplanmäßige Professur daraus, was ohne die späte Habilitation nicht möglich gewesen wäre. Das bedeutete allerdings, daß ich die volle Professur in Tokyo vorzeitig aufgeben musste. Aber man ernannte mich dort zur Ehrenprofessorin, so dass mir einige Funktionen geblieben sind, ebenso wie meine Vortrags- und Veröffentlichungstätigkeit in Japan. Mein jetziges Leben mit viermaligem Kontinentwechsel pro Jahr gefällt mir sehr gut. Nach soviel Pflichtveranstaltungen in meinem Leben nehme ich mir jetzt die Freiheit, nur das anzubieten, was mich im Hinblick auf meine eigene Forschung weiterbringt.

Daß wir in unseren Seminaren vorwiegend Frauen sind, liegt nicht an mir. Ich freue mich über jeden Studenten, der sich für die Denkgeschichte von Frauen und ihre Auseinandersetzung mit den philosophischen Themen ihrer Zeit oder auch der Vergangenheit interessiert. Nur bei den Seminaren über Hannah Arendt und Rosa Luxemburg gab es bisher eine größere männliche Beteiligung von etwa einem Drittel. In den ersten Jahren meiner Tätigkeit in München verhielten sich die wenigen Studenten in unseren Seminaren ähnlich wie wir Studentinnen um 1950 in philosophischen oder theologischen Seminaren, nämlich nahezu schweigend. Das hat sich inzwischen geändert, auch wenn es nur einer ist, der bis zum Semesterende durchhält.

Weibliche Stimmen aus dem Seminar äußern sich dahingehend, daß es für sie wichtig ist zu wissen, dass – quer durch Geschichte und Geographie – Frauen sich durch die veröffentlichte männliche Meinung über ihr Geschlecht diskriminiert fühlten, aber nicht geschwiegen haben. Den in der Überzahl befindlichen Seminarteilnehmerinnen fällt es leichter, ihre Gedanken auszutauschen und die Übereinstimmungen im Denken und Fühlen festzustellen, wenn sie sich nicht gegen eine „männliche Übermacht“ durchzusetzen gezwungen sind. Dennoch wäre mir ein gesundes Gleichgewicht am liebsten; besteht doch gerade auf männlicher Seite noch ein großer Aufholbedarf.

Schlemm – Fortschritt als Fehlschritt?

Annette Schlemm

Fortschritt als Fehlschritt?

Pb., 203 Seiten, 15.- €

Stuttgart 2025 (Schmetterling-Verlag)

von Konrad Lotter

Wer gegenwärtig von „Fortschritt“ redet, assoziiert damit oftmals eine Bewegung hin zum Schlechteren: die beängstigende Auflösung demokratischer Prinzipien zugunsten autokratischer Willkür, die zunehmende Unverbindlichkeit des (Völker)-Rechts, die wachsende Überschuldung der Staaten bei massiver Aufrüstung und Militarisierung des Lebens, die ungebremste Veränderung des Klimas etc. „Fortschritt“ wird als als Gefahr empfunden, als Niedergang und Auflösung, der man sich mit aller Kraft entgegenstellen sollte.

Ganz anders der Blickwinkel von Annette Schlemm, Physikerin und Philosophin, die noch in der DDR aufgewachsen ist und, ihrer real-sozialistischen Erziehung entsprechend, „Fortschritt“ mit Hoffnung und der Vision einer besseren Welt verbunden hat. Von dieser Erziehung hat sie sich allerdings längst emanzipiert und, wie sie schreibt, ihr „früheres Weltbild dekonstruiert“. Was bei aller Dekonstruktion dieses (staatlich vereinnahmten) Konzepts allerdings überlebt hat, ist die Faszination, die von den verschiedenen Idealvorstellungen ausgeht, auf die sich der Fortschritt zubewegen soll: die Vorstellungen einer Welt ohne Knechtschaft und Elend, ohne Krieg, Unrecht und Entfremdung. Zugleich mit diesen Hoffnungen behält Annette Schlemm aber auch die Schranken dieser Idealvorstellungen im Auge. Auf der einen Seite analysiert und vergleicht sie die Strukturelemente, die den verschiedenen Fortschrittsbegriffen zugrundeliegen, auf der anderen Seite referiert sie die Diskussionen und Kritiken, die sich an diese Begriffe angeschlossen haben. Aufgrund ihrer großen Belesenheit (die neben philosophischen Texten auch literarische Texte umfasst) und der damit verbundenen weiten Perspektive gelangt Annette Schlemm dabei zu sehr differenzierten Aussagen. Am Ende ihres Buches versucht sie sich an einer „rettenden Kritik“, die den Begriff des Fortschritts bei aller „Kontaminierung“ doch aufheben und als Orientierung für soziale und politische Ereignisse beibehalten möchte.

Grundvoraussetzung dafür, dass überhaupt von Fortschritt gesprochen werden kann, ist ein entsprechendes „Zeitregime“, das von ökonomischen und kulturellen Bedingungen abhängt. Solange Zeit als stehendes Jetzt, als Wiederkehr des Gleichen oder als ein dem Wechsel der Jahreszeiten entsprechender Kreislauf erfahren wird, kann sich keine Vorstellung von Fortschritt ausbilden. Dazu bedarf es eines Zieles, wie etwa die Wiederkehr Christi und der Beginn des Tausendjährigen Reiches, auf das sich nach christlicher Auffassung die Geschichte in linearer Bewegung zubewegt. Während der Aufklärung verbreiteten sich dagegen säkulare Zielvorstellungen: die Überwindung des Naturzustandes durch den Gesellschaftsvertrag (Hobbes), der „ewige Frieden“ (Kant), das allgemeine „Bewusstsein der Freiheit“ (Hegel), die Aufhebung des bürgerlichen Privateigentums (Marx), die Emanzipation der Frau (Göttner-Abendroth) oder der Frieden mit der Natur. Ein wesentlicher Unterschied ist dabei, ob das Ziel positiv, als Annäherung an das angestrebte Ziel, formuliert wird, oder negativ, als fortschreitende Entfernung von einem bedrückenden Zustand, so wie Marx und Engels etwa den Kommunismus als „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen [schlechten] Zustand aufhebt“ definierten.

Grundlegende Differenzen zwischen den verschiedenen Fortschrittskonzeptionen bestehen auch hinsichtlich der Frage, auf welche Weise der Fortschritt zustandekommt: als bewusster Akt handelnder Menschen (wie etwa bei der Verkündigung der Menschenrechte), als „Naturgesetz“ bzw. die Vorsehung eines weisen Schöpfers (wodurch das „ungesellige Wesen“ des Menschen die Vervollkommnung der Menschheit vorantreibt), als „List der Vernunft“ (die sich als Resultante widersprechender Handlungen und Zielsetzungen hinter dem Rücken der Menschen durchsetzt) oder als Zwang (wie beim Fortschritt der Technik, der sich aus der Konkurrenz der Kapitalisten bei Strafe des Untergangs ergibt). Einen wichtigen Autor mit seinem unter heutigen Verhältnissen skurril anmutenen Gottvertrauen hat sich Annette Schlemm bei der Diskussion dieses Themas allerdings entgehen lassen. Für Alexis de Tocequille ist der unausweichliche Fortschritt zur Demokratie durch göttlichen Willen gewährleistet, der sich der Menschen als „blinder Werkzeuge“ bedient. Zu diesen Werkzeugen gehören, wie er schreibt, nicht nur diejenigen, die sich für die Demokratie einsetzen, sondern (und ganz besonders) auch diejenigen, die sie bekämpfen. Donald Trump wäre, so gesehen, das blinde Werkzeug Gottes für den Fortschritt der Demokratie in Amerika, in der die Politiker dann nicht mehr käuflich sind und ihre Politik nach den Interessen derjenigen ausrichten, die ihren Wahlkampf durch großzügige Spenden finanzieren.

In eigenen Abschnitten behandelt Annette Schlemm die Fortschrittsbegriffe von Marx und Darwin, die bei aller Verschiedenheit das Gemeinsame haben, dass sie den Fortschritt post festum darstellen. Erst nachdem das Ziel (die kapitalistische Produktionsweise bzw. der homo sapiens) erreicht war, wird rückblickend nach den Bedingungen und den Etappen gefragt, über die dieses Ziel fortschreitend tatsächlich erreicht wurde. „In der Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen“, erst vom fortgeschrittenen Stadium einer Entwicklung können die Stadien begriffen werden, die ihm geschichtlich vorausliegen. Der zitierte Satz stammt nicht von Darwin, sondern von Marx.

Ein grundlegendes Problem des „Fortschritts“, das ausführlich zur Sprache gebracht wird, ist die Ungleichzeitigkeit, mit der sich verschiedene Bereiche der Gesellschaft entwickeln (wie etwa die Kunst, die unter zurückgebliebenen ökonomischen Verhältnissen ein Höchstmaß an Vollkommenheit erreicht hat) und, mehr noch, die gegenläufige Entwicklung verschiedener Bereiche, für die sich viele Beispiele anführen lassen. Mit dem Anwachsen des gesellschaftlichen Reichtums etwa wächst auch die Spaltung der Gesellschaft und die Verbreitung relativer Armut; die wachsende Herrschaft über die Natur geht mit der Ohnmacht gegenüber dem fortschreitenden Klimawandel einher. An diese Überlegungen schließt sich reibungslos die Kritik an den verschiedenen Konzepten des „Fortschritts“ an: wenn etwa die ungewollten „Nebenwirkungen“ die gewollten Ziele übersteigen und konterkarieren. Ausführlich referiert Annette Schlemm die Kritik am Fortschritt, die schon von Oswald Spengler oder Ludwig Klages (in reaktionärer Weise mit Richtung auf die Erhaltung des status quo), in reflektierterer Form dagegen von Walter Benjamin (der die unter der Sozialdemokratie verbreitete Annahme, man schwimme „in Strom“ des automatischen Fortschritts, anprangert) oder den Autoren der Dialektik der Aufklärung (die der Entzauberung der Welt das „triumphale Unheil“ der vollends aufgeklärten Welt entgegensetzen) vorgetragen wurde. Schon Ernst Bloch kritisierte den verbreiteten Eurozentrismus der meisten Fortschrittstheorien, als wäre die europäische Zivilisation das Maß und Ziel, auf das sich alle anderen Erdteile und Kulturen zubewegen sollten.

Am Ende ihres lesenswerten Buches widmet sich Annette Schlemm einer „rettenden Kritk“ des Fortschrittsbegriffes, die sie in einer Reihe von Thesen vorträgt. Wer sich grundsätzlich gegen Fortschritt ausspricht, meint offenbar, dass alles so bleiben soll, wie es ist. Manche, wie der Fürst von Salina, meinen allerdings auch, dass sich vieles ändern muss, damit alles beim Alten bleibt. Worauf es beim „Fortschritt“ ankommt, sind die Ziele und die darin zum Ausdruck kommenden Interessen. Ohne solche Zielvorstellungen exitiert keine Orientierung, weder für die Beurteilung von politischen oder sozialen Ereignissen, noch für das eigene Handeln. Auch wenn sich der Begriff des Fortschritts nicht mehr auf die Gesellschaft als ganzer, sondern nur noch auf Teilbereiche bezieht, ist er doch letztlich auf Emanzipation, das heißt auf die Freiheit und deren Verwirklichung gerichtet: auf die Befreiung von Not und Unwissenheit, von Knechtschaft, Krieg, Ausbeutung und Angst.