Moyn – Der Liberalismus gegen sich selbst

Samuel Moyn

Der Liberalismus gegen sich selbst. Intellektuelle im Kalten Krieg und die Entstehung der Gegenwart

aus dem Englischen von Christine Pries

geb, 304 Seiten, 30,– €

Berlin 2024 (Suhrkamp-Verlag)

von Percy Turtur

Der Historiker Samuel Moyn unternimmt in seinem Buch den Versuch, den Liberalismus zu retten, nicht zuletzt vor sich selbst. Da der Rezensent selber kein Liberaler ist, sondern sich als Linker versteht, gilt sein Interesse weniger der ‚Rettung des Liberalismus‘ als der Frage, was sich aus dessen Scheitern lernen ließe. Gemeinsam ist liberalen und linken intellektuellen Strömungen der offensichtliche Schiffbruch, den beide politischen Denkrichtungen angesichts des unabsehbaren Erstarkens konservativer bis extrem reaktionärer, militanter politischer Positionen derzeit erleiden.

Moyn stellt verschiedene Interpretationen des Liberalismus anhand einiger Autoren wie Judith Shklar, Isaiah Berlin, Karl Popper, Gertrude Himmelfarb und Lionel Trilling vor; sein besonderes Augenmerk gilt dabei einer Richtung, die er den „Kalter-Krieg-Liberalismus“ nennt. Er betrachtet diesen als eine Art radikaler Aufhebung des ‚klassischen‘ Liberalismus, wobei nicht ganz klar wird, ob er diese Aufhebung im hegelschen Sinne dialektisch versteht – in jedem Fall aber denkt er an eine Art von Negation des Liberalismus in sich selbst.

Die Texte aus den fünfziger Jahren von Judith Shklar, in denen sie den Kalten-Krieg-Liberalismus (noch) kritisiert, vor allen im ersten Buch „After Utopia“, stellen für Moyn eine Art Leitbild der Erörterungen in diesem Buch dar. Die Verbindung mit der Aufklärung, die Ende des achtzehnten Jahrhunderts beginnt, wird, so seine These, im Liberalismus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in der Konfrontation der beiden Weltmächte unterbrochen. Obwohl Kalter-Krieg-Liberalismus und Neoliberalismus sich in einigen Punkten deutlich unterscheiden, sind sie sich doch in der Ablehnung aufklärerischer Rationalität weitgehend einig, die im Ursprung doch grundlegender Bestandteil des früheren Liberalismus war. Am Beispiel des intellektuellen Verhältnisses von Isaiah Berlin und Shklar macht Moyn deutlich, wie verschiedene Auffassungen von Liberalismus zusammenfinden und wieder auseinanderdriften, und wie die einzelnen Autoren selbst ihre Positionen im Lauf der Zeit modifizieren oder sogar weitgehend verändern.

Der Vorwurf, den Moyn Karl Popper macht, ist der, dass er durch seinen Anti-Hegelianismus und seine Ablehnung von Marx wichtige Bestandteile des Liberalismus des neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts eliminiert hat, was an der speziellen Ausprägung des Kalter-Krieg-Liberalismus entscheidenden Anteil hat. Mit seiner Kritik an der von ihm „Historizismus“ genannten Geisteshaltung, die im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert auf sozialen Fortschritt setzte, dekonstruierte Popper auch die Hoffnung vieler Liberaler auf eine bessere Zukunft, die, wenn nicht notwendig, so doch immerhin möglich und anzustreben wäre. Da der Liberalismus es nicht zu einem eigenen Geschichtsverständnis, abgekoppelt von jenem Historizismus, gebracht hatte, blieb ihm nur ein eklektizistisches politisches Bewusstsein. Ein solches Verständnis ist für Moyn jedoch unverzichtbar: „Wenn Geschichte keinen Fortschritt macht, ist sie sinnlos“ (113). Dies freilich gilt für jede politische Richtung, auch für alle Spielarten des Konservatismus (Anm. d. Rezensenten).

Dementsprechend gilt es nach Moyn daran festzuhalten, dass zwar der Kalter-Krieg-Liberalismus eine „Aufkündigung der Zukunft“ (121) verlangte, dass aber kein Liberalismus längerfristig gedeihen könne, der „nicht emanzipatorisch und der Zukunft zugewandt“ (124) ist. Mit Francis Fukuyama habe der Kalter-Krieg-Liberalismus sich ab 1989 jedoch folgenreich in den Neoliberalismus transformiert und sich damit endgültig gegen seine bisherigen philosophischen Grundlagen gewandt.

Etwas überraschend bezieht Moyn Hannah Arendt in seine Überlegungen zum Widerspruch des Liberalismus mit ein, obwohl diese sich doch nie als Liberale verstand. In gewisser Weise, so Moyn, habe Arendt, als ausgewiesene Konservative, sich an der Transformierung des freiheitlichen Liberalismus in den Kalter-Krieg-Liberalismus beteiligt, wenn auch mit anderen Motiven. Sie habe geholfen, den ‚Anti-Kanon‘ eines Liberalismus zusammenzustellen, der sich von jeglicher Form der Aufklärung bis hin zu Hegel und Marx verabschiedet hat. Eine weitere, nach Moyn unangenehme Folge des Kalter-Krieg-Liberalismus war die Aufkündigung des Projekts der Globalisierung mit der Folge, die ‚Freiheit‘ des ‚Westens‘ gegen den Rest der Welt verteidigen zu müssen, bis dann die neoliberale Ökonomie den postkolonial entstandenen Staaten ihr „stahlhartes Gehäuse“ (167) aufzwang. Als Vordenkerin der Totalitarismus-Theorie sei Arendt dem Kalter-Krieg-Liberalismus erstaunlich nah gewesen.

Schließlich habe dann auch noch Lionel Trilling die Psychoanalyse mit Sigmunds Freuds „Das Unbehagen an der Kultur“ für den Kalten-Krieg-Liberalismus eingespannt, um den seiner Ansicht nach schädlichen Kollektivismus zugunsten eines (elitären) Individualismus zu verdammen. Selbst die Kulturkritik Theodor W. Adornos in dessen „Negativer Dialektik“ muss dafür herhalten, obwohl Adorno das völlige Gegenteil eines Liberalen war. Der Kalter-Krieg-Liberalismus und nach ihm der Neoliberalismus, so Moyn, haben alles für sich vereinnahmt, was gegen eine soziale Weiterentwicklung der Menschheit sprechen könnte und was für eine unumschränkte Herrschaft der Reichen und Mächtigen spricht, selbst wenn diese Theorien mit dem Liberalismus nicht kompatibel oder sogar gegen ihn gerichtet sind.

Es wäre schön gewesen, hätte Moyn die verschiedenen Strömungen des Liberalismus, die er in Anschlag bringt, inhaltlich und systematisch klarer konturiert. Es hätte das Verständnis der verschiedenen Spielarten des Liberalismus vom 20. Jahrhundert bis heute deutlich erleichtert. Gerade für eine Art von ‚Geschichte des Liberalismus‘ wäre das interessant und hilfreich gewesen.

Formal lässt sich schließlich sagen, dass die Positionierung der Fußnoten ans Ende des Buches im Zeitalter des Computersatzes reichlich anachronistisch wirkt und das ständige Blättern nach hinten zu den Fußnoten und wieder nach vorn zum Text beim intensiven Lesen lästig fällt. Andererseits zerreißen Fußnoten, die des öfteren eine halbe Seite beanspruchen, den fortlaufenden Text. Sie gehören zwar in eine wissenschaftliche Arbeit, stören aber den Lesefluss.

Wie so oft lautet die Antwort auf die Frage, was aus der Geschichte sich lernen ließe, dass sich eben nichts lernen lässt. Auch wenn Samuel Moyn der Überzeugung Ausdruck gibt, den ‚klassischen‘ Liberalismus nicht einfach wiederbeleben zu können, da dessen bisherige Spielarten obsolet geworden seien. So stellt sich für ihn dennoch die Frage, was das „ganz Andere“ des Liberalismus sein könnte, das ihn aufhebt, auch und gerade im Sinne des ‚Bewahrens‘ eines ‚klassischen‘ Liberalismus. Eine Frage, die sich, wie mir scheint, auch die Linke, wenn auch mit anderen (besseren?) Inhalten und Zielen, gleichfalls stellen muss.

Muss man dieses Buch (als Linke:r) gelesen haben? Nein. Kann man es mit Gewinn lesen, wenn man sich für den Liberalismus des 20. und 21. Jahrhundert interessiert, gerade jetzt in einer Zeit, in der Anti-Intellektualismus und Anti-Liberalismus in den USA, aber auch anderswo, fröhliche Urständ‘ feiern? Ja.

Zima – Kritische Theorie zwischen Spätmoderne und Postmoderne

Peter V. Zima

Die Kritische Theorie zwischen Spätmoderne und Postmoderne

Nostalgie als Kritik

br., 295 Seiten, 39,- €.

Tübingen 2024 (Narr Franck Attempto Verlag)

von Konrad Lotter

Zwei bereits im Vorwort zitierte Aussagen geben dem Buch die Richtung vor. Die eine stammt von Adorno und lautet: das „Maß des neuen Schlechten ist einzig das Frühere“ (und Bessere); die andere stammt von Marcuse: „Die kritische Theorie hat es in bisher nicht gekanntem Maße mit der Vergangenheit zu tun, gerade sofern es um die Zukunft geht“.

In beiden Aussagen, so Zima, kommt der Wandel der Kritischen Theorie zu einer Theorie der Spätmoderne zum Ausdruck. Unter dem Eindruck des konsolidierten Kapitalismus und der Schrecken des Stalinismus verabschieden sich die Vertreter der Kritischen Theorie in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts von Marx und der Hoffnung auf eine proletarische Revolution und schwenken auf eine Argumentationslinie ein, die von den spätmodernen Soziologen und Philosophen Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Max Weber vorgezeichnet ist: radikale Kritik an den Missständen, Entfremdungen und Fehlentwicklungen des kapitalistischen Systems, verbunden mit der Erinnerung an das Positive, das im Prozess des gesellschaftlichen Fortschritts verloren gegangen ist. Dabei handelt es sich um keinen romantischen Antikapitalismus, der in eine idealisierte Vergangenheit zurückkehren will, sondern um die Forderung, die einmal verwirklichten Errungenschaften an Humanität nicht preiszugeben, sondern in die fortgeschrittene Form der Gesellschaft aufzuheben.

In diesem Sinne sind für Horkheimer, Adorno oder Marcuse, die gleichermaßen dem Großbürgertum entstammen, der liberale Individualismus und die damit verbundene Bildung, Kritikfähigkeit und Autonomie des Individuums ein Wert, hinter den nicht zurückgefallen werden darf. Hatte die Kritische Theorie in ihren Anfängen noch mit Marx das Proletariat als „Subjekt“ der Geschichte begriffen, so ist jetzt das autonome Individuum an seine Stelle getreten. Bei Habermas, in der zweiten Generation der Kritischen Theorie, ist daraus die „herrschaftsfreie Kommunikation“ der vernunftbegabten, autonomen Individuen geworden, die sich vom „besseren Argument“ leiten lassen.

Der Schwerpunkt des Buches liegt allerdings nicht auf der skizzierten Entwicklung der Kritischen Theorie hin zu einer Theorie der Spätmoderne, sondern im Übergang (oder eigentlich Verfall) der Spätmoderne zur Postmoderne. Trotz ihrer Abkehr von Marx bleiben „Utopie“, „Revolution“ oder „Überwindung“ (des Kapitalismus) Themen der zur „Frankfurter Schule“ gewandelten Kritischen Theorie, wenn auch nicht mehr im Sinne von Marx, sondern mit der vagen Perspektive auf ein „ganz Anderes“. Bei den Postmodernen ist die Abkehr von Marx noch viel entschiedener, so dass selbst diese Themen als überholt, anachronistisch und sogar als gefährlich angesehen werden. An die Stelle der Kritik der naturwüchsigen (kapitalistischen) Verhältnisse treten ein „Living Without an Alternative“ (Zygmund Baumann) und die rückhaltlose Anerkennung der bestehenden Verhältnisse. An die Stelle des (Gebrauchs-)Werts der Dinge tritt die Universalität des Tauschwerts, der alle Wert-Differenzen einebnet (Jean Baudrillard). An die Stelle des Versuchs, die Selbstbestimmung der Individuen zu fördern, tritt deren Gleichschaltung innerhalb der Massengesellschaft (Jean-François Lyotard). Die Reduktion der Vernunft auf die Zweckrationalität und die „Eindimensionalität“ des Menschen werden als Faktum hingenommen und akzeptiert (Gianni Vattimo). Als positiv wertet Zima dagegen die „Vielfalt“ der postmodernen Theoretiker, ihr Interesse für das Einzelne; darin sieht er einerseits eine Verwandtschaft mit Adornos „Akzentuierung des Partikularen“, andererseits einen Gegensatz zum Universalismus der „großen Erzählungen“ von Hegel oder Marx.

Bemerkenswerterweise sehen sich die Theoretiker der Postmoderne selbst oftmals in völliger Übereinstimmung mit der Frankfurter Schule (Michel Foucault) oder knüpfen ausdrücklich an deren Gedanken an. Tatsächlich aber, so die Kritik Zimas, treiben sie deren Gedanken nur „auf die Spitze“ und verkürzen sie, um sie dann als „Argumente gegen sie zu wenden“. So kehrt Lyotard das „Erhabene“ Adornos, das „die Kritikfähigkeit der Kunst und des Einzelnen stärken sollte, gegen das Subjekt“. Der französische Soziologe Michel Maffesoli analysiert (in Übereinstimmung mit Horkheimer und Adorno) zwar den Niedergang der individuellen Autonomie, feiert deren Unterordnung unter die Masse aber als „postmodernen Fortschritt“. Baudrillard erinnert zwar an die Kritik des Tauschwerts, vertritt aber die Auffassung, dessen Herrschaft über den Gebrauchswert sei so total, dass er als „Archimedischer Punkt der Kritik“ ausgedient hat. Grundsätzlich hatte die Kritische Theorie (mit Walter Benjamin) zwischen dem Fortschritt der Naturbeherrschung und dem der Gesellschaft und der in ihr verwirklichten Humanität unterschieden. Dieser Unterschied ist in der Postmoderne, die allein den Fortschritt der Naturbeherrschung thematisiert, verschwunden. Adorno und Horkheimer kritisierten zwar die rücksichtslose Beherrschung der Natur, deren Methoden auf die Beherrschung des Menschen übertragen werden; gleichzeitig widmen sie dem Individualismus des Liberalismus eine „rettende Kritik“. Diese Dialektik kommt in den postmodernen Theorien nicht mehr vor. Gezeigt wird stattdessen nur, wie das Netz der Disziplinierung und der Angleichung der Individuen immer enger wird, so dass sie zuletzt vollständig verschwinden „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ (Foucault).

Als Literaturwissenschaftler verweist Zima oftmals auf Parallelen zwischen Philosophie und Literatur und macht auf Selbstreflexionen der Moderne aufmerksam, wie sie auch bei Baudelaire, Valery, Kafka oder Broch anzutreffen sind. Wiederholt zitiert er den bezeichnenden Satz von Robert Musil: „Der Individualismus geht zu Ende … aber das Richtige (an ihm) wäre hinüberzuretten.“ Was wäre aber das Richtige? Zimas Antwort (im Sinne der Frankfurter Schule) lautet: die individuelle Autonomie des liberalen Zeitalters, die Fähigkeit zur Kritik und zum Widerstand, die Fähigkeit, dem ideologischen und kommerzialistischen Konformismus zu widerstehen, letztlich die Würde des Menschen.

Zimas Buch ist gut gegliedert, in seinen Argumenten (auch dank vieler Wiederholungen) gut nachvollziehbar. Es vermittelt ein breites Spektrum der weitgespannten Diskussion, in der Zima am Ende auch selbst Stellung bezieht. Er plädiert, wie schon in früheren Werken, für eine „dialogische Erneuerung der Kritischen Theorie, die postmoderne Kritiken an der (Spät-) Moderne ernst nimmt und den Universalismus der Kritischen Theorie mit dem Partikularismus der postmodernen Denker dialektisch zusammenführt“. Er wehrt sich vor allem gegen Habermas, der die Postmoderne als bloßen Konservativismus abtut, und möchte Horkheimer und Adorno „mit Hilfe des postmodernen Partikularismus … korrigieren und ergänzen“. Mit diesem Konzept versucht er, „unzeitgemäß gegen den Zeitgeist zu denken“. So unzeitgemäß, wie behauptet, erscheint dieses Konzept freilich nicht. Höchst zeitgemäß und dem Mainstream entsprechend ist vielmehr, was Zima mit beiden Ansätzen, deren Synthese er anstrebt, verbindet: die Ablehnung der Marxschen Theorie und der Mangel einer wirklichen, gesellschaftlichen (nicht bloß individuellen) Perspektive, die über die Grenzen des gegenwärtigen Kapitalismus hinausblickt.

Pineault – Die soziale Ökologie des Kapitals

Éric Pineault

Die soziale Ökologie des Kapitals

mit einem Vorwort von Simon Schaupp

br., 190 Seiten, 25.- €

Berlin 2025 (Karl Dietz Verlag)

von Fritz Reheis

Was der Kapitalismus genau ist, werden wir erst im Nachhinein voll begreifen, wenn er überwunden sein wird. Dieser Gedanke seines akademischen Lehrers, Murray Bookchin, US-amerikanischer Sozialist, Anarchist und Begründer des Institute for Social Ecology, dem das Buch gewidmet ist, habe ihn nicht mehr losgelassen, erzählt Éric Pineault. Der Gedanke sei für ihn „paradoxerweise ein Hoffnungsschimmer“. Er wolle mit seinem Buch, das teilweise bereits veröffentlichte Texte enthält („The ghosts of progress“ und „The Post Growth Condition“), „zum kollektiven Verständnis dieser sozialen und ökologischen Formation (des Kapitalismus, F.R.) und ihrer Grenzen“ beitragen (190). Pineault ist Professor am Department of Sociology und am Institute of Environmental Sciences an der Universität Quebec in Montréal. Außer durch Bookchin und Aktivisten aus Quebec sieht er sich hauptsächlich durch das Wiener Institut für Soziale Ökologie (Martina Fischer-Kowalski) und das Postwachstumskolleg an der Uni Jena (Hartmut Rosa, Klaus Dörre u.a.), wo er 2018 bis 2019 Gast war, inspiriert. Die Theorie der Sozialen Ökologie des Kapitals ist für Pineault ein „vorgeordnetes und begrenztes Unterfangen“, das einen theoretischen Rahmen für Degrowth (einschließlich Ökosozialismus) bereitzustellen versucht (170).

Es sei eine Illusion, so die Grundthese des Buches, die ökologische Transformation von einer Entkopplung der Wirtschaft vom Naturverbrauch zu erwarten und dabei auf einen Wandel der Werte mit einhergehendem Konsum- und Politikwandel zu hoffen. Nötig sei vielmehr die vollständige Überwindung der herrschenden „sozialen Ökologie des Kapitals“. Voraussetzung für diese Überwindung sei eine konsequent materialistische Analyse der energetischen und stofflichen Prozesse und der politischen Ökonomie, die sich mit ihnen in Wechselwirkung befindet. Im Zentrum der Analyse steht der Begriff des „sozialen Stoffwechsels“. Pineault unterscheidet drei Aspekte dieses sozialen Stoffwechsels: die durch Gesellschaften fließenden Ströme von Energie und Materie, die Akkumulation von materiellen Vorräten sowie die Kolonisierung von Ökosystemen durch menschliche Aktivitäten. Diese drei überhistorischen Momente des Mensch-Natur-Verhältnisses gelte es nun für kapitalistische Gesellschaften zu konkretisieren und zu „re-soziologisieren“ (28). Dabei zeige sich im Detail, wie die kapitalistische Dynamik und die sie exekutierenden globalen Konzerne in allen Phasen des menschlichen Eingriffs in die Natur – von der Extraktion über Produktion, Konsumtion und Reproduktion bis zur Dissipation – die Grenzen der Natur ignoriert und eine ökologisch verträgliche Form des Wirtschaftens und Lebens verhindert. Grund dafür seien nicht nur die systematisch erzeugten Rebound- und Verdrängungseffekte und die systematische Trennung von Produktion und Reproduktion (auch als Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land sowie Nord und Süd). Hinzu komme vor allem auch die Tatsache, dass diese Dynamik Investitionen in eine naturnahe Form des Wirtschaftens umgehend mit systematischer Entwertung des eingesetzten Kapitals bestraft.

Nach einem Vorwort von Simon Schaupp (Autor von „Stoffwechselpolitik“) über den deutschen Diskurs zum Thema, führt Pineault in das Buch ein, indem er den Begriff „sozialer Stoffwechsel“ erläutert. Das erste Kapitel behandelt den „Materialfluss“, das zweite die „Ökologie des Materialflusses“, quasi die „Arbeit der Natur“ einschließlich des Entropiegesetzes. Im dritten Kapitel geht es um „Stoffwechselregime in historischer Perspektive“, im vierten um den „fossil-basierten Metabolismus“. Das fünfte Kapitel thematisiert den „kapitalistischen Stoffwechsel“ generell, das sechste richtet den Fokus speziell auf die Zeit der „großen kapitalistischen Beschleunigung“, die Pineault zufolge die vergangenen sieben Jahrzehnte umfasst. Das Buch schließt mit einem „Anhang zur deutschen Ausgabe“ mit eindrucksvollen Daten und Grafiken zum Zusammenhang von biophysikalischen und politökonomischen Daten. Insgesamt will die Theorie der sozialen Ökologie des Kapitals eine doppelte Selbsttäuschung entlarven: „Die Versprechungen, privilegierte Lebensweisen im fortgeschrittenen kapitalistischen Kern und unter den Mittelschichten des globalen Südens beibehalten und verbessern zu können, haben ihre Entsprechung bei progressiven Kräften, die sich der Illusion hingeben, die Produktivkräfte und der Durchsatz könnten weiter gesteigert werden, weil reinere, dichtere und sauberere Energieformen im Überfluss in einem ‚dort draußen‘ vorhanden seien, das nur noch gefunden werden müsse.“ (171)

„Die soziale Ökologie des Kapitals“ ist zweifellos ein wichtiges Buch, weil es die naturwissenschaftlich-ökologische und die sozialwissenschaftlich-politökonomische Analyse überzeugend zusammenführt. Dennoch fragt sich der Rezensent, ob Pineault, der ja explizit einem dialektischen Erkenntnisinteresse folgt, nicht vorschnell über Marx hinausgegangen ist. Vielleicht sind die ökologischen Verwüstungen seit der Großen Beschleunigung ja nichts anderes als Zuspitzungen des kapitalistischen Grundwiderspruch zwischen der Gesellschaftlichkeit der Produktion und der Privatheit der Aneignung (einschließlich der Planung), nichts anderes also als weit fortgeschrittene Kollateralschäden eines Systems, von dem schon 1848 klar war, dass es „alles Stehende und Ständische“ verdampft. Vielleicht zeigt sich heute in aller Klarheit, dass Produktivkräfte in Destruktivkräfte umschlagen, solange sie durch überlebte Eigentums- und Konkurrenzbeziehungen gefesselt sind.

Snyder – Über Freiheit

Timothy Snyder

Über Freiheit

geb., 416 Seiten, 28,– €

C. H. Beck-Verlag, München 2024

von Helga Sporer

Der bekannte Historiker Timothy Snyder hat mit seiner Frau, der Osteuropaforscherin Marci Store, und dem Philosophen und Faschismusforscher Jason Stanley die Yale University verlassen. Ihre Migration nach Kanada ist das Zeichen für ihren Kampf gegen die Beschränkungen der Wissenschaft und des freiheitlichen Denkens in den USA seit Präsident Donald Trumps zweiter Amtszeit.

In seinem Buch „Über Freiheit“ , das mittlerweile in mehr als 40 Sprachen übersetzt wurde, fordert Snyder jeden auf, seinem Weckruf zu folgen und sich gegen die gewaltige Welle der weltweiten Unfreiheit zur Wehr zu setzen. Eine seiner Thesen lautet: „Wir werden nicht frei sein und auch nicht überleben, wenn wir die Grenzen unserer Erde ignorieren oder die Regeln unseres Universums leugnen“ (205). Unser Universum, so Snyder, ist ein Spiel von Materie und Energie, bei dem es hin- und hergeht, und das Leben ist eine besondere Form dieses Spiels. Wir sind eine spezielle Form des Lebens, die zur Würde des Wissens und zur Erkenntnis fähig ist. Als Interpret unserer düsteren Zeiten und zur Begründung seiner Aussagen schlägt er einen weiten intellektuellen Bogen von den Freiheitsdenkern der Antike und der Aufklärung bis zu den Autoren der Declaration of Independence und der amerikanischen Verfassung, von den Gründungsvätern der amerikanischen Demokratie bis zu den Gefährdern der modernen Freiheit durch populistische, rassistische und antisemitische Strömungen in den USA, Europa und in Ländern des globalen Südens.

Snyder wechselt auf den über 400 Seiten seines Buches immer wieder von philosophischen und theoretischen Aussagen zu alltäglichen Belegen, mit denen er seine Gedankengänge stützt. Dabei überwiegt sein Pragmatismus. Freiheit sei positiv und nicht negativ zu denken: „Wir sind nicht frei, wenn uns keine Beschränkungen auferlegt werden. Wenn ich Sie auffordere, Sie sollen jemanden vom Wählen abhalten. Übe ich dann Redefreiheit aus? Sicherlich nicht. Wenn ein bewaffneter Polizist vor einem Wahllokal steht und fragt, was Sie da tun, so ist das ein noch eindeutigerer Fall – das ist keine Redefreiheit“ (235). Wenn ein amerikanischer Präsident auffordert, eine demokratische Wahl zu kippen, dann ist das keine Ausübung von Redefreiheit. Darauf hinzuweisen heißt nicht, Trump das Recht auf Meinungsäußerung abzusprechen. Dies, so Snyder, sei nun wahrlich nicht in Gefahr.

Ein weiteres Bespiel: Wenn Putin Hunderttausende von Menschen schickt, um Hunderttausende von Morden zu begehen, sind seine Befehle dann freie Meinungsäußerung? Offensichtlich nicht. Wenn ein Diktator die Existenz einer Nation leugnet, dann handelt es sich nicht um Redefreiheit, sondern um eine völkermörderische Hassrede. Die Auffassung, Putins bizarre Geschichtsauffassung nicht zu teilen, sei Russophobie, haben russische Offizielle und Propagandisten selbst dann noch geteilt, als russische Soldaten in die Ukraine einmarschiert waren, Millionen von Menschen deportierten und rund einhunderttausend Einwohner von Mariopol töteten (236).

„Freiheit“, so Snyder, „bedeutet niemals, dass die Regierung uns in Ruhe lässt. Sie bedeutet aber auch nicht, dass wir die Regierung in Ruhe lassen. Die Formen der Freiheit müssen jeden Tag neu gelebt werden. Sie legitimieren die Regierung und leiten den Einzelnen“ (281). Doch für ein freies Zusammenleben von Individuen und Regierung sind nach Snyders Meinung fünf Voraussetzungen unabdingbar:

Die Souveränität ist in dieser Reihe die erste Form der Freiheit. Hierbei gehe darum, die Kinder zu unterstützen, Fähigkeiten zu erwerben, die es ihnen ermöglichen, sich in Freiheit zu entfalten. Diese, die Generationen übergreifende politische Arbeit, müsse von der Regierung wie den Individuen geleistet werden. Das Gleiche gelte für die Unberechenbarkeit als zweiter Form der Freiheit, die jedoch nach Strukturen verlangt. Wir können, so Snyder, nur frei sein, wenn wir die sozialen Medien immer wieder neu denken und neu gestalten. Deren Formen zu ändern, aber müsse auch Sache der Politik sein: „Wer auf Bildschirme starrt, ist leichter zu manipulieren“ (282). Die Aufrechterhaltung der Mobilität und die Sicherung der Faktizität sind weitere Voraussetzungen zur Entfaltung der Freiheit. Auch hier müssen politische Institutionen und moralisches Engagement ineinandergreifen. „Teilen Sie in den sozialen Medien Artikel, die aus menschlicher Feder stammen. Abonnieren Sie Medien mit investigativen Reportagen. Unterstützen Sie Kampagnen zur Besteuerung von Social-Media-Unternehmen, um damit die lokale Berichterstattung zu finanzieren … Technologie kann helfen, aber es muss die richtige Art von Technologie sein. Künstliche Intelligenz wird erst dann wirklich eine solche sein, wenn sie uns darauf hinweist, dass wir den Planeten verbrennen und damit aufhören sollten“ (213 f.). Die fünfte und höchste Form der Freiheit aber ist für Snyder die Solidarität. Denn ohne sie können wir die Mühsal anderer nicht als unsere eigene wahrnehmen und verlieren so die Fähigkeit, uns selbst zu sehen. „Wenn wir uns für die Möglichkeit entscheiden, Solidarität nicht für einige wenige, sondern für alle auszudrücken,“ so sein Fazit, „werden wir freier sein“ (282).

„Über Freiheit“ beschreibt in komprimierter Zusammenfassung die historischen Ereignisse und wissenschaftlichen Erkenntnisse, die zu den Herausforderungen in unserer Zeit geführt haben. Wenn wir unter diesen Bedingungen unsere Freiheit erhalten wollen, müssen wir die Demokratie, zu der diese „fünf Formen der Freiheit“ hinführen, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen. Die Lektüre und die Beschäftigung mit seinen Gedanken stimmen zuversichtlich: Nicht negative, sondern positive Freiheit, nicht für einige wenige, sondern für alle ist möglich.

Zizek – Die Paradoxien der Mehrlust

Slavoj Žižek

Die Paradoxien der Mehrlust. Ein Leitfaden für die Nichtverwirrten

Tb., 491 Seiten, 22,- €, Frankfurt/Main 2023 (S. Fischer-Verlag)

von Ottmar Mareis

Im ersten Teil seines Buches unternimmt Žižek den Versuch, den Kapitalismus durch das Theorem der Mehrlust, das auf Jacques Lacans Jouissance basiert, zu erklären. Der Kapitalismus, so Žižek, bestehe hauptsächlich aus dem Mehrwert, den die Kapitalisten aus der Arbeit der Proletarier und Angestellten pressen. Dieser fließe ihnen automatisch zu und sei das Wesen des profitorientierten Wirtschaftens. Der Kapitalismus sei mit dem Mehrwert in so essentieller Weise verbunden, dass alle Anstrengungen, den Kapitalismus abzuschaffen, an dieser unverwüstlichen Verflechtung gescheitert sind und daran scheitern werden. Diese Lust, aus der Arbeit anderer Mehrwert zu schöpfen, entspricht nach Žižek dem Konstrukt der Mehrlust in der Theorie Lacans. Doch dieser Vergleich von Mehrwert und Mehrlust hinkt ziemlich, wie sich zeigen wird. Er könnte erklären, warum Žižek sich einen lacanschen Marxisten nennt; aber mindestens die Hälfte der von ihm im Weiteren vorgestellten lacanschen Konstrukte belegen, dass sie nichts mit der Rationalität der Analysen von Marx gemein haben, sondern vielmehr in einen Obskurantismus münden.

In seinem Werk bemüht sich Žižek die Fortdauer des Kapitalismus anhand ausgewählter lacanscher Theoreme zu erklären und diese allgemein verständlich zu machen. Er unterschlägt jedoch, dass Lacan zu seiner Zeit der wohl größte Kritiker der französischen 68er wie der Linken war. Zudem würde Lacan es vehement ablehnen, mit Marx kurzgeschlossen zu werden, wie übrigens vice versa genauso Marx, was Lacan betrifft. Der Redlichkeit halber hätte Žižek eine Geschichte schreiben müssen, wie und mit welchen Theoremen Lacan die Linke in den 70ern so vehement angriff. Als notorischer Lacanverehrer versucht Žižek stattdessen, die lacanschen Konstrukte der Jouissance, der Erwartung der Mehrlust, der Jouissance des großen Anderen sowie der subjektiven Destitution für eine Gegenwartsanalyse fruchtbar zu machen. Die Frage stellt sich daher, ob und in welchen Teilen seines Werks ihm das gelingt.

Im Hauptteil des Buches wird Lacans Theorie, wie schon in anderen Büchern, vertieft und angewendet. Nach Lacan, der 1981 starb, leben wir seit den 70er Jahren in der Postmoderne, in der es, nach der 68er Studentenrevolte und ihrer “sexuellen Befreiung“ im Westen, kaum mehr Unterdrückung gebe. In Lacans Denken ist das (sexuelle) Begehren jedoch essentiell als Reaktanz auf die Unterdrückung angewiesen. Aus seiner Sicht begann daher mit dem Verschwinden der Unterdrückung auch das ‚Endspiel‘ des Begehrens. Das Begehren, der Eros, befinde sich sozusagen in einer profunden Agonie, die schwere psychische Folgen zeitige. Diese lassen sich an der enormen Zunahme, ja der Epidemie von Burnouts und Depressionserkrankungen seit dieser Zeit ablesen.

Žižek geht es im Folgenden darum aufzuzeigen, dass die Mehrlust, durch ihre Tücken und Paradoxien hindurch, auch gravierende repressive Konsequenzen birgt. Einen ersten Eindruck dieser Paradoxie vermittelt Žižek am Verhalten Lacans bei dessen öffentlichen oder privaten Diners, nicht nur im Kreis seiner Student:innen. Für ihn sei es bei solchen Anlässen völlig normal gewesen, lustvoll laut zu furzen, – ohne dass er darauf angesprochen wurde. Erschien Lacan das Gericht von Gästen als schmackhafter als das von ihm bestellte, tauschte er die Teller ungefragt aus, – ohne dass die Betroffenen sich wehrten. Auf diese Szenen folgend, lotet Žižek detailreich aus, warum wir uns nicht wehren, was wir von solcher Unterdrückung haben und mehr noch, „warum wir unsere Unterdrückung genießen.“ Er führt an Beispielen aus der Literatur, Musik und Filmen (Vikings, Solaris, Katla, Rammstein, Schostakowitsch) aus, warum vor allem das Genießen der Unterdrückung mit der Erwartung der Mehrlust des Begehrens verbunden ist, und wie diese am lacanschen Theorem vom großen Anderen andockt.

Plastisch wird dies anhand des ersten Finales von Bert Brechts „Dreigroschenoper“ veranschaulicht. In ihm wünscht sich Polly einen Mann, den sie wirklich lieben kann. Auch wenn Vater Peachum ihr mit der Bibel in der Hand Recht gibt, kommt unerwartet die Wende: „Das Recht des Menschen ist‘s auf dieser Erden, da er doch nur kurz lebt, glücklich zu sein, teilhaftig aller Lust der Welt zu werden, zum Essen Brot zu kriegen und nicht einen Stein. Das ist des Menschen nacktes Recht auf Erden, doch leider hat man bisher nie vernommen, dass etwas recht war und dann war’s auch so! Wer hätte nicht gern einmal Recht bekommen? Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so… Wir wären gut anstatt so roh. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.“

Žižek merkt an, dass dieser Text sich nur mit Weills raffinierter Musik deuten lässt. Die erste Hälfte mutet an wie eine getragene, langweilige religiöse Predigt. Die zweite jedoch weist eine fröhlich zynische, quirlige Intonation auf: „Die offensichtliche Freude, mit der das Unerfreuliche (die traurige Botschaft) überbracht wird, ist die Mehrlust in ihrer reinsten Form.“ Die letzten zwei Sätze nehmen gar einen ekstatischen Ton an. Žižek beobachtet parallel dazu, dass auch bei den Linken oft auf „die Verhältnisse“ verwiesen wird, die sie allein nicht ändern können. Er macht darin eine ähnlich heuchlerische Jouissance aus, dass man, um gegen sie zu kämpfen, selbst auch roh sein dürfe, dass man also das Rohsein gewissermaßen ausschweifend genieße.

Diesem zynischen Genießen geht Žižek noch weiter auf den Grund. Dass wir durch unsere Entfremdung hindurch genießen, bedeute, dass unser Genießen durch den großen Anderen vermittelt sei. Genauer gesagt: das für uns unzugängliche Genießen des Anderen, z.B. das dem Mann unzugängliche Genießen der Frau oder das imaginierte Genießen einer fremden Ethnie, wird projektiv sadomasochistisch verstärkt.

So gehe es auch bei der von Donald Trump bis heute aufrechterhaltenen Lüge „Stop the Steal“, mit der er seine Fans aufs Kapitol hetzte, nur oberflächlich um den vermeintlichen Klau der Wahl. Unbewusst skandierten sie vielmehr: „Stoppt den verrückten Genußklau, now!“ Im karnevalesken Charakter des Kapitolsturms plus dazugehörigem Schamanen agieren Trumps Fans eigentlich das Zurückerobern derjenigen Jouissance aus, die sie bei anderen ethnischen wie Gender-Gruppen (PoC, Mexikanern, Arabern, LGBTQ-Personen etc.) wirken wähnen. In Anlehnung an die slowenische Philosophin Alenka Zupancic weist Žižek darauf hin, dass es sich hierbei weniger um ein individuelles persönliches Genießen handelt, sondern – ähnlich einem unpersönlichen Gottesglauben – um ein unpersönliches Genießen durch das „Subjekt einer Gestalt des großen Anderen.“ Dieses unpersönliche Genießen definiere als eine Art monströser Befangenheit die Perversion. So ist auch nach Lacan der Perverse derjenige, der sich als Werkzeug des Genießens des Anderen begreift. Dass wir angeblich oft wegsehen oder den Blick abwenden, wenn Marginalisierte geopfert werden, zeigt nach Lacan, „dass wir im Objekt unserer Begierden die Bestätigung dafür suchen, dass ein Begehren jenes Anderen, den ich hier Deus obscurus nennen will, präsent ist.“ Der monströse Bann oder die Befangenheit, in der ein Perverser handele, spiegele wider, was er für das Genießen seines Abgotts tut. Der Perverse sei daher kein fieser Kretin, der es genieße, seine Opfer zu quälen, sondern „ein kalter Profi, der seine Pflicht auf unpersönliche Weise um der Pflicht willen tut.“

Nach der Erklärung solchen Genießens vertritt Žižek eine weitere gewagte These, die seine bisherige stützen soll. Nach Hannah Arendt basiere die Verwandlung eines „gewöhnlichen Sadisten zu einem richtigen Perversen“ auf einer bewussten, absichtlichen Reorganisation wie in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, als nämlich die SS die Lagerverwaltung von der SA übernahm.

„Hinter der blinden Vertiertheit jener SA-Leute war oft deutlich ein überwältigender Haß des Ressentiments zu spüren gegen alle sozial oder geistig oder körperlich besser Weggekommenen, die man nun, als Erfüllung unmöglich geglaubter Wunschträume, in seiner Macht hatte. Es ist bezeichnend, dass dieses Ressentiment, von dem auch noch später in den Konzentrationslagern einiges zu spüren war, auf uns wie ein letzter Rest menschlich verstehbaren Verhaltens wirkt. Das eigentlich Grauenhafte der Lager jedoch ist, dass diese spontane Vertiertheit in den deutschen Lagern mehr und mehr zurücktrat, nachdem die SS ihre Verwaltung übernommen hatte, und von einer absolut kalten, absolut berechnenden und systematischen Zerstörung der menschlichen Körper zum Zwecke der Zerstörung der menschlichen Würde abgelöst wurde, die sich genug in der Gewalt hatte, den Tod zu verhindern oder auf unabsehbar lange Zeit hinauszuschieben. Die Lager waren jetzt nicht mehr der Tummel- und Vergnügungsplatz von Bestien in Menschengestalt, das heißt von Menschen, die eigentlich in Schwachsinnigenheime, Irrenanstalten und Gefängnisse gehörten, sondern umgekehrt: sie wurden zu den Exerzierplätzen, auf denen vollkommen normale Menschen zu vollgültigen Mitgliedern der SS erzogen wurden.“ (Arendt)

Als Beispiel führt Žižek Adolf Eichmann an, der sich immer auf den Befehlsnotstand berufen hatte, der Befehlen angeblich nur gehorchte, um seine Pflicht als Bürokrat zu tun. Er wollte keinerlei persönlichen Genuss verspürt haben, als er die Shoa ins Werk setzte, obwohl ihm irgendwie klar war, dass er dieses Grauen maßgeblich mitorganisierte. Doch Žižek insistiert darauf, dass genau diese Pflicht Teil seines Genießens war, es war sogar „das, was seinem Genießen ein Mehr hinzufügte – er genoss, aber er genoss auf eine rein interpassive Weise durch den Anderen, den dunklen Gott, den de Sade als das höchste Wesen an Bösartigkeit bezeichnet (l’être suprême en méchanceté).“

Žižek versteht sein Werk durchaus als kritische Reflexionsform, so jedenfalls lassen sich Teile seines Buches lesen. Doch die Frage sei erlaubt, ob er nicht im Hauptteil mit Theoremen arbeitet, die denen ultrakonservativer, reaktionärer, theologischer und sogar faschistischer Provenienz ähneln. Denn Hitler und die NSdAP wollten dem „deutschen Volk“ sowohl ihren Willen als auch den unbedingten Gehorsam aufzwingen. Aber hat sich dieses Volk nicht freiwillig ekstatisch seinem „obskuren Gott“ unterworfen? Und hat es die Unterwerfung nicht ultimativ genossen? Mit Lacan formuliert: Hat das Volk nicht alles für die Jouissance des Führers getan, mehr noch, „sich als Werkzeug des Genießens des großen Anderen begriffen?“ Wenn aber Žižek solche lacanschen Konstrukte der Jouissance auf den Nationalsozialismus bezieht, – laufen sie nicht auf eine Exkulpierung der je individuellen Schuld hinaus? Und hatte nicht schon Adolf Hitler in „Mein Kampf“ fabuliert, dass man das Volk als passive Masse, als Frau, begreifen solle, die es genießt, unterworfen zu werden? Jeder mag selbst entscheiden, ob diese Argumentationsmuster einander „verwandt“ sind.

Im letzten Teil des Buches wendet sich Žižek der „subjektiven Destitution“ zu, einem weiteren lacanschen Theorem. Diese sieht er etwa im Selbstopfer der Brechtschen „Maßnahme“ wie auch in der Begeisterung jeglicher revolutionärer Bewegung am Werke. Die freiwillige Zustimmung zur eigenen Opferung unter die Ideologie der kommunistischen Partei beziehungsweise ihren Richterspruch sei zudem die Methode der Wahl, um dem korrumpierten Genießen, wie es in der „Dreigroschenoper“ vorgeführt wird, zu entkommen. Man bleibt öfter sprach- und ratlos bei Žižeks Interpretationen; denn es bleibt offen, ob er diesen Deutungen nicht auch zustimmt.

In der subjektiven Destitution, so Žižek, sei „das Subjekt radikal gespalten in eine reine Leere und das Objekt, das es ist.“ Auf diese Weise würden wir „die Sterblichkeit überwinden und erlangen den Zustand des Untoten: kein Leben nach dem Tod, sondern Tod im Leben, keine Aufhebung der Entfremdung, sondern extreme, selbstabschaffende Entfremdung – wir geben den Maßstab auf, an dem wir Entfremdung messen.“ Diese Auflösung sieht er auch in den Nirwana-Religionen, den Mystikern und letztlich in den Bewegungen des religiösen Fundamentalismus wie den Taliban am Werk. Sie immunisiere gegen Vernunftgründe und mache ihre Vertreter unerreichbar, zudem unangreifbar.

Da der westliche Universalismus nach Žižek an einem passiven Nihilismus leide, evoziere er religiöse Fundamentalismen als Reaktanz. Ihnen gelte es, mit einem aktiven Nihilismus a là Nietzsche zu begegnen, d.h. mit einem Ausbruch wahrer selbstzerstörerischer Negativität, den Žižek anhand distinguierter Produkte der Popkultur wie auch an dem Film und der Figur des „Jokers“ erklärt. Der Joker ist eine vollkommen vereinsamte Figur, die dem Missbrauch und der Vernachlässigung durch seine psychisch kranke Mutter ausgesetzt war, die ihrerseits, vielen Alleinerziehenden gleich, unter Vereinsamung litt. Die kritische Perspektive des Films besteht nun darin, dass er die kapitalistische Gesellschaft und ihre Medien als Verursacher dieser Misere im Denken und Handeln des Jokers ins Visier nimmt. Zwar kreist die psychische Labilität des Jokers immer um die subjektive Destitution; aber zugleich wendet sich diese abgründige Leere im Subjekt gegen die sie verursachende Gesellschaft. Am Ende des Films wird Joker in eine Talkshow eingeladen, in der Murray, der Talkmaster, im üblichen TrashTV-Stil beginnt, über die Verrücktheit des Psycho-Jokers herzuziehen. Doch am Schluss des Gesprächs greift der Joker Murray zunächst verbal an: ob er überhaupt wisse, wie die Welt außerhalb seines TV-Studios aussehe? Er prangert die enorme Spaltung, Vereinzelung und Atomisierung der US-Gesellschaft an. Das Gespräch eskaliert, bis der Joker Murray vor laufender Kamera erschießt.

Die Zuschauer aber sympathisieren mit dem Joker. Gleichzeitig ist man entsetzt über die Gewalt, die einerseits durch die Talkshows, andererseits durch die Eskalation der Gewalt in der Talkshow ausgeübt wird. „Joker“ ist einer der wenigen Filme, denen es gelingt, dass man sich als Zuschauer zugleich als Voyeur entlarvt fühlt.

Dieses letzte Kapitel in Žižeks Buch hätte mit seinen gekonnten Schattierungen der verschiedenen Nihilismen in den westlichen Gesellschaften hindurch mit dem ersten Teil durchaus eine aktuelle und kreative Zeit- und Gesellschaftskritik bieten können. Da der Autor jedoch zu stark von sich überzeugt, teils sogar unangenehm von sich selbst berauscht ist, gewinnt man den Eindruck, dass sie ihm vor allem selbst als Dope dienen.

Liverpool – Racism kills

Layal Liverpool

Racism kills. Wie systematischer Rassismus der Gesundheit schadet und was wir dagegen tun können

aus dem Englischen von Regina M. Schneider

br., 461 Seiten, 24,70 €, Berlin 2024 (Aufbau-Verlag)

von Marianne Rosenfelder

Ohne die großen Herren der Philosophie beim Namen zu nennen, – aber sie sind nicht unschuldig, wenn das genus proximum von Personen substituiert und bewertet wird durch so triviale differentiae specificae wie Hautfarbe oder Haartextur. Der Begriff der Rasse – auf Menschen angewandt – wurde schon vor etlichen Jahrzehnten wissenschaftlich widerlegt. Doch scheint dies seiner verhängnisvollen Nachhaltigkeit keinen Abbruch zu tun.

Die Ärztin und Wissenschaftsjournalistin Layal Liverpool geht der longue durée des Begriffs auf dem Gebiet der Medizin nach und dokumentiert und kritisiert den hohen „gesundheitlichen Tribut“, den „Rassismus und Diskriminierung fordern“ (15). Ihr Buch basiert auf wissenschaftlichen Studien, Statistiken, historischen Rekursen zu Anthropologie und Medizin sowie auf Fallstudien und Interviews mit Medizinern, Forschern und betroffenen BIPoC (Black Indigenous People of Colour), die ihre Erfahrungen mit Rassismus im Gesundheitssystem einbringen. Zudem reflektiert die Autorin ihre Familiengeschichte und ihre eigenen Erfahrungen als PoC (Person of Colour) sowie die Variabilität ethnischer Identität durch Selbst- und Fremdzuschreibung.

Liverpool liefert statistisch valide Nachweise, dass die durch Stereotype bedingten Verzerrungen im Gesundheitssystem auf der Überzeugung beruhen, „Rasse“ sei ein biologisches Merkmal. Doch race ist ein soziales Konstrukt mit Rassismus im Gefolge. Die Kategorie der „Rasse“ ist genetisch irrelevant. Vielmehr ist „die generische Variation einzelner Individuen innerhalb einer menschlichen Population aus dem selben demographischen Großraum größer … als zwischen denen einzelner Populationen“ (19 f.). Als schwarz gelesene Menschen sind untereinander nicht enger verwandt als Afrikaner:innen mit Europäer:innen (23). Trotz wissenschaftlicher Evidenz dieses Sachverhalts werden gesundheitliche Disparitäten weiterhin biologistisch, ergo deterministisch, begründet, ohne Rassismus als ihre eigentliche Ursache zu benennen. Zudem ist die Forschung auf weiße Patienten fokussiert und defizitär gegenüber BIPoC.

Prinzipiell birgt jede Art der Diskriminierung – sei es aufgrund von Rasse, Klasse, Geschlechtsidentität oder Behinderung sowie einer Verschränkung dieser Kriterien – ein medizinisches Risiko. Gesellschaftliche und gesundheitliche Benachteiligung bedingen einander. Wie Statistiken zu Corona belegen, sind ausgrenzende Gesellschaften anfälliger für infektiöse Krankheiten. Dass Rasse eine historisch bedingte soziale Kategorie ist, zeigen die Apartheitsgesetze in Südafrika oder die Jim-Crow-Gesetze in den USA. Dennoch hat, wie die Autorin belegt, die Willkür und Absurdität rassistischer Kategorisierungen die Wissenschaft der Medizin bis dato fest im Griff – und dies mit drastischen Konsequenzen für die öffentliche Gesundheit und für die betroffenen Patienten, deren medizinische Daten, automatisiert durch Algorithmen, ärztliches Handeln beeinflussen.

Das effektivste Antidot gegen Rassismus in der Medizin wäre Aufklärung, denn die Folgen von Rasse als biologische Kategorie sind fatal. Etliche Absurditäten der racial bias sollten daher nicht unerwähnt bleiben. Allen voran die Mär von der kräftigeren Haut und der Schmerzresistenz von BIPoC, mittels derer sich Sklavenhalter und Kolonisten von Schuld für ihre Grausamkeiten entlasteten. Dieses bis dato virulente Klischee führt zu einer Bagatellisierung von Krankheitssymptomen von PoC.

In der Psychotherapie und Psychiatrie werden rassistische Demütigungen meist gar nicht erst thematisiert. Ärzte fokussieren bei PoC auf Psychosen, Zwangseinweisungen inklusive. Im 19. Jahrhundert wurde die Flucht aus der Sklaverei als die psychische Krankheit der „Drapetomanie“ diagnostiziert, noch in den 1960er Jahren wurde der Kampf um Bürgerrechte als „Protest-Psychose“ pathologisiert. Bei Gehirnerschütterungen erfolgt race norming durch kognitive Funktionstests mit im Vergleich zu Weißen niedrigeren Grenzwerten.

In der Spirometrie wurden erst unlängst auf „Rasse“ basierende Parameter verworfen. Dafür ist seit 1999 international ein race norming der Kreatinin-Werte Usus. Ausgehend von dem Stereotyp als schwarz eingestufte Patienten hätten mehr Muskelmasse, wird mittels eines Multiplikators ein höherer Testwert generiert. Um als nierenkrank eingestuft zu werden, müssen Schwarze bereits schwer krank sein. Weitere Ungleichheiten für PoC bestehen bei Krebs, bei kardiovaskulären Erkrankungen und bei Infektionen.

Rassismus ist ein chronischer Stressor. Und Geld nützt bei Rassismus auch nicht viel. Der Schutzeffekt eines hohen sozioökonomischen Status ist für PoC nachweisbar ziemlich gering.

In Teil I dokumentiert Liverpool das global nachweisbare gesundheitliche Gefälle zwischen den ethnischen Gruppierungen innerhalb einzelner Länder. Ihre Analyse erfasst Ungleichheiten gegenüber rassifizierten Gruppen primär in den USA, aber auch in Großbritannien, Kanada, China, Brasilien, Nigeria, Mexiko, Australien sowie im indischen Kastensystem.

In Teil II geht es um die Bedrohung der öffentlichen Gesundheit durch systemischen Rassismus, also die Verweigerung des Zugangs zu „hochwertiger Gesundheitsversorgung“ aus ethnischen Gründen (122f.). Tradierte Armut, Umweltrassismus, Wohngegenden mit hoher Luftverschmutzung sind gesundheitsschädigende Erscheinungsformen von systemischem Rassismus. Hinzu kommt Colourism, also Diskriminierung innerhalb der rassifizierten Gruppe durch internalisierte Farbhierarchien.

Sozialer Alltagsrassismus hat psychische und physische Folgen. Bereits die Antizipation rassistischer Ausgrenzung strapaziert das vegetative Nervensystem. Die Autorin plädiert daher für die Anerkennung von Rassismus als „chronisches Stressmoment und akut traumatisches Erlebnis“ und als durch Sklaverei bedingtes, epigenetisch nachweisbares transgenerationelles Trauma.

In Teil III weist die Autorin nach, dass Rassismus in der Medizin „ethnisch bedingte, gesundheitsbezogene Ungleichheiten weiter verfestigt“, z. B. durch eine rassifizierte Ausbildung, durch einen prozentual geringen Anteil ethnischer Minderheiten in Medizin und Wissenschaft oder durch die Tradierung und Verstetigung rassistischen Gedankenguts (244/5). Liverpool appelliert an die Mediziner, ihren eigenen Rassismus anzuerkennen, den Patienten zuzuhören und zu unterscheiden zwischen Rasse „als Parameter für gesundheitliche Risiko-Scores“ und Rassismus als soziales Konstrukt, das gesundheitliche Ungleichheiten ermöglicht (281).

Der Titel der englischen Ausgabe des Buches lautet Systemic: How Racism is making us ill. Das klingt weniger dramatisch als der deutsche Titel Racism kills. Dafür fokussiert der deutsche Untertitel „… und was wir dagegen tun können“ auf Liverpools in Teil IV dargelegte Vorschläge zur Lösung des Problems medizinischer Ungleichbehandlung gegenüber BIPoC.

Liverpool fordert Datenerhebungen zu ethnischen Disparitäten in Kranken- und Sterberaten, um die racial bias im Gesundheitswesen zu beheben. Da multiethnische Studien nachweisbar zu besseren Therapien führen, könnte auch die weltweite Vielfalt genetischer Varianten die medizinische Forschung voranbringen. Allerdings sollten Medikamente, die mittels der Daten von PoC entwickelt wurden, diesen auch zugute kommen und rassistische Praktiken wie die Tuskegee-Experimente (1943-1972) oder heimliche Probenentnahmen wie im Fall der HeLa-Zellen (1950) geächtet werden. Die Genome indigener Völker seien Bodenschätzen vergleichbar, die es vor neo-kolonialer Ausbeutung und Kommerzialisierung ihrer DNA durch die Wissenschaft und die Pharmaindustrie zu schützen gilt durch Maßnahmen wie Rechte an den Resultaten, finanzielle Beteiligungen oder medizinische Infrastruktur.

Die Autorin hält ethnisch bedingte gesundheitsbezogene Ungleichheiten für ein globales, aber nicht unabwendbares Problem. Als das Buch 2024 herauskam, war diese Einschätzung noch berechtigt. Doch nach den Beschlüssen der US-Abwicklungsverwaltung, insbesondere bezüglich USAID, hat sich bereits jetzt die die Situation verschlechtert.

Besonders in Liverpools Forderung nach Aufhebung der data gaps zeigt sich die Ambivalenz des Begriffs der Rasse, die auch seit 2000 in den Diskussionen um die Streichung des Begriffs aus Artikel 3 des Grundgesetzes zum Ausdruck kam. Der Begriff ist a priori historisch negativ belastet und wissenschaftlich unhaltbar. Es gibt de facto keine Menschenrassen. Doch durch den Tatbestand des Rassismus oder des othering, also als soziale Konstruktion, die mit dem Begriff race (entsprechend der sozialen Konstruktion von gender) umschrieben wird, erhält der Begriff seine Relevanz, indem er die Voraussetzung der Justiziabilität rassistischer Ungleichbehandlung und Diskriminierung bildet. Dies war auch die Begründung für dessen Beibehaltung in Artikel 3 GG.

Die von der New York Times am 7. März 2025 veröffentlichte Liste mit 200 Worten, die die momentane US-Administration von öffentlichen Websites, Curricula und dergleichen zu löschen plant, hat also Methode, und es bleibt zu hoffen, dass diese Methode nicht auch andernorts Schule macht. Neben Begriffen zu Klima, Kultur, Gender, Diversität ist praktisch das gesamte Wortfeld betroffen, von dem das vorliegende Buch handelt. Wie wird man also künftig rassistische und ethnische Ungleichbehandlung einklagen können, wenn folgende Begriffe nicht mehr zur Verfügung stehen?: at risk, bias(ed), BIPOC, disability (pl.), discrimination, disparity, ethnicity, in-equality, equal opportunity, health disparity, inclusion, minority (pl.), Native American, political, pregnant person, prejudice, race, race & ethnicity, racial diversity, r. inequality, r. justice, racism, segregation, stereotype (pl.), systemic, social justice, trauma, traumatic, tribal underprivileged, underrepresented, victim (pl.) und women.

Racism kills ist und bleibt ein Politikum. Als engagierte Autorin steht Liverpool, wie es aussieht, mit ihrem Thema vor neuen großen Herausforderungen.

Ypi – Die Architektonik der Vernunft

Lea Ypi

Die Architektonik der Vernunft. Zweckmäßigkeit und systematische Einheit in Kants „Kritik der reinen Vernunft“

br., 245 Seiten, 22,- €, Berlin 2024 (Suhrkamp-Verlag)

von Bernhard Schindlbeck

„Dieses Buch handelt von der Einheit der Vernunft in der Kritik der reinen Vernunft. Es versucht zu erklären, warum eine solche Einheit notwendig ist, wie Kant die Idee einer solchen Einheit verteidigt und warum das Projekt letztlich scheitert.“ So beginnt Lea Ypi ihre Einleitung, in der schon die Behauptung, dass Kants Projekt scheitere, auf jeden an Kant ernsthaft interessierten Leser wie ein Köder wirken muss. „Das Hauptargument ist“, fährt sie fort, „dass die Einheit der Vernunft in einem transzendentalen Prinzip der Zweckmäßigkeit begründet ist, das unabdingbar für die systematische Integration des theoretischen und praktischen Gebrauchs der Vernunft ist, zugleich aber die für Kants Projekt wesentliche Trennung von Kritik und Metaphysik bedroht.“ (20)

Mit diesem Programm wendet sich Ypi, wie der Buchtitel verrät, dem vorletzten Abschnitt in Kants erster Kritik zu, der „Architektonik der reinen Vernunft“, die Kant in der transzendentalen Methodenlehre nach der „Disziplin“ und dem „Kanon“ und vor der „Geschichte der reinen Vernunft“ platziert. Er sei „einer der dichtesten, rätselhaftesten, ja zuweilen gerade undurchdringlichen Texte in Kants gesamtem veröffentlichten Werk“ (ebd.). Ypis Buch „legt nahe, dass Kants Antwort auf diese Frage an eine bestimmte Darstellung der Vernunft gekoppelt ist, die deren zweckmäßigen Charakter betont. Doch wie die folgenden Seiten zeigen werden, ist das Konzept der Zweckmäßigkeit, das Kant in der ersten Kritik vertritt, ein Konzept der ‚Zweckmäßigkeit als Design‘, das sich von der ‚Zweckmäßigkeit als Normativität‘, das in seinen späteren Werken eine zentrale Rolle spielt, stark unterscheidet. Im ersten Fall, Zweckmäßigkeit als Design, ist die Beziehung zwischen Vernunft und Natur in der Idee Gottes verankert. Im zweiten Fall, Zweckmäßigkeit als Normativität, ist sie im Begriff der reflektierenden Urteilskraft verwurzelt und durch transzendentale Freiheit begründet. Gott bleibt zwar Teil des Systems, spielt aber eine zunehmend marginale Rolle, eine, die nachfolgenden Autoren wie Marx und Hegel den Weg zu einer Geschichtsphilosophie ebnete, die ihn schließlich gänzlich überflüssig werden ließ.“ (22)

Dass das letztere Argument eher schwach ist, erhellt schon daraus, dass die hegelianische und die marxistische Geschichtsteleologie im Grunde selbst nur als dogmatisch fundierte Ersatztheologien fungieren, die ihr jeweiliges Absolutes an ein entweder schon erreichtes oder noch immer erhofftes Ende einer vor-läufigen Zeit setzen. Die Behauptung historischer Notwendigkeiten und „das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte“ (Engels) sind ja auch „nur“ Metaphysik – und, solange sie ihren eigenen dogmatischen Charakter nicht reflektiert, eine schlechte obendrein.

Gott bleibt in allen drei Kritiken (in unterschiedlicher Weise) prominent. In der Postulatenlehre der Kritik der praktischen Vernunft markiert er die (als notwendig zu denkende) Funktionsstelle der Vergabe einer nach Tugend „proportionierten Glückseligkeit“ (AA 124), die ja an Aktualität bis heute nichts verloren hat. Wenn die weltliche Gerechtigkeit nicht gewillt ist, die superreichen Steuerhinterzieher, deren politisches Personal, die Kriegstreiber und Menschenrechtsverletzer aller Art zu bestrafen, wer dann? Außerdem wird Gott durch die reflektierende Urteilskraft keineswegs marginalisiert. Die letzten Paragraphen (87 bis 91) der Kritik der Urteilskraft , die sich an einem moralischen Gottesbeweis abarbeiten, widerlegen Ypis Behauptung von einer „zunehmend marginale[n] Rolle“. Wenn es schließlich im Opus postumum heißt „est Deus in nobis“ (XXII, 130), was manche Kant-Kenner, z.B. Eckart Förster, als Preisgabe des klassischen Theismus lesen, dann bedeutet das, dass man Kants Gottesbegriff möglicherweise ganz neu verstehen muss, statt ihn einfach als obsolet abzutun.

In sieben zwischen der Einleitung und einem Fazit angeordneten Kapiteln werden vor dem Hintergrund einer immensen Kenntnis der Sekundärliteratur und Kant-Exegese, deren größter Teil mit wenigen Ausnahmen (z.B. Henrich, mit seiner längst kanonisch gewordenen Erklärung des Begriffs der „Deduktion“ bei Kant) aus der analytischen Philosophie kommt, Schritt für Schritt die relevanten und problematischen Fragen zur Einheit der Aufgaben, Leistungen, Bedürfnisse, Interessen, Zwecke der Vernunft (sowie der anderen Vermögen wie Verstand und Urteilskraft) entfaltet, wobei in den letzten drei Kapiteln („Die Deduktion der transzendentalen Ideen“, „Die Rolle der Ideen aus praktischer Perspektive“ und „Das Reich der Zwecke“) die in der Einleitung vorgelegten Thesen ihre ausführliche Begründung erhalten. Als einer der wichtigsten Aspekte kristallisieren sich die Darstellungs- und Begründungsunterschiede zwischen der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft heraus. Schon in der Einleitung aber expliziert Ypi genauer, worum es ihr geht: „Mein Argument ist, dass in der Kritik der reinen Vernunft zwar die Einheit der Vernunft durch die zweckmäßige Funktion der Ideen der Vernunft erreicht wird, das Projekt aber gleichwohl letztlich daran scheitert, Kants eigenen kritischen Standards gerecht zu werden. Es scheitert, wie ich zu zeigen hoffe, weil die praktische Vernunft in der ersten Kritik kein eigenes Gebiet für ihre Gesetzgebung und keine notwendige Verbindung zur transzendentalen Freiheit hat: Dies ist etwas, das erstmals in der Grundlegung auftaucht, in der Kritik der praktischen Vernunft weiterentwickelt wird und Kants Analyse der Zweckmäßigkeit in der Kritik der Urteilskraft prägt. Es scheitert auch daran, dass Kant in Ermangelung dieser Verbindung das Prinzip der Zweckmäßigkeit weiterhin mit der Idee des ‚intelligenten Designs‘ statt mit der besonderen praktischen Normativität der Vernunft verbindet.“ (33)

Zweifelhaft ist, ob die Kritik der praktischen Vernunft wirklich eine „Weiterentwicklung“ der Grundlegung ist und nicht eher ein Neuansatz, zumal Kant in letzterer noch eine „Deduktion des kategorischen Imperativs“ versucht, was er in ersterer als unmöglich aufgibt und durch das „Faktum der Vernunft“ ersetzt, welches „an die Stelle dieser vergeblich gesuchten Deduction des moralischen Prinzips“ tritt (KpV, 47).

Am Ende der Einleitung wird weiter erklärt: „Ich schließe das Buch mit der These, dass der Preis, der für die architektonische Einheit der ursprünglich getrennten Systeme von Natur und Freiheit zu zahlen ist, eine transzendentale Theologie ist, die die Vernunft implizit zu metaphysischen Annahmen über die Ordnung der Natur verpflichtet, die ihr kritischer Teil ausdrücklich ausgeschlossen hat.“ (39)

Die These, eine „transzendentale Theologie“ verpflichte die Vernunft zu metaphysischen Annahmen über die Ordnung der Natur, ist schon sehr merkwürdig. Denn Gott (und daneben die Unsterblichkeit der Seele) sind eben nur Postulate und keine Theologie. Hat der „kritische Teil“ die Postulate wirklich „ausgeschlossen“, nur weil er Gottesbeweise als unmöglich erwiesen hat? Auch dass „Kant die Verteidigung der Physikotheologie zurückzog und sie in der Kritik der Urteilskraft in eine ethische Theologie umwandelte“ (39), ist eine seltsam überzogene Behauptung. Von einer „ethischen Theologie“ zu sprechen, ist schon angesichts der Tatsache, dass Kant in seiner Religionsschrift die Religion für die philosophische Ethik als bloß unterstützende pädagogische Hilfskraft in den Dienst nimmt, eine starke Verzerrung. Der Kant schon so oft gemachte Vorwurf einer Re-Theologisierung ist also auch hier verfehlt.

Die Annahme, dass Natur und Freiheit ursprünglich getrennte Systeme seien, ist nicht minder falsch, denn in uns Menschen selbst, die wir gleichzeitig Natur- und Freiheitswesen sind, sind sie a priori integriert. Wir können nur sinnvoll handeln, weil die Natur eine durchgehend kausal determinierte ist; wir müssen uns auf die Naturgesetzlichkeit verlassen können, um überhaupt Zwecke setzen und realisieren zu können. Und dennoch sind wir frei, können (qua Orientierung am kategorischen Imperativ) autonom handeln. Natur und Freiheit sind also keine „getrennten Systeme“, für deren architektonische Einheit ein Preis zu zahlen wäre.

Die Bedeutung der systematischen Einheit der Vernunft und damit der transzendentalen Ideen in der Vermittlung von Natur und Freiheit ist so unbestritten wie die Rolle der Zweckmäßigkeit als transzendentales Prinzip. In der Kritik der Urteilskraft, so Ypi, sei der Begriff der Zweckmäßigkeit anders als in der Kritik der reinen Vernunft „ein Begriff der Zweckmäßigkeit als Normativität“ (149). Diese sei in „Analogie zu unserem praktischen Vernunftgebrauch“ zu sehen: „Objekte in diesem Sinne als zweckmäßig zu beurteilen, ist gleichbedeutend damit, zu fragen, wie diese Objekte wären, wenn sie eine bestimmte Anzahl normativer Eigenschaften aufwiesen – oder zu fragen, wie ein Objekt sein sollte, wenn praktisch vernünftige Menschen für seine Planung zuständig wären“ (150). Zweckmäßigkeit in diesem Sinne habe nichts mit der in der Kritik der reinen Vernunft verwendeten „Zweckmäßigkeit als Design“ zu tun. Diese betrachte die „Ordnung der Natur und die Ordnung der Zwecke“ als „in einem zweckmäßigen System verbunden, das die Begriffe der Natur und der Freiheit in Bezug auf die Idee Gottes integriert“ (214). In Ypis Interpretation ist Gott der „Designer“, der in der Kritik der reinen Vernunft (im Unterschied zu den folgenden Kritiken) für den Begriff der Zweckmäßigkeit sorgt und verantwortlich ist – und der dafür nicht auf praktische Vernunft und Freiheit zurückgreifen muss. Zweckmäßigkeit als essentiell-integrales Element in der Architektonik (Einheit und Systematik) der Vernunft komme in der ersten Kritik also nicht ohne Gott aus, und darin sieht Ypi einen metaphysischen Rückfall hinter deren eigentlichen kritischen Anspruch, d.h. das Scheitern Kants. Jedoch ist die Unterscheidung zweier Zweckmäßigkeitsbegriffe künstlich; Kant muss sie nicht machen, denn die Antwort auf die Frage, wie ein Objekt wäre (oder sein sollte), wenn praktisch vernünftige Menschen für seine Planung zuständig wären, kann nur so ausfallen: Es wäre exakt so, wie es auch ein göttlicher Designer planen würde („est Deus in nobis“).

Dass der Preis für die architektonische Einheit ein Rückfall in eine transzendentale Theologie sei, die metaphysische Annahmen über die Natur beinhalte, die der kritische Teil dezidiert ausschließe, ist Ypis zentrale These, die auch erkläre, „warum die transzendentale Freiheit zum Hauptthema der Kritik der praktischen Vernunft wurde“, und warum Kant die Verteidigung der Physikotheologie in eine „ethische Theologie“ in der Urteilskraft „umwandelte“ (39). Abgesehen davon, dass von „ethischer Theologie“, wie gesagt, keine Rede sein kann, widerspricht zum Beispiel eine Passage in dem der „Architektonik“ vorhergehenden „Kanon der reinen Vernunft“, in der reine Vernunft, Moralität und zweckmäßige Einheit der Natur miteinander verbunden werden, dieser Darstellung deutlich: „Was können wir für einen Gebrauch von unserem Verstande machen, selbst in Ansehung der Erfahrung, wenn wir uns nicht Zwecke vorsetzen? Die höchsten Zwecke aber sind die der Moralität, und diese kann uns nur reine Vernunft zu erkennen geben. Mit diesen nun versehen, und an dem Leitfaden derselben, können wir von der Kenntnis der Natur selbst keinen zweckmäßigen Gebrauch in Ansehung der Erkenntnis machen, wo die Natur nicht selbst zweckmäßige Einheit hingelegt hat; denn ohne diese hätten wir sogar selbst keine Vernunft … Jene zweckmäßige Einheit ist aber notwendig und in dem Wesen der Willkür selbst gegründet, diese also, welche die Bedingung der Anwendung derselben in concreto enthält, muß es auch sein, und so würde die transzendentale Steigerung unserer Vernunfterkenntnis nicht die Ursache, sondern bloß die Wirkung von der praktischen Zweckmäßigkeit sein, die uns die reine Vernunft auferlegt“ (B 844 f.). Ein göttlicher Designer ist hier offensichtlich nicht erforderlich. Menschliche Praxis allein präsupponiert die zweckmäßige Einheit der Natur, ohne welche aussichtsreiche Zwecksetzungen gar nicht möglich wären.

Wenn man Zweckmäßigkeit in „normativer“ Perspektive betrachtet, genügt es also nicht zu fragen, „wie diese Objekte wären, wenn sie eine bestimmte Anzahl normativer Eigenschaften aufwiesen – oder zu fragen, wie ein Objekt sein sollte, wenn praktisch vernünftige Menschen für seine Planung zuständig wären.“ Man muss dann konsequenterweise auch danach fragen, wie die Verhältnisse und Zusammenhänge aller Objekte aussähen, wenn praktisch vernünftige – und d.h. nicht nur hypothetischen Imperativen (Klugheitsregeln) folgende, sondern sittlich handeln wollende – Menschen für die Planung dieser Zusammenhänge zuständig wären. Womit sich sofort (abermals im Konjunktiv) die Frage auftut, ob es dann überhaupt einen Unterschied zwischen der von einem göttlichen Designer entworfenen und der von praktischer Vernunft entworfenen Zweckmäßigkeit gäbe. Ein Grund für einen solchen Unterschied ist nicht sichtbar. Damit wird auch deutlich, dass –

anders als Ypi suggeriert – die praktische Vernunft gar kein „eigenes Gebiet für ihre Gesetzgebung“ (33) braucht.

Es fällt auf, dass das Sittengesetz (der kategorische Imperativ) in Ypis Buch kaum eine Rolle spielt, was möglicherweise mit ihrem eigenen, im empiristisch-naturalistischen Denken der analytischen Philosophie wurzelnden Verständnis von Freiheit (freedom of agency, Handlungsfreiheit) und einem daraus resultierenden gewissen Unverständnis für den kantischen Begriff zu tun hat. Im „Praktische und transzendentale Freiheit“ überschriebenen Abschnitt des 6. Kapitels schreibt sie: „Kant scheint davon auszugehen, dass die menschliche Vernunft nur durch die Freiheit zum Bestimmungsgrund für praktisches Handeln werden kann. Aber welche Art von Freiheit? Wie verhält sich die Freiheit zum zweckmäßigen Charakter der Vernunft?“ (185) Ganz nebenbei: Ernst Cassirer würde sagen, dass hier „zweckmäßig“ mit „zweckhaft“ verwechselt wird.

Dass es verschiedene Arten von Freiheit (die praktische und die transzendentale) gebe, ist in Kants Kritiken gar nicht möglich. In der ersten wird Freiheit als nicht widerlegbare Möglichkeit in einer durchgängig kausal determinierten Natur aufgewiesen, wobei „auf diese transzendentale Idee der Freiheit sich der praktische Begriff derselben“ gründet. (B 561) In der zweiten Kritik wird mit dem kategorischen Imperativ der praktische Begriff der Freiheit (Willensfreiheit) als Autonomie dargestellt und entfaltet. Nur wenn man Willensfreiheit gegen empirisch verstandene, d.h. bedingte Handlungsfreiheit setzt, gibt es Arten von Freiheit. Kant aber kennt nur eine Art von Freiheit, die sich als (eben unbedingte) Autonomie erweist. Heteronomie ist eben nicht Freiheit. „Die Freiheit im praktischen Verstande ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“ (B 562). – Eine Kant-Kritik könnte, wenn man von Arten der Freiheit spricht, am ehesten am Freiheitsbegriff der Metaphysik der Sitten ansetzen, wo Kant zu einem Begriff der Willkürfreiheit übergeht und diesen (man muss sagen: zweifelhafterweise) für in der Ethik begründet hält. Er nähert sich in seiner Rechts- und Tugendlehre also einem liberalistischen Freiheitsbegriff an, der eben nichts mit Sittlichkeit als Autonomie zu tun hat. Aber diese mögliche immanente Kant-Kritik kommt bei Ypi nicht vor. Sie trägt in ihrer Interpretation ihren eigenen liberalistischen Freiheitsbegriff in Kants Denken hinein und findet dann Probleme, die es in Kants kritischem Werk gar nicht gibt.

Es stimmt also nicht, wenn sie behauptet: „Kant ist es wichtig, zwischen der Realität praktischer und transzendentaler Freiheit zu unterscheiden, denn ohne diese Unterscheidung müsste er erklären, wie eine übersinnliche Ursache (die nur prinzipiell möglich oder als nichtwidersprüchlich anerkannt wird) empirische Phänomene begründen kann. Dies wird in der ersten Kritik jedoch ausdrücklich ausgeschlossen“ (185). Es geht bei Kant nicht um „übersinnliche“ Ursachen, wenn er in der dritten Antinomie von „Kausalität aus Freiheit“ spricht. Autonomie (Willensfreiheit) muss keine empirischen Phänomene „begründen“. Hier wird einmal mehr Ypis empiristischer Approach deutlich, mit dem man Kausalität aus Freiheit (die dann als „übersinnlich“ diskreditiert wird) und Autonomie natürlich nicht verstehen kann.

Auch eine andere exemplarische Stelle (aus dem zweiten Abschnitt des Kanons) zeigt, wie man mit dem empiristisch-analytischen Zugang zu einer Fehlinterpretation gelangt. Ypi schreibt: „Kant scheint unter moralischer Erfahrung ‚Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gemäß in der Geschichte des Menschen anzutreffen sein könnten‘ zu verstehen. Die menschliche Geschichte ist die Dimension der Erfahrung, in der die praktischen Ideen gesetzgebend sind: ‚Da sie gebietet, daß solche geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können.‘ Wie trägt dieses Verständnis von Erfahrung zur Vollendung der kritischen Aufgabe bei?“ (183)

Dass die Geschichte als Dimension der Erfahrung gebiete, was geschehen soll, ist eher eine hegelianisch-marxistisch inspirierte Interpretation, die durch eine Verkürzung der zitierten Passage zustande kommt, die als ganze gelesen ein völlig anderes Argument liefert: „Die reine Vernunft enthält also, zwar nicht in ihrem spekulativen, aber doch in einem gewissen praktischen, nämlich dem moralischen Gebrauche, Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung, nämlich solcher Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gemäß in der Geschichte des Menschen anzutreffen sein könnten. Denn da sie gebietet, daß solche geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können, und es muß also eine besondere Art von systematischer Einheit, nämlich die moralische möglich sein, …“ (B 835). Das Pronomen „sie“ (in „da sie gebietet“) bezieht sich also, anders als Ypi interpretiert, auf „die reine Vernunft“ und nicht auf die „Geschichte“.

Noch deutlicher zeigt sich Ypis empiristischer Zugang zu Kants Kritiken, wenn sie über das „Reich der Zwecke“ schreibt: „Moralische Zwecke werden in einer Welt gesetzt, die sowohl von moralischen Normen als auch von Naturgesetzen beherrscht wird. Das Mitglied des Reichs der Zwecke ist daher faktisch kein Souverän: Der Erfolg seines moralischen Handelns hängt nicht nur davon ab, was es tut, sondern auch von den Handlungen anderer Menschen, von den empirischen Kontingenzen und Beschränkungen, auf die es stößt. Daher ist es prinzipiell denkbar, dass die Welt mit dem moralischen Gebrauch der Vernunft nicht vereinbar ist oder ihn gar behindert“ (202 f.). Abgesehen davon, dass nur Handlungen als solche Erfolg haben, aber der Erfolg der Moralität einer Handlung empirisch gar nicht erkennbar wäre, geht Behauptung, dass die empirische Realität moralischem Handeln im Weg stehen kann, ins Leere. Denn nur weil die Realität so ist, wie sie ist, genau deshalb sind wir moralisch gefordert. Aber sie steht deshalb der Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und Zivilcourage nicht im Weg. Moralisch handeln heißt eben oft: sich gegen die Realität stellen.

Ganz ähnlich führt die empiristische Kant-Interpretation in die Irre, wo es um das Verhältnis „der Ordnung der Natur und der Ordnung der Zwecke“ geht, um die „Verbindung zwischen systematischer moralischer Einheit und der systematischen Einheit der Natur.“ Denn, so Ypi: „Ohne die systematische Integration des Reichs der Natur und des Reichs der Zwecke zu erklären, können wir auch nicht erklären, wie moralische Normen für Menschen bindend sein können, deren moralische Motive stets mit nichtmoralischen vermischt sind“ (201 f.). Dergleichen ist nur für empiristische Moralphilosophen ein Problem, nicht für Kant. Dass wir aus Neigungen (Präferenzen, Interessen etc.) handeln, die in das Reich der Natur gehören, ist klar. Aber ebenso klar ist, dass wir nicht die Sklaven unserer Neigungen sein müssen, sondern uns (aus moralischen Motiven) über sie hinwegsetzen können. Einer „systematischen Integration“ beider Reiche bedarf es nicht, um Normativität und deren Verbindlichkeit zu erklären. Wie oben erwähnt, sind Natur und Freiheit immer schon ineinander verschränkt.

Vermutlich steckt hinter Ypis Problemkonstruktion noch immer das sich seit Schiller bis heute durchziehende Missverständnis von der angeblichen Lustfeindlichkeit Kants und seiner Verachtung von Neigungen, das auf der falsch verstandenen Feststellung beruht, dass letztere als bloße (subjektiv kontingente) Gegebenheiten keinen moralischen Wert haben. Daran, dass wir auch Neigungen (eine Triebstruktur) haben, ist für Kant nichts falsch. Man muss sie nur richtig einordnen.

Wenn Kant die Differenz von Sinnlichkeit (Natur) und Sittlichkeit (Freiheit) betont, dann dramatisiert Ypi diese Differenz unnötig, um auch die Integration beider in der ersten Kritik als ein Drama, als scheiternd und als erst in der Kritik der Urteilskraft gelungen darstellen zu können. Aber allein unser Handeln, das auf Zwecksetzungen beruht, zeigt schon, dass Zwecke nur in einem integralen Verständnis von äußerer (erkannter und verstandener) Natur und menschlicher vernunftorientierter Praxis möglich sind. Fragt man nach dem sittlich fundierten Freiheitsanteil an dieser Praxis, dann kommt (mit der dritten Antinomie) der Zusammenhang der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft in den Blick. Unbestritten ist, dass in der ersten Kritik im Abschnitt über die Antinomien „Kausalität aus Freiheit“ nur als Möglichkeit, genauer: als nicht unmöglich – und noch nicht, wie in der zweiten Kritik, als „Wechselbegriff“ zum transzendentalen Prinzip der Sittlichkeit – erarbeitet wird. Somit bleibt der Freiheitsbegriff noch unentfaltet; er muss hier auch noch nicht elaboriert werden, sodass die praktische Vernunft in der ersten Kritik verständlicherweise „kein eigenes Gebiet für ihre Gesetzgebung“ hat. Sie braucht hier keines. Sie braucht überhaupt kein „eigenes Gebiet“, da sie immer und überall zugange ist.

Daraus ein Scheitern des Anspruchs der Vernunft zu konstruieren geht nur, wenn man das kritische Werk Kants nicht als fortgeschriebene und sich weiterentwickelnde Gesamtheit liest, sondern die Kritiken so einander gegenüberstellt, dass man in deren jeweiligen einzelnen Aspekten Unterschiede und Widersprüche entdeckt, die man dann gegeneinander ausspielen kann, wie etwa praktische Vernunft und transzendentale Freiheit.

Eine ganz andere Kant-Lektüre bietet (nur als ein Beispiel von vielen) etwa Axel Hutters Das Interesse der Vernunft (2003), dessen Untertitel Kants ursprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken schon andeutet, dass es um eine „Gesamtdeutung der Kantischen Vernunftkritik“ (Hutter, 23) geht und die Kritiken als ein einheitliches Werk zu verstehen sind.

Wenn Ypi den Vorwurf der Re-Theologisierung erneut erhebt, um an in ihr das Scheitern des kritischen Anspruchs festzumachen, dann müssten sich doch weitere Fragen anschließen, deren wichtigste wäre: Weshalb versucht Kant überhaupt in einem explizit kritischen Projekt traditionelle Metaphysikbestände wie Gott, Zweckmäßigkeit der Natur und Unsterblichkeit der Seele zu retten? Eine Antwort findet man beim späten Horkheimer. „Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel“, schreibt er in seinem Aufsatz Theismus – Atheismus (1963). Wobei zu ergänzen ist, dass Sinn ohne Unbedingtheit keiner wäre; ein „relativer“ Sinn ist bestenfalls nur eine Kette von kontingent gesetzten Zwecken und deren Verweisen aufeinander. Auf der Ebene bloß empirischen Wissens lässt sich kein Sinn erkennen, auffinden oder konstituieren. Die sog. exakten Wissenschaften sind nicht in der Lage, eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Existenz (sei es des individuellen Lebens oder, in holistischer Absicht, der Welt) zu generieren. Und sie machen die Frage nach einem letzten Grund nicht obsolet. Wiederholt weist Hutter darauf hin, dass es Kant um „das Unbedingte (um das es doch eigentlich zu tun ist)“ geht (KrV B 593), um die „Vernunft, die das Unbedingte fordert.“ (B 592) Nicht anders in der Kritik der Urteilskraft: „Die Vernunft ist ein Vermögen der Prinzipien, und geht in ihrer äußersten Forderung auf das Unbedingte, da hingegen der Verstand ihr immer nur unter einer gewissen Bedingung, die gegeben werden muß, zu Diensten steht.“ (B 339) Bei aller Gelehrtheit fasst Ypi, wenn sie vom „kritischen Projekt“ Kants spricht, den Ausdruck „Metaphysikkritik“ viel zu weit und nimmt den Titel von Kants erklärender Didaktik zur Kritik der reinen Vernunft nicht ernst und wörtlich genug, nämlich: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783). Dass Metaphysik und Wissenschaft einander ausschließen und unvereinbar sind, gilt heutzutage, da man sich zumeist einem vermeintlichen „nachmetaphysischen Denken“ (Habermas) verpflichtet weiß, als ausgemachte Sache, aber man übersieht dabei bereitwillig die ursprünglich dogmatischen, d.h. axiomatischen Voraussetzungen in jeder Wissenschaft.

„Kants Kritik“, schreibt Axel Hutter, „gilt also nur einer bestimmten Auffassung von Metaphysik, nämlich der, die die das ‚Unbedingte‘ in eine unvermittelte Opposition zur Erfahrung rückt. Eine solche Kritik ist in der Tat ein wichtiges Mittel, um ‚das Verfahren der bisherigen Metaphysik umzuändern‘. Der ‚wesentliche Zweck‘ der Transzendentalphilosophie ist demnach ein kritisch veränderter Metaphysikbegriff, nicht aber ein ‚Ersetzen‘ der Metaphysik durchexakte Wissenschaft“ (Hutter, 22). Ypis für ihre Interpretation vorausgesetzte Annahme einer „für Kants Projekt wesentliche(n) Trennung von Kritik und Metaphysik“ (20) ist also ein Missverständnis.

Ohne Unbedingtheit ist auch die von Ypi nur beiläufig behandelte Idee des „höchsten Gutes“ nicht verstehbar, die die Forderung enthält, „diejenige Realität, die nicht ist, aber sein soll, realisierte Sittlichkeit und eine dieser entsprechend gestaltete Welt“ zu verwirklichen. (So umschreibt es Wilhelm Jacobs 2014 in seinem Fichte-Buch.) Es ist egal, mit welchen Bezeichnungen man diese sein-sollende und zu verwirklichende Welt versieht (z.B. Sozialismus, Kommunismus oder nur gerechte Gesellschaft); ohne das Verständnis für „unbedingten Sinn“ kommt man ihr nicht näher. Dass so eine Gesellschaftsform der Rechtsphilosophie Kants von 1798 eklatant widerspricht, ist klar. Das liegt jedoch daran, dass letztere den Fehler enthält, dass sie selbst nicht mit Kants Ethik vereinbar ist, da Kant, wie oben erwähnt, in ihr Willkürfreiheit, die „tatsächlich gar keine Freiheit ist“ (Andrea Esser, Anti-imperiale Strukturen der Sittlichkeit), zugrunde legt und nicht, wie in der Kritik der praktischen Vernunft oder der Grundlegung, Freiheit als Autonomie. Was ein Großteil der Kant-Exegeten nicht (so wenig wie Kant selber) sehen will, ist also, dass Kant in den kritischen Schriften und in der Rechtsphilosophie zwei unterschiedliche Freiheitsbegriffe verwendet: zuerst Autonomie, später den liberalistischen Freiheitsbegriff, die beide unvereinbar sind. Freiheit ist ein Begriff, der die Unbedingtheit der Autonomie im ethischen Sinn meint. Der Liberalismus kennt keine Unbedingtheit.

Liest man Gott also sinnvollerweise als (personifizierte) Chiffre für Unbedingtheit, die verhindert, dass Vernunft materialistisch-instrumentell halbiert wird und dadurch zu einer beliebigen (machtorientierten) Zweckrationalität verkommt, die nichts mit Kants in der Vernunft angelegten „Zweckmäßigkeit“ zu tun hat, dann zeigt sich woran und weshalb Lea Ypi in ihrer Auseinandersetzung mit Kant scheitert. Als empiristisch orientierte Philosophin weiß sie mit Unbedingtheit, Absolutheit, Autonomie wenig anzufangen, denn all das gibt es im Empirismus nicht. (Adorno hat in seinen „Meditationen zur Metaphysik“ im letzten Abschnitt seiner Negativen Dialektik immerhin das absolut Falsche als solches benannt.)

In Ypis Kant-Rezeption ist – so ähnlich wie die „höchste Intelligenz“ – auch das „höchste Gut“ in erster Linie ein Beleg für die Re-Theologisierung und nicht ein ethisch unbedingt Gesolltes (ein Auftrag an die Menschheit), das man gerne „Sozialismus“ nennen darf (oder welche Bezeichnung man immer für eine „gerechte und gelungene Gesellschaft“ finden will). Auch in ihren Berliner Benjamin-Lectures vom Juni 2024 (mit dem Titel „What is moral socialism?“) legte sie charakteristischerweise nicht Kants Autonomie-Begriff, sondern die empiristisch verstandene Handlungsfreiheit des politischen Liberalismus (freedom of agency) zugrunde, mit der man Kant nicht gerecht werden kann. Damit wird verständlich und nachvollziehbar, warum sie trotz aller analytischen Subtilitäten und Differenzierungen in ihrem Architektonik-Buch letztlich immer an Kant vorbei argumentiert. Nicht Kant scheitert in seiner Kritik der reinen Vernunft mit seiner Systematisierung der Vernunft zu einer Einheit, sondern eher Lea Ypi mit ihrem Versuch, Kant ein solches Scheitern nachzuweisen.

Parrique – Wachstum bremsen oder untergehen

Timothée Parrique

Wachstum bremsen oder untergehen. Wie wir mit Degrowth die Welt retten

aus dem Französischen von Andrea Hemminger

geb., 367 Seiten, 28.- €, Frankfurt/Main 2024 (S. Fischer-Verlag)

von Fritz Reheis

Der alte Deutsche Bundestag hat in seiner letzten Woche die wundersame Geldvermehrung beschlossen, ehe der neue beschließen wird, wofür das Geld genau gebraucht wird. Angesichts der Tatsache, dass ein Großteil des Geldes in die Aufrüstung gehen wird (angeblich unausweichlich angesichts einer „dramatisch verschärften“ Bedrohungslage), braucht es heute besonderen Mut, den seit Langem stattfindenden Selbstbetrug der weit fortgeschrittenen Moderne zu stoppen. Das Buch „Wachstum bremsen oder untergehen“ will Anstoß und zugleich Ratgeber auf diesem Weg sein. Der in Frankreich geborene Autor, Timothée Parrique, der als Ökonom an der School of Economics and Management der Universität Lund in Schweden arbeitet, gilt als einer der wichtigsten Kritiker des Wachstumsprinzips.

Der kompromisslose Titel und die Einleitung mit der Überschrift „Ökonomie, eine Frage von Leben und Tod“ wird durch die folgende Bestandsaufnahme voll gerechtfertigt. Der ökologische Kollaps ist für Parrique keine Krise, sondern eine „Misshandlung“ der Erde; die soziale Spaltung ist für ihn „globale Apartheid“; und statt vom Anthropozän spricht er vom „Kapitalozän, Ökonozän und BIPozän“ (11 f.). Degrowth, so Parrique, ist keine unfreiwillige Dauerrezession, sondern „eine demokratisch geplante Reduzierung der Produktion und des Konsums zur Verringerung des ökologischen Fußabdrucks im Geiste sozialer Gerechtigkeit und in der Sorge um Wohlstand“ (17). Zur Vollständigkeit der Definition gehört für ihn die Angabe der unteren Grenze dieser Reduzierung: Sie könne enden, wenn eine „statische Wirtschaft im Einklang mit der Natur“ erreicht ist, „in der Entscheidungen gemeinsam getroffen werden und der Reichtum gerecht verteilt wird, um ohne Wachstum prosperieren zu können.“ Diesen Zielzustand nennt der Autor „Postwachstum“ (ebd.). Das Buch will sich einer dreifachen Herausforderung stellen: Verstehen, warum die Wachstumswirtschaft eine Sackgasse ist, skizzieren, wie Postwachstum aussehen könnte, und einen Weg vorschlagen, der dorthin führen könnte (ebd.).

Im 1. Kapitel geht es um die Irreführung durch das BIP, im 2. um die Unmöglichkeit der Entkopplung, im 3. um den Gegensatz von Markt und Gesellschaft. Im 4. Kapitel werden falsche Versprechungen der Wachstumsbefürworter entzaubert (etwa zu Armut, Beschäftigung und Lebensqualität). Das 5. Kapitel erzählt die Geschichte des Degrowth. Im 6. Kapitel wird der Weg des Übergangs skizziert. Das 7. Kapitel beschreibt Postwachstum als gesellschaftliches Projekt. Im 8. Kapitel schließlich werden die wichtigsten Kontroversen abgehandelt, die um das Thema Wachstumsbegrenzung und Postwachstumsgesellschaft entstanden sind. Darin ist das Verhältnis von Wachstumsökonomie und Kapitalismus besonders interessant. Für Parrique ist zwar klar, dass die Überwindung des Wachstumszwangs mit dem Ausstieg aus dem Kapitalismus einhergehen muss. Jedoch müssten „ökomarxistische Kritiker des Degrowth“ einräumen, „dass Wachstum nicht nur die Frucht des Kapitalismus ist, sondern auch das Produkt einer Metaphysik der Grenzenlosigkeit, die den Imperialismus, Kolonialismus, Extraktivismus, Produktivismus, Konsumismus, Materialismus, Transhumanismus etc. überzieht.“ Daraus folgt für Parrique: „Eine echte anthropologische Metamorphose, die weitaus radikaler ist als der bloße Antikapitalismus, ist unverzichtbar.“ (303)

An dieser Stelle könnte man einwenden, dass die genannte „Metaphysik der Grenzenlosigkeit“ selbst als Konsequenz kapitalistischer Vergesellschaftung begriffen werden kann, wie seit Marx vielfach dargelegt wurde. Und der Rezensent vermisst auch einen systematischen Blick auf die Temporalität, die mit dem im Titel verwendeten Begriff des „Bremsens“ und der Forderung nach „Einklang“ mit der Natur implizit angedeutet ist. Eine genauere Marx-Lektüre hätte hier wichtige Einsichten zum Verhältnis von Wert, Geld, Kapital einerseits, Zeit, Mensch und Charaktermaske andererseits ermöglicht. Dennoch kann das Buch für Einsteiger in die Postwachstums- bzw. Degrowth-Diskussion uneingeschränkt empfohlen werden – wegen seiner argumentativen Stringenz, seiner thematischen Vielfalt, seiner didaktischen Durchdachtheit und seiner sprachlichen Eleganz.

Stanley – Wie Faschismus funktioniert

Jason Stanley

Wie Faschismus funktioniert

kart., 216 Seiten, 22,- €, 2024 (Westend-Verlag)

von Bruno Heidlberger

Eine neue geopolitische Ära hat begonnen. Revisionistische Mächte zielen auf die Zerstörung der liberalen Weltordnung. Ihre Feinde haben die Initiative zurückerobert. Der reichste Mann der Welt, Elon Musk, hat sich zum „Chief-Verstärker des globalen Autoritarismus“ gemacht und Donald Trump geholfen die Präsidentschaftswahl 2024 zu gewinnen. „Der Autoritarismus setzt die Methoden der organisierten Kriminalität und des Rowdytums ein, um die Ordnung in der Partei aufrechtzuerhalten und sicherzustellen, dass die Autorität des Führers unangefochten bleibt“, erklärt die US-amerikanische Historikerin Ruth Ben-Ghiat.

„Ich kenne einige Leute, die Trump gewählt haben, Verwandte, Bekannte, Freunde – keine Ultrarechten, eher normale Leute. Viele von ihnen sind warmherzige Menschen, ohne viel politischen Durchblick, eher apolitisch“, sagt der US-Literaturwissenschaftler und Schriftsteller George Saunders. Für fast die Hälfte dieser ‚normalen’ Leute ist „offene Wertschätzung Hitlers akzeptabel“, berichtet die Washington Post.

Wie ist so etwas möglich? Warum wählen „normale, warmherzige Menschen“ diesen Präsidenten? „Was gestern noch arg verstörend war, wird durch stete Wiederholung irgendwann als normal empfunden“, beschreibt die Philosophin Petra Bahr den allmählichen Prozess der Normalisierung. Wiederholungen sind ein mächtiges Stilmittel nationalistischer Propaganda. Im Zeitalter von Social Media ist Propaganda vergleichbar mit der Invasion in Millionen von Gehirnen mit dem Ziel, Faktizität zu vernichten, Krisen zu produzieren, Emotionen zu manipulieren und Ungleichheit zu zementieren. Musk ist der erste globale Oligarch und der einflussreichste Agitator auf X. Er verbreitet Fake-News, antimigrantische Verschwörungstheorien, manipuliert Ängste und setzt Aggressionen frei, ist mit dem einflussreichen neofaschistischen Blogger und Vordenker Curtis Yarvin befreundet und interagiert mit dem britischen Rechtsextremisten Tommy Robinson auf X. Er hat sich „geschworen, den Wokeness-Virus zu zerstören“. Alt-Right beherrscht jetzt die sozialen Medien.

„Droht uns eine Wiederkehr des Faschismus? Befinden sich die liberalen Demokratien heute auf dem Weg in eine neue autoritäre Gesellschaftsform?“ Um diese Frage geht es in dem 2018 erschienen Buch How Fascism Works, das jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt. Jason Stanley, 1969 in Syracuse (New York) geboren, ist ein amerikanischer Philosoph, der bis vor kurzem an der Yale University in New Haven, Connecticut lehrte und schon lange vor dieser „Normalisierung“ warnt. In Wie Faschismus funktioniert analysiert er die Entstehung faschistischer Ideologien mit Bezug auf die USA, Indien und Europa. In einem Interview im polnischen Nachrichtenmagazin Polityka setzte er sich 2022 mit den Mechanismen der Entstehung und Verbreitung faschistischer Ideologien in Mittel- und Osteuropa und den Strategien der polnischen PiS-Partei auseinander.

Stanley kündigte jetzt an, die USA aufgrund des derzeitigen politischen Klimas zu verlassen. „Ich habe Angst, dass mich die Regierung ins Visier nimmt“. Stanley möchte seine schwarzen und schwarz-jüdischen Kinder schützen. Er sieht Angriffe auf DEI und die „Schwarze Geschichte“ als Angriffe auf schwarze Menschen und sagt: „Ich möchte, dass meine Kinder in Freiheit aufwachsen.“ Er folgt damit dem Ehepaar Timothy Snyder und Marci Shore, die beide in Yale Geschichte unterrichten nach Kanada, um an der ‚Munk School of Global Affairs and Public Policy’, zu arbeiten. Trotz seines Umzugs, so Stanley, werde „für die amerikanische Demokratie kämpfen, wo immer ich bin.“

Stanleys Forschung ist biographisch motiviert. Seine Mutter, Sara Stanley, und sein Vater, Manfred Stanley, kamen als Flüchtlinge in die USA. Sie hatten die Schrecken des Antisemitismus in West- und Osteuropa erlebt. Sein Vater ist in Berlin aufgewachsen. Sie waren Deutsche. Am Ende verlor seine Familie alles. „Mein Großvater, Magnus Davidsohn, war Oberkantor an der Synagoge in der Fasanenstraße; mein Vater sah das Haus abbrennen. In der Reichspogromnacht wurde mein Vater brutal zusammengeschlagen, in Folge dessen quälten ihn sein Leben lang epileptische Anfälle“, berichtet Stanley. „Meine Mutter stammt aus Ostpolen und überlebte in einem sibirischen Arbeitslager, bevor sie 1945 nach Warschau zurückgeschickt wurde, wo sie und ihre Eltern die Brutalität des polnischen Nachkriegsantisemitismus erfuhren.“

Faschismus ist für Stanley eine ständige Versuchung. Er sei nicht für Hitler und Mussolini reserviert. Wovor Stanley warnt, ist nicht die Wiederkehr des historischen Faschismus, aber vor „faschistischen Taktiken“. Das Buch handelt von den gemeinsamen Merkmalen faschistischer Bewegungen und Taktiken, von sich wiederholenden Mustern, Weichenstellungen, Tendenzen von Normalisierungen im öffentlichen Raum. Stanley geht es darum, dass wir diesen Sog frühzeitig erkennen – uns dem Sog seiner Normalisierung widersetzen. Normalisierung heißt für ihn, das Unsagbare sagbar, das Undenkbare denkbar zu machen. Die Abstimmung am 29.01.25 im deutschen Bundestag war womöglich so ein Tag der Normalisierung. Ein Tag, wo in autoritärer Anmaßung das Grundgesetz und die Menschenrechte nichts mehr gelten. „Mir ist es völlig gleichgültig, wer diesen Weg politisch mitgeht. Ich gehe keinen anderen“. Migration und Kriminalität bei Flüchtlingen sind die Lieblingsthemen einiger Medien und von Konservativen bis nach rechts außen. Damit zielt man direkt auf Affekte und Ressentiments der Wähler und kann Wahlen gewinnen. Was die Neue Rechte nie geschafft hat, das haben CDUCSU und FDP geschafft, die Spaltung der bürgerlichen Mitte. Die Probleme scheinen jetzt erst richtig anzufangen.

Im aktualisierten Vorwort, noch vor der erneuten Wahl Donald Trumps zum Präsidenten, meint Stanley, seine „Lehren von damals“ hätten heute „eine Dringlichkeit erreicht“, die er „selbst nicht vorhersehen konnte“. Die liberale Demokratie sei „selbst in ihren ehemaligen Bollwerken auf dem Rückzug – seit Mitte des 20. Jahrhunderts“ sei „sie nicht mehr dermaßen gefährdet.“ „Hinter dieser transnationalen, ultranationalistischen Bewegung“, so Stanley, stünden „die Kräfte des Kapitals“. Technologieriesen profitierten ebenso wie die Medien von dem dramatischen Aufeinandertreffen von „Freund und Feind“. Zudem freuten „sich Ölkonzerne, wenn ultranationalistische Bewegungen Klimaschutzvereinbarungen wie das Pariser Abkommen als Bedrohung der staatlichen Souveränität“ darstellten. „Je schwächer einzelne Länder und internationale Verträge werden, desto größer wächst die Macht multinationaler Unternehmen.“ Stanleys These lautet, dass der Faschismus „keine neue Bedrohung darstellt, sondern vielmehr eine ständige Versuchung ist“.

Wenn Stanley von „Faschismus“ spricht, meint er den „Ultranationalismus jeglicher Couleur (ethnisch, religiös, kulturell), … wobei die Nation durch einen autoritären Anführer vertreten wird, der in ihrem Namen spricht.“ „Faschistische Politik“ müsse auch „nicht zwangsläufig zu einem explizit faschistischen Staat führen“; gleichwohl sei sie „gefährlich“. Sie umfasse „eine Vielzahl unterschiedlicher Strategien: die mythische Vergangenheit, Propaganda, Anti-Intellektualismus, Unwirklichkeit, Hierarchie, Opferrollen, Recht und Ordnung, sexuelle Ängste, Appelle an das Vaterland und den Abbau von Gemeinwohl und Einheit.“ Einzelne Elemente auf dieser Liste seien „legitim und manchmal gerechtfertigt“; wenn sie aber in einer Partei oder politischen Bewegung zusammenkämen, seien sie gefährlich, vor allem dann, wenn sie Teile der Bevölkerung entmenschlichen. „Das berechnendste Symptom faschistischer Politik“ sei „die Spaltung“. Kommunisten setzten auf die „Klassenunterschiede, Faschisten auf ethnische oder religiöse Differenzen“. Letztendlich schaffe faschistische Politik mit Hilfe von Geschichtsrevisionismus, mythischer Erzählungen, Propaganda und Anti-Intellektualismus „einen Zustand der Unwirklichkeit, worin Verschwörungstheorien und Fake-News eine vernünftige Debatte“ ersetzten. Im weiteren Verlauf des Textes analysiert Stanley ausführlich diese faschistischen Strategien in Bezugnahme auf ihre Ausprägung in den Vereinigten Staaten, insbesondere vor und während Donald Trumps erster Präsidentschaft.

Epilog

Jason Stanley ist überzeugt, nur wenn wir faschistische Politik erkennen, können wir ihren schädlichen Auswirkungen entgegentreten und zu unseren demokratischen Idealen zurückfinden. Mit seiner Studie will uns Stanley auf die „Gefahr einer Normalisierung des faschistischen Mythos“ hinweisen. Sozialwissenschaftliche Forschungen zeigten, „dass Einschätzungen zur Normalität“ …]„von dem beeinflusst werden, was die Menschen für statistisch unauffällig halten“. Dabei spielen das soziale Umfeld und die Medien eine große Rolle. Der Yale-Philosoph Joshua Knobe und sein Psychologie-Kollege Adam lieferten „eine Erklärung für ein Phänomen, das diejenigen, die den Übergang von der Demokratie zum Faschismus miterlebt haben, regelmäßig aus eigener Erfahrung und mit großer Besorgnis betonen: die Tendenz von Bevölkerungen, das vormals Undenkbare zu normalisieren“. Dies sei auch, so Stanley, „ein zentrales Thema der 1957 erschienenen Memoiren meiner Großmutter Ilse Stanley, Die Unvergessenen.“„Sie blieb bis zum letztmöglichen Moment, im Juli 1939, in Berlin, um im Untergrund weiterarbeiten zu können. Von 1936 bis zur Reichskristallnacht wagte sie sich, als Nazi-Sozialarbeiterin verkleidet, in das Konzentrationslager Sachsenhausen und rettete dort, einen nach dem anderen, Hunderte von Juden (412 Menschen, d. Verf.) vor dem Tod. In ihrem Buch schildert sie das Missverhältnis zwischen den extremen Zuständen, die sie im Konzentrationslager erlebte, einerseits und der Leugnung des Ernstes der Lage und ihrer Normalisierung durch die jüdische Gemeinde in Berlin andererseits. Sie bemühte sich, ihre Nachbarn von der Wahrheit zu überzeugen“.

Stanley macht zum Schluss seiner Studie deutlich, wie weit die Normalisierung bereits vorangeschritten ist. Derzeit erlebten wir, „wie Regierungen weltweit die brutale Behandlung von Flüchtlingen und Arbeitern ohne Papiere zur gängigen Praxis erklären. … Mit der Normalisierung“ werde „das moralisch Außergewöhnliche in das Gewöhnliche verwandelt“. Diese kognitive Verzerrung wirkt höchst politisch. Was gestern noch verstörend war, wird durch immer wieder kehrende Wiederholung als normal empfunden. So würden Migranten „als Quelle von Terrorismus und Gefahr gezeichnet, statt Empathie zu erzeugen.“ Dass selbst die Hilfsbedürftigsten noch als „fundamentale Bedrohung“ dargestellt werden können, zeuge von der „irreführenden Macht des faschistischen Mythos.“ Stanley betont, dass wir trotz unserer Fehler und unterschiedlichen Perspektiven die Fähigkeit zur Empathie und zur Zusammenarbeit besitzen. Sein Buch ist ein Plädoyer für Menschlichkeit und Solidarität, das uns daran erinnert, dass wir nicht in den Extremismus und die Intoleranz verfallen, sondern uns bemühen sollten, Brücken zueinander zu bauen – „aber wir sind keine Teufel.“

Fazit

„Das, was die Trump-Regierung gerade macht, ist Faschismus“, erklärt Stanley. Die politische Entwicklung, insbesondere in den USA, hat Stanleys Befürchtungen bestätigt. Die von ihm untersuchten gemeinsamen Merkmale faschistischer Bewegungen und Strategien faschistischer Politik treffen auf das heutige Amerika weitgehend zu. Laut einer Umfrage von ABC News und Ipos vom Oktober 2024 betrachteten 49% der amerikanischen registrierten Wähler Trump als „Faschisten“, definiert in der Umfrage als „einen politischen Extremisten, der versucht, als Diktator zu agieren, individuelle Rechte missachtet und Gewalt gegen ihre Gegner bedroht oder Gewalt anwendet“. Die Trump-Regierung, die beschuldigt wird, Einwanderer entgegen gerichtlicher Anordnungen abzuschieben, könne nicht mehr, so Stanley, nur als „populistisch“ betrachtet werden. Zudem werde die freie Meinungsäußerung eingeschränkt, indem Universitäten und Bundesbehörden, die die ‚DIE’-Politik (Diversität, Gleichheit und Inklusion) unterstützen, die Finanzierung entzogen wird. Trump setze Antisemitismus ein, um die Hochschulen finanziell und politisch unter Druck zu setzen. Die Columbia University hat sich gefügt und ihre Fakultät für Nahoststudien praktisch unter Zwangsverwaltung gestellt, andere Universitäten haben sich weggeduckt.

„Das Unfassbare geschieht, und wenn wir zunächst nicht reagieren, wird das Unfassbare fassbar und dann normal“ (Saunders). Tatsächlich erscheinen die Reaktionen in den USA auf die Trumpschen Verfassungsbrüche bislang seltsam gedämpft. In der Psychologie gibt es dafür einen Begriff: ‚normalcy bias’, ‚Normalitätsverzerrung’, genauer ‚Drang zur Normalität’. Er beschreibt die Tendenz, angesichts einer Katastrophe deren Ausmaß zu unterschätzen und davon auszugehen, dass die Dinge wie gehabt weiterlaufen.

Auch in Deutschland findet seit Jahren eine Normalisierung rechtsextremen Gedankengutes statt. Dies zeigen die Leipziger Autoritarismus-Studien und die Mitte-Studie. Das gesellschaftliche Tabu, rechtsextreme Parteien zu wählen, ihre Narrative und Begriffe zu übernehmen oder in Talkshows einzuladen, wie es noch bei der NPD galt, ist längst weggefallen. Inzwischen ist es gängige Praxis, dass die Springer-Presse sowie konservative und rechte Medien gegen ‚Cancel culture’, ‚Wokisten’ und ‚Sozialtourismus’ wettern. Seit den Wahlen 2021übernehmen auch CSU und CDU im Rahmen ihres Kulturkampfes die aus Amerika importieren rechtextremistischen Narrative, die sie vor allem gegen die Grünen wenden. Einen Tag, nachdem die AfD eine Landratswahl in Sonneberg gewonnen hatte, erklärte Friedrich Merz die Grünen zum „Hauptgegner“. Am 29.01.24 bediente sich Merz einer faktenfreien Notstandsrhetorik: „Er wollte mit seinem Vorstoß in der Migrationspolitik ‚all in’ gehen“, wie er sagt. Was folgte, war ein gefährliches Pokerspiel mit der parlamentarischen Demokratie. Die AfD feierte das Ergebnis als historisch: jetzt und hier beginne eine neue Epoche. Ihr Parlamentsgeschäftsführer Bernd Baumann sagte, die Abstimmung sei „wahrlich ein historischer Moment“. Wie andere westliche Länder erlebe nun auch Deutschland „das Ende der rot-grünen Dominanz“ – und zwar „für immer“. Wer Rhetorik und Politik der AfD kopiert, zerstört die Demokratie. Zerbricht die CDU wie zuvor schon andere konservative Parteien in Europa, ist die AfD an der Macht. Unreflektierte Verbreitung rechtsextremistischer Begriffe und Narrative führt zur Normalisierung des Rechtsextremismus. Die AfD wird immer größer und immer radikaler. Im neuen Bundestag sitzt sie als zweitstärkste Fraktion mit 152 Abgeordneten, darunter bekennende Neonazis. Wo die AfD große Wahlerfolge feiert, bekennen sich Menschen öffentlich dazu, die Partei zu unterstützen. Zum anderen wirkt die globale Normalisierung von faschistischen oder rechtsextremen Ideen, insbesondere die erneute Präsidentschaft Trumps, auf Deutschland zurück. Die extreme Rechte fühlt sich in ihren Positionen bestätigt.

Jason Stanley warnt uns vor dem Prozess der Normalisierung faschistischer Taktiken, Dynamiken und Muster, dem ‚Es-wird-schon-nicht-so-schlimm werden’ oder ‚Es-war-schon-immer-so’-Modus. Statt sich selbst zu beruhigen, sollte man gegen die Normalisierung ankämpfen – sei es nur, um die eigene Resilienz zu stärken und den Wissens- und Erwartungshorizont zu erweitern. Der Verführungskraft des ‚Normalen’ können wir vor allem durch Wissen begegnen, auch durch die Verteidigung von demokratischen Werten und öffentlichen Protest. Durch den Mut zum Widerspruch. Die deutsche Geschichte lehrt uns: der Wähler hat nicht immer recht. Deshalb wird er von unserem Grundgesetz eingehegt. Über der Mehrheitsregel stehen die Menschenrechte und Art. 1 des Grundgesetzes.

Politik und Journalisten behandeln Bürger oft wie Kinder und nehmen ihnen die Verantwortung; auch aus der Angst, nicht gewählt zu werden. Wie nachsichtige Eltern behandeln wir AfD-Wähler mit unserem ‚Verständnis’, statt ihnen die Stirn zu bieten. Die Wahrheit ist zumutbar. Jeder hat für die Folgen seines Tuns Verantwortung zu tragen. Wir sollten mehr Verantwortung vom Wähler erwarten und den Aufstieg der Autoritären nicht allein auf das Versagen der Politik der demokratischen Parteien zurückführen.

Jason Stanley’s Wie Faschismus funktioniert bietet uns die Möglichkeit, moderne faschistische Tendenzen frühzeitig zu erkennen und ihrer Versuchung zu widerstehen. Dabei gehe es nicht darum, „ob der Begriff perfekt passt. Vielmehr hilft er uns, die Strategien dieser Bewegung zu verstehen.“ Wie Faschismus funktioniert ist das Buch der Stunde.

Govrin – Universalismus von unten

Jule Govrin

Universalismus von unten. Eine Theorie radikaler Gleichheit

br., 498 Seiten, 28,- €, Berlin 2025 (Suhrkamp-Verlag)

von Fritz Reheis

Der Begriff „Gleichheit“ wird üblicherweise entweder mehr „formal“ oder mehr „material“ verstanden. Formal verweist dabei auf den Bezug zu einer formalen Ordnung wie etwa einem System von Verträgen, einem formal gedachten Markt oder Staat. Material hingegen bezieht sich auf Substanzielles, also faktische Eigenheiten von Objekten oder Subjekten, wobei in der Kritischen Theorie in aller Regel soziale Aspekte wie die Verfügung über Ressourcen, vor allem Eigentum und Macht, im Zentrum stehen.

In „Universalismus von unten“ wird materiale Gleichheit nun auf eine andere Weise konkretisiert: Sie wird auf den menschlichen Körper bezogen, also gewissermaßen eine Stufe tiefer als in den üblichen Diskussionen zur materialen Gleichheit. Am Körper ist es seine Verwundbarkeit, aus der heraus Jule Govrin ihre Überlegungen zu Gleichheit und Ungleichheit entwickelt. Govrin ist Philosophin, hat derzeit eine Gastprofessur an der Universität Hildesheim und bekennt sich zu einem feministischen Ansatz in Philosophie und politischer Theorie. In „Universalismus von unten“ will sie hauptsächlich an Judith Butlers Körper-, Rancières Ungleichheits- und Bourdieus Habitusbegriff anknüpfen, um durch ein „lose verflochtenes Gewebe der Denkstränge“ zu einer „Theorie radikalrelationaler Gleichheit“ zu gelangen (378). Präsentiert wird allerdings streckenweise ein fast unübersehbares Geflecht, aus dem heraus Govrin immer wieder eigene theoretische Gedanken und empirische Belege aufblitzen lässt.

Die These des Buches lautet: Körper sind dadurch definiert, dass sie von Anfang an existenziell wechselseitig voneinander abhängig und insofern verwundbar sind. Ausgehend von Körpern muss Ungleichheit deshalb als ungleiche Verwundbarkeit verstanden werden, und zwar als eine Verwundbarkeit, die sozial gezielt hergestellt wird. Zum Beispiel sind es Schulden- und Austeritätspolitiken, die als Formen differentieller Ausbeutung begriffen werden müssen und Menschen ungleich machen. Auf der Suche nach einem Weg zur Gleichheit setzt Govrin nicht auf den Staat, klammert ihn aber auch nicht aus. Sie plädiert für körperliche Gleichheitspraktiken, die sie in Formen gelebter Sorgearbeit und gelebter Solidarität findet. Die „Herausforderung für solidarische Praktiken“ liege darin, „Bewusstsein über asymmetrische Beziehungen zu schaffen und den Blick für Ungleichheit zu schärfen“ (388). Gelebte Sorge und Solidarität, traditionellerweise Grundanliegen der christlichen und kommunistischen Moral, finde sich heute etwa in Streik-, Schuldnerbewegungen, in Initiativen gegen Zwangsräumungen oder für eine „Sorgende Stadt“ – die alle ganz wesentlich von Frauen getragen würden. Dort werde körperlich erfahren, wie es sich anfühlt, aufeinander zu achten, die unterschiedlichen individuellen Lebenssituationen zu berücksichtigen und sich dennoch die gleiche soziale Betroffenheit bewusst zu machen, für deren Überwindung man sich zusammengefunden hat. Versammlungen seien die konkreten Orte, „wo Worte nicht vom Körper getrennt werden können“, „wo die eigene Stimme zu erheben bedeutet, zu gestikulieren, zu atmen, zu schwitzen und zu spüren, dass die Worte gleiten und in den Körpern anderer aufgefangen werden“ (Verónica Gago; 400). Körperlich gelebte Gleichheit ermögliche die „Gegendressur“ (Bourdieu), aus der heraus ein „Universalismus von unten“ begründet werden könne.

Das Buch fasziniert durch seinen Ansatz beim Körper und seiner Verwundbarkeit. Es ist klar gegliedert in I. Körper, II. Ökonomie und III. Gleichheit. Aber die Lektüre der nahezu 500 Seiten lässt den Rezensenten angesichts der Quantität der Anknüpfungspunkte an andere Autoren bisweilen nicht nur den Überblick verlieren. Nicht immer wird klar, was nun eigentlich von der Autorin selbst stammt, und was in diesem Buch nur neu kombiniert wird. Eine etwas systematischere Herangehensweise, etwa an der Unterscheidung zwischen deskriptiven, analytischen und präskriptiven Aussagen zu Gleichheit/Ungleichheit orientiert, hätte die Überzeugungskraft der sozialphilosophischen Argumentation erhöht. Dennoch ist das Buch, wie in der „Süddeutschen Zeitung“ treffend formuliert, ein wirksames „Gegengift“ zum „libertären Autoritarismus“, der derzeit weltweit Konjunktur hat und mit dem Bild der „Kettensäge“ den Bezug zur körperlichen Dimension von Ausbeutung bestens veranschaulicht.