Das Klima. Geschichte des Begriffs, 2. Teil
von Alexander von Pechmann
Die Klimatheorie von Johann Gottfried Herder und ihre Kritik durch Immanuel Kant
Sehen wir bei unserer Geschichte des Klimabegriffs sowohl von der Wiederaufnahme des heliozentrischen Systems als auch von den Klimatheorien der Aufklärung ab, die, wie vor allem Montesquieu im „Geist der Gesetze“, die klimatischen Unterschiede, darin Aristoteles folgend, in eine kausale Beziehung zu den moralischen, politischen und rechtlichen Gewohnheiten und Institutionen der Völker und Nationen gesetzt haben.1 Eine grundlegende Neubestimmung erfuhr der Klimabegriff erst mit Johann Gottfried Herders „Ideen zur Geschichte der Menschheit“. Herder hatte es am Ende des 18. Jahrhunderts unternommen, die mit der europäischen Expansion der vergangenen Jahrhunderte erworbenen Erkenntnisse sowohl der Natur als auch der außereuropäischen Kulturen in einem einheitlichen System zusammenzufassen.
Der systematische Ausgangspunkt dieser Geschichte der Menschheit ist für Herder nicht der Mensch, aber auch nicht die Erde wie zuvor, sondern der Himmel bzw. das Weltall. „Vom Himmel muss unsre Philosophie der Geschichte des menschlichen Geschlechts anfangen, wenn sie einigermaßen diesen Namen verdienen soll. Denn da unser Wohnplatz, die Erde, nichts durch sich selbst ist, sondern von himmlischen, durch unser ganzes Weltall sich erstreckenden Kräften ihre Beschaffenheit und Gestalt, ihr Vermögen zur Organisation und Erhaltung der Geschöpfe empfängt: so muss man sie zuvörderst nicht allein und einsam, sondern im Chor der Welten betrachten, unter die sie gesetzt ist“2.
Diesem Anfang entsprechend ist für ihn unsere Erde ein Stern unter Sternen; sie ist, wie er in Bezug auf Kopernikus, Kepler, Newton, Huygens und Kant schreibt, „eine Kugel, die sich um sich selbst, und gegen die Sonne in schiefer Richtung bewegt.“3 Sie ist zudem, wie er mit Bezug auf den Geologen de Buffon schreibt, in ihrer Geschichte vielerlei Revolutionen durchgegangen, bis sie das, was sie jetzt ist, geworden ist: „eine große Werkstätte zur Organisation sehr verschiedenartiger Wesen.“4 Diese Werkstätte unterscheidet er in die „Dunsthülle“ (Atmosphäre), die die Oberfläche umhüllt, das „Erdgebirge“, das wir heute als „Lithosphäre“ bezeichnen, die „Wasserfläche“ als „Hydrosphäre“ sowie das Pflanzen- und Tierreich, das wir heute die „Biosphäre“ nennen. Und schließlich die kulturelle Sphäre des Menschen, den er als „ein Mittelgeschöpf unter den Thieren der Erde“ begreift.5
Auf der Grundlage der Unterscheidung der Erdoberfläche in diese Erdsphären übt er nun Kritik an den „(Klima)zonen der Alten“. Diese Zonen „haben sich durch die neuere Kenntnis fremder Weltteile nicht bestätigt, wie sie denn auch, physisch betrachtet, auf Unkunde derselben gebaut waren“. Mag auch die Menge der Sonnenstrahlen und der Winkel ihres Einfalls als mathematische Aufgabe mit „genauem Fleiß bestimmt worden sein; der Mathematiker selbst aber würde es für einen Missbrauch seiner Regel ansehen, daraus Schlüsse auf das Klima zu ziehen“. Denn: „Hier gibt die Nähe des Meers, dort der Wind, hier die Höhe oder Tiefe eines Landes, an einem vierten Ort die nachbarlichen Berge, am fünften Regen und Dünste dem allgemeinen Gesetz eine so neue Localbestimmung, dass oft die nachbarlichsten Orte das gegenseitigste Klima empfinden“6. Zudem empfange in der Biosphäre jede Pflanze und jedes Tier die Wärme der Sonne auf je eigene Weise und erzeuge je nach Vermögen selbst relative Wärme bzw. Kälte.
Für Herder ist also das Klima nicht mehr nur die „Neigung“ der Erde oder der Sonne, sondern ist ein in sich hochkomplexes Ganzes. Es ist weder nur ein determinierender Faktor, der die Struktur und das Verhalten von Pflanzen, Tieren oder Menschen prägt, noch ist es allein durch den Einfluss der Sonne determiniert; vielmehr stiftet das Klima die Beziehungen alles Lebendigen und Nicht-Lebendigen auf der Erde in der Form einer „klimatische{n] Gemeinschaft …, die zum Leben der Lebendigen gehört“7. Daher ist die gesamte Biosphäre mit Einschluss der Menschen einerseits den klimatischen Beziehungen ausgesetzt; sie ist aber andererseits rückwirkend in der Lage, das Klima selbst zu verändern. Und diese Einflussnahme gilt insbesondere für den Menschen, der fähig ist, das Klima durch Kunst, d.h. Technik, zu ändern.8 Herder begreift das Klima also als einen „Mittelbegriff“, als die alles umfassende und durchdringende „Weltseele“, die die Natur- und die Menschengeschichte, den Kosmos und die Kulturen, miteinander verbindet. In ihr ist der Mensch als Spezies eine spezifische Hervorbringung einer kontingenten, gleichwohl in sich einheitlichen und sinnvollen Natur.
Das Klima ist für Herder folglich nicht mehr nur ein mehr oder weniger wichtiger Faktor, sondern gleichsam ein in sich „dynamisches System im Gleichgewicht“, wie wir heute sagen würden, das in höchst komplexer Weise die unterschiedlichen Sphären der Luft, des Wassers, der Erde sowie des außer- wie menschlichen Lebens miteinander verknüpft und verbindet. Es wird bei ihm zum Medium und zur Chiffre eines ökologischen Gleichgewichts, innerhalb dessen sich die Mannigfaltigkeit und die Kette der Organisationsformen ausbilden, angefangen von der unbelebten Natur, den Steinen und Salzen, über die Pflanzen- und Tierwelt bis hin zur menschlichen Gattung mit ihrem Verstand und Vernunft. In diesem ganzheitlichen Modell ist der Mensch weder das Zentrum noch herrscht er von außen und souverän über die Dinge, sondern steht in einem durchdringenden Gestaltungsverhältnis von Natur und Kultur.
Freilich, so räumt Herder ein, befindet sich die wissenschaftliche Erforschung dieses Systems erst in ihren Anfängen. Wir sind, schreibt er in seiner bildhaften Sprache, „ein bildsamer Thon in der Hand des Klimas; aber die Finger desselben sind so mannichfaltig, auch sind die Gesetze, die ihm entgegenwirken, so vielfach, dass vielleicht nur ein Genius des Menschengeschlechts das Verhältnis all dieser Kräfte in eine Gleichung zu bringen vermöchte“9. Jedenfalls verlangt sein ganzheitliches Klimakonzept die Kooperation und Verschränkung der sich ausdifferenzierenden Wissenschaftsgebiete der Physik und Chemie, der Biologie und Geographie und letztlich auch der Anthropologie in einer „Klimatologie“, die dazu allerdings an die Stelle rein mechanischer Erklärungen ein organisches Deutungsmuster setzen muss, das die Ideen einer inneren wie äußeren Zweckmäßigkeit sowie einer Höherentwicklung der Organisationsformen einbezieht.
Die philosophische Grundlage, auf der Herders umfassender Begriff vom Klima beruht, bildet eine Art des Pan-Theismus, der die All-Eines-Lehre von Spinoza mit der Leibnizschen Idee einer universell wirkenden „organischen Kraft“ verbindet. In ihm sind das geistig Göttliche als Substanz und das materiell Natürliche als deren Modifikationen nicht verschieden, sondern untrennbar Eines; es ist ein und dieselbe „göttlich-natürliche Kraft“, die in verschiedenster Weise in allem gestaltend und verbindend wirkt. In den Gesprächen über Gott heißt es: „wir können von der höchsten Ursache nur sagen: sie ist, sie wirkt; aber mit diesem Worte sagen wir Alles … es besteht Alles in ihm, die Welt ein Ausdruck, eine Darstellung der Wirklichkeit seiner ewig lebenden, thätigen Kräfte.“10
Mit dem Konzept eines solchen dynamischen wie harmonischen Systems, das die Natur- wie Menschengeschichte umfasst, hat sich Herder freilich auch gewichtige Gegner geschaffen. Theologen schalten seinen Pantheismus als eine materialistische Häresie, die Schöpfer und Geschöpf blasphemisch in eins setze. Vor allem aber sollte seine Kontroverse mit Immanuel Kant der Anfang sein, dass seine einheitliche, Natur und Kultur verbindende Konzeption zum „dauerhaften Ausschluss Herders“11, und damit auch seines umfassenden Klimabegriffs, aus dem Wissenschaftskanon führen sollte. Allerdings war das Argument diesmal nicht, wie bei Aristarch von Samos damals, dass er die „göttliche Ordnung“ leugne, sondern die „Unwissenschaftlichkeit“ seines Systems. Anstatt, so Kants Kritik, in seinen „Ideen zur Geschichte der Menschheit“ klar definierte und deutlich einsehbare Begriffe zu verwenden, lebe das Werk von „kühnen Metaphern, poetischen Bildern, mythologischen Anspielungen“. Herder ziehe aus wenigen Tatsachen voreilig weitgehende Schlussfolgerungen und urteile über Dinge, über die man einstweilen nur phantasieren könne. Was Herder eine „Philosophie der Geschichte der Menschheit“ nennt, sei „etwas ganz Anderes, als was man gewöhnlich unter diesem Namen versteht.“12 Sie sei von poetisch-literarischer, aber nicht von wissenschaftlicher Qualität.
Wichtiger als diese Methoden- und Sprachkritik war allerdings die inhaltliche Kritik, die Kant übte. Denn Kants Philosophie ging nach seiner „kopernikanischen Wende“ aus anthropozentrischer Perspektive systematisch von einem autonomen und transzendentalen „Ich“ aus, vom „Ich denke“, das den Menschen als Subjekt jeglicher Erkenntnis fundamental von der Natur als dem Objekt seiner Erkenntnis unterscheidet, sodass eine wahre Erkenntnis der Natur allemal nur unter der Leitung und der Kontrolle des Verstandes stattfinden kann. Daher könne die Natur nur als das durch das transzendentale Subjekt gesetzte Objekt ein Gegenstand der Erkenntnis sein. Herder hingegen dreht das um. Er geht nicht vom „transzendentalen Ich“ aus, sondern in kosmologischer Perspektive umgekehrt vom Ganzen der Natur, vom „Himmel“, und stellt die Geschichte des Menschen in Form einer Erzählung als einen sukzessiven Prozess seiner Entstehung auf der Erde und aus der lebenden Natur dar. In ihr ist der Mensch weder das Zentrum noch herrscht er souverän über die Dinge, sondern steht in einem wechselseitigen Gestaltungsverhältnis von Natur und Kultur.
Herders zentraler Gedanke einer solchen, die Natur und den Mensch verbindenden organischen Evolution aber erschien Kant aus seiner Perspektive „so ungeheuer, dass die Vernunft vor ih(m) zurückbebt“13. Herder versuche „das, was man nicht begreift, aus demjenigen erklären zu wollen, was man noch weniger begreift“14. Seine einheitliche Geschichte von der Natur und der Kultur erschien Kant daher als Werk einer „durch Metaphysik oder durch Gefühle beflügelten Einbildungskraft“15, die sich der Kontrolle des gesetzgebenden Verstandes entzogen und das Subjektive und das Objektive in heillose Verwirrung versetzt hat.
Mit diesem Verriss war das Urteil über Herders „Ideen“ gesprochen. So hieß es denn auch in Kuno Fischers späterer und einflussreicher „Geschichte der neuern Philosophie“ eher beiläufig: „Er schreibt mehr lebhaft als deutlich, die überwallenden Gefühle verwandeln sich ihm oft statt in klare Ausdrücke in stumme Ausrufungszeichen, die Gedanken in Gedankenstriche … Das war sicher der Mann nicht, der einen Spinoza wahrhaft verstehen und einen Kant beurtheilen oder gar widerlegen konnte“16.
Diese philosophische Kritik Kants traf damals auch mit dem Zeitgeist überein. Denn im Politischen warf die Französische Revolution gerade alles Natürliche und Tradierte ab, das die Menschen bislang gefesselt hatte, um einen Neuanfang zu wagen; und mit dem Beginn der „industriellen Revolution“ kam die Natur nur mehr als vorhandene Verfügungsmasse zur Realisierung menschlicher Bedürfnisse in den Blick, und der gesellschaftliche Fortschritt wurde am Grad der Herrschaft über die Natur gemessen. In den Naturwissenschaften verfestigte sich das Paradigma, die umgebende Natur in klar umrissene, sich gegenseitig begrenzende Gebiete der Physik, Chemie und Biologie einzuteilen, um deren jeweilige Gesetze zu erforschen. Und die Kulturwissenschaften erkundeten, getrennt davon, die Produkte des Menschen hermeneutisch als Äußerungen des zu sich kommenden aufgeklärten Geistes. Dort, wo in dieser anthropozentrischen Zeit der Naturbeherrschung und -kontrolle das Wort „Klima“ überhaupt noch auftauchte, hatte es entweder die Bedeutung eines rein meteorologischen Phänomens oder erklärte im kulturwissenschaftlichen Kontext die unterschiedlichen „Racen“ und Kulturen. Hinter diesem Paradigma der Trennung von Kultur und Natur verschwand der „alte Herder“ als „romantischer Träumer“ von der Bildfläche.
- Vgl. dazu die Ausführungen von Eva Horn zur „thermischen Anthropologie“ in: dies., Klima. Eine Wahrnehmungsgeschichte, Frankfurt/Main 2024, 115-125. ↩︎
- J. G. Herder, Ideen zur Geschichte der Menschheit, hg. von J. Schmidt. Bd 1., Leipzig 1869, 9. ↩︎
- ebd., 18. – „Nur eine kleine andere Richtung der Erde zur Sonne, und alles auf ihr wäre anders“ (ebd., 21). ↩︎
- ebd., 35. ↩︎
- ebd., 48. – „Er (der Mensch), der Sohn aller Elemente und Wesen, ihr erlesener Inbegriff und gleichsam die Blüte der Erdschöpfung, konnte nicht anders als das letzte Schoßkind der Natur sein, zu dessen Bildung und Empfang viele Entwicklungen und Revolutionen vorhergegangen sein mussten.“ (ebd., 17) ↩︎
- ebd., Bd. 2, 45. ↩︎
- ebd., 47. ↩︎
- „Seitdem er das Feuer vom Himmel stahl und seine Faust das Eisen lenkte, seitdem er Tiere und seine Mitbrüder selbst zusammenzwang …, hat er auf mancherlei Weise zur Veränderung desselben [des Klimas] mitgewirkt. Europa war vormals ein feuchter Wald … es ist gelichtet, und mit dem Klima haben sich die Einwohner selbst geändert Wir können also das Menschengeschlecht als eine Schar kühner, obwohl kleiner Riesen betrachten, die allmählich von den Bergen herabstiegen, die Erde zu unterjochen und das Klima mit ihrer schwachen Faust zu verändern. Wie weit sie es darin gebracht haben mögen, wird uns die Zukunft lehren“ (ebd., 48) – Ähnlich dann Dipesh Chakrabarty (2010, 293): Der Mensch ist ein „Riese“, insofern er – wie die Natur selbst in ihren Umwälzungen – Landschaften und Klimata ändert: der selbstmächtige, zerstörerische Mensch des Anthropozäns, der das Projekt von Freiheit als Naturbeherrschung über alle anderen Rücksichten stellt. Er ist aber auch »klein«, da er dem Klima unterworfen ist wie alle anderen Lebewesen auch, eine Spezies, die untergehen wird, wenn sie die natürlichen Parameter, innerhalb derer ihre gegenwärtige Existenz möglich wurde, mutwillig verändert“. ↩︎
- ebd., 46. ↩︎
- J. G. Herder, Gott. Einige Gespräche über Spinozas System nebst Shaftesburys Naturhymus, 3. und 5.Gespräch: In: Herders Werke, Berlin. ↩︎
- T. Borsche, Vorkritisch oder metakritisch? Die philosophische Aktualität Herders. In: T. Borsche (Hg), Herder im Spiegel der Zeiten, München 2006, 126. ↩︎
- Rezensionen von J. G. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: Immanuel Kants sämtliche Werke in sechs Bänden, 1. Bd., Leipzig 1922, 243. ↩︎
- ebd., 254. ↩︎
- ebd., 253. ↩︎
- ebd., 255. ↩︎
- Kuno Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, Bd. 3, Heidelberg 1902, 685. ↩︎