Osrečki – Laien. Eine Soziologie des Nichtwissens

Fran Osrečki

Laien. Eine Soziologie des Nichtwissens

br., 336 Seiten, 24,- €

Berlin 2025 (Suhrkamp-Verlag)

von Alexander von Pechmann

Die Moderne, beginnt Osrečki seine Untersuchung, gründe auf dem Versprechen der Gleichheit aller Menschen und lebe seither in den Kämpfen um diese Gleichheit. In ihr sind das ideelle Element der Inklusion aller ins gesellschaftliche System, zugleich aber auch das permanent reale Element der Ungleichheit und Exklusion miteinander verbunden. Dieses Gegensätzliche, teils Widersprüchliche ist schon oft anhand der „bürgerlichen Gesellschaft“ verhandelt worden: als citoyen gelten die Bürger als Gleiche unter Gleichen und haben gleiche Rechte; als bourgeois hingegen sind sie ungleich und grenzen einander ab: der Bürger vom Proletarier, der Besitzlose vom Besitzlosen etc. Osrečki verhandelt dieses Gegensätzliche in der Moderne jedoch nicht anhand der sozialen Gruppen oder Klassen, sondern anhand der Kategorien des Laien und des Experten, des Nichtwissenden und Unkundigen bzw. des Wissenden und Kundigen.

Entscheidend bei dieser Unterteilung sei, dass – im Unterschied zu sozialen Gruppen – in der modernen, auf Arbeitsteilung beruhenden Gesellschaft jede/r sowohl als Laie als auch als Experte gilt. So erweist sich etwa der qualifizierte Jurist als unkundiger Laie auf dem Gebiet der Sanitärinstallation oder der kenntnisreiche Postzusteller bei der Autoreparatur als kenntnisarmer Laie. In modernen Gesellschaften, so Osrečki, sind Menschen „sehr oft Laien und sehr selten Spezialisten“ (16). Laien bilden also keine bestimmte und abgrenzbare Gruppe, sondern entziehen sich gerade dieser Begrenz- und Bestimmbarkeit. Sie seien daher „überall und nirgends“ (16).

Spannend wird dieses Verhältnis von Laien und Experten dann, wenn die Laien – nach dem modernen Grundsatz der Gleichheit – meinen, in Expertensachen mitreden zu dürfen und zu können, oder umgekehrt – nach demselben Grundsatz – Experten meinen, dem unkundigen Laien ihr Expertenwissen mitteilen zu müssen und zu können. Denn dann verwischen sich die Grenzen; und die Grenzüberschreitungen liefen in der Konsequenz auf die Aufhebung eines Verhältnisses hinaus, das doch ein Element moderner arbeitsteiliger und funktional ausdifferenzierter Gesellschaften ist. Man sieht, dass ‚der Laie’ offenbar ein spannender soziologischer Gegenstand ist, um die Dynamik der modernen „bürgerlichen Gesellschaft“ verstehen und begrifflich fassen zu können.

Wo also findet man den Laien? Osrečki sagt mit Niklas Luhmann: in sozialen Systemen. Im politischen System fungiert der Laie als Wähler, der – zumindest im Parlamentarismus – dem Abgeordneten ausdrücklich seine Stimme überträgt; im ökonomischen fungiert er als Konsument, der die Produkte der Experten erwirbt und ohne Detailwissen gebraucht; im pädagogischen System ist er Schüler, der vom Lehrer Wissen erwirbt, im Gesundheitswesen nimmt er die Rolle des unkundigen Patienten ein, der sich dem kundigen Arzt anvertraut; im Kultur- und Sportbetrieb fungiert er als Zuschauer oder -hörer, der die Handlungen professioneller Akteure verfolgt. Allein im familiären System sowie unter Freunden, so Osrečki, funktioniert diese Begrifflichkeit nicht; denn weder die Liebe noch die Freundschaft lassen sich nach dem „Laie-Experte“-Schema verstehen.

Im Weiteren unterscheidet Osrečki zwischen dem „schwachen“ und dem „starken“ Laien. Laien sind oder gelten als schwach, wenn sie sich nicht artikulieren und als „wenig durchsetzungsstark“ (54) erscheinen. Als „schwach“ seien die Laien von den Sozialwissenschaften daher lange Zeit als marginal, unspezifisch und uninteressant beurteilt worden, oder sie wurden, vor allem in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, ihrer Artikulationslosigkeit wegen als dumpfe, unter Umständen auch als zivilisationsbedrohende Masse etikettiert.

In der Mitte des letzten Jahrhunderts seien dann von Talcott Parsons die Grundlagen für das gelegt worden, was Osrečki die „starken Laien“ nennt. Parsons ging davon aus, dass es ohne Laien gar keine Experten geben könne, und dass zwischen ihnen eine spezifische Art der Kooperation bestehe, die er allerdings nicht näher analysiert hatte. An diesen Gedanken der Kooperation knüpften im Weiteren dann die Soziologen Thomas H. Marshall, Theodor Geiger und Norbert Elias an. Sie nahmen an, dass es zwar weiterhin Machtunterschiede zwischen Laien und Experten gebe, dass sich jedoch – im Zuge der „Demokratisierung“ – diese Ungleichheiten zunehmend einebnen würden. Schließlich habe Luhmann mit seiner Systemtheorie die Vorlage gegeben, um die spezifische und auch notwendige Rolle der Laien oder des „Publikums“ innerhalb sozialer Systeme studieren zu können. Darauf aufbauend habe dann Rudolf Stichweh den starken oder aktiven Laien ins Zentrum gerückt und auf die wichtige Rolle hingewiesen, die Laien in modernen Gesellschaften für die sozialen Inklusionsprozesse spielen.

Verstehe ich Osrečkis Überblick über die „schwachen“ und „starken“ Laien recht, so ist er offenbar der Auffassung, dass die Sozialwissenschaften lange Zeit, von Karl Marx über Émile Durkheim bis Max Weber, mit dem abstrakten und vagen Begriff des „Laien“ nichts anzufangen wussten. Gegenstände waren für sie bestimmbare soziale Gruppen wie die Arbeiter, die Frauen, der Mittelstand etc. Fassbar und sichtbar sind Laien erst mit den „sozialen Bewegungen“ seit Ende der 60er Jahre geworden, als die Experten als „Technokraten“ auf den verschiedensten gesellschaftlichen Feldern durch Laien mit ganz unterschiedlichen Motiven herausgefordert wurden. Seither konzentrierte sich die Sozialwissenschaft nicht nur auf die Untersuchung dieser „starken Laien“, sondern sympathisierte und unterstützte oft auch deren „bürgerschaftliches Engagement“ (171) gegen das Expertenwissen, von dem sie sich eine Demokratisierung und einen Abbau von Herrschaft erwartete. Bei dieser idealisierenden Konzentration auf die engagierten und meinungsstarken Laien ließ sie jedoch, so Osrečkis Kritik, die ‚schweigende Mehrheit’ der indifferenten Laien weitgehend außer Acht.

Den entscheidenden und neuen Gesichtspunkt seiner Untersuchung sehe ich nun darin, dass er nicht mehr jenen „starken Laien“, den engagierten Bürger:innen, eine gestaltende und verändernde Handlungsmacht zuspricht und zutraut, die sich weitgehend verflüchtigt habe, sondern dass er umgekehrt gerade der „Unwissenheit“, die den Laien gegenüber dem Experten auszeichnet, eine eigentümliche Macht im Rahmen der Reproduktion der gegenwärtigen sozialen Systeme zuweist. Um diese neue „Macht der Unwissenheit“ zu erläutern, geht er davon aus, dass vormals das soziale System „versäult“ gewesen sei. Es gab unterschiedliche „Milieus“ oder „Säulen“, welche die Beziehungen zwischen Laien und Experten überwölbten und prägten. So gab man etwa als Arbeiter mehr oder weniger selbstverständlich Experten die Stimme, die die Anliegen der Arbeiter politisch vertraten; man kaufte in den Konsumgenossenschaften ein oder nahm an Arbeiterbildungsvereinen und deren Kulturangeboten teil. Ähnliches galt für die „Säulen“ des Katholizismus, des liberalen bzw. rot-grünen Bürgertums.

Doch diese „Versäulung“ der Gesellschaft sieht Osrečki schwinden; und damit ändern sich auch die Beziehungen zwischen Laien und Experten. Denn mit dem Schwinden der Milieus werde das Verhalten der Laien „überdeterminiert“, es wird diffuser, zufälliger und unberechenbarer. Diese Unbestimmtheit des Laienverhaltens bedeute für die Profis jedoch ihrerseits eine zunehmende Unwissenheit vom Laien. So wissen die Parteien nicht nur immer weniger über ihre ‚Wechselwähler’, sie müssen ihnen in ihrer Programmatik auch hinterherlaufen; gleichfalls können Wirtschaft und Handel das Konsumverhalten ihrer Käufer immer weniger vorhersehen, so dass ihre Investitionen riskanter werden; Lehrer sehen sich durch das unberechenbare Verhalten ihrer Schüler zunehmend überfordert, usw. Diese „Macht der Unwissenheit“ erkennt Osrečki auf Seiten der Laien darin, dass ihre jeweilige soziale Rolle für sie selbst ungewisser und unvorhersehbarer wird – er spricht vom „Nichtwissen um die genaue Präferenzordnung“ (242) –, und dass sie gerade durch dieses Nichtwissen ihre Macht auf die ratloser werdenden Experten ausüben.

Nun ist diese Auflösung der ‚alten Ordnung’ oder der ‚Entsäulung’ seit Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ und dann erneut durch Andreas Reckwitz’ „Gesellschaft der Singularitäten“ von den Sozialwissenschaften oft beschrieben worden. Verstehe ich Osrečki richtig, dann bedeutet für ihn diese Auflösung jedoch zugleich einen Zuwachs an Freiheit. Auf der Seite der Experten finde eine Autonomisierung der Systeme statt, die programmatisch nicht mehr an die diffuser gewordenen Bedürfnisse und Interessen ihrer ‚Kunden’ gebunden sind und daher in ihrer Programmgestaltung unabhängiger, aber auch unbestimmter geworden sind. Auf der Seite der Laien hingegen ist mit der Entsäulung der Gesellschaft die Freiheit zur eigenen Meinung im Rahmen der Öffentlichkeit, zur Wahl verschiedener Parteien oder zur Entscheidung der Konsumenten beim Einkauf gewachsen, die doch alle tief im Versprechen moderner Gesellschaften verankert seien.

Offen bei Osrečkis „Lob der Inkonsequenz … und des Nichtwissens“ (293) in seiner Beschreibung einer solch ‚offenen Gesellschaft’ scheint mir allerdings zu sein, ob sich dieses „Nichtwissen“, das er konstatiert, sowohl auf Seiten der Laien als auch der Experten tatsächlich optimistisch als ein Zugewinn an Freiheit interpretieren lässt, oder ob es sich, eher pessimistisch, nicht doch in einer zunehmenden Unberechenbarkeit und Irrationalität des gesellschaftlichen Gesamtsystems ausdrückt, die – wovor andere Soziologen warnen und die Zeichen sich mehren – durchaus in ein äußerst dumpfes, diffuses wie homogenes, Wollen umschlagen kann. Das wäre jedoch der Gegensatz zu einer ausdifferenzierten und rationalen modernen Gesellschaft.

Angebauer/Wesche – Theorien des Eigentums

Niklas Angebauer/Tilo Wesche

Theorien des Eigentums. Zur Einführung

br., 304 Seiten, 17,90 €

Hamburg 2024 (Junius-Verlag)

von Alexander von Pechmann

Nach Jahrzehnten des Stillschweigens ist seit einiger Zeit in den Sozialwissenschaften, aber auch in der Ethik die Debatte um das Eigentum intensiver geworden. Die Wohnungsnot in den Städten, die zunehmende Ungleichverteilung des globalen Reichtums sowie die vielfältigen ökologischen Krisen werden vermehrt in einen Zusammenhang mit der Eigentumsfrage und der damit verbundenen Verfügungsmacht über den gesellschaftlichen Reichtum gestellt.

Ausdruck dieses wiedererweckten Interesses ist die Einführung in die „Theorien des Eigentums“ der Oldenburger Philosophen Niklas Angebauer und Tilo Wesche, die auch an dem universitätsübergreifenden DFG-Forschungsprojekt über den „Strukturwandel des Eigentums“ beteiligt sind. Sie haben ihr Buch in insgesamt sechs „Positionen“ gegliedert, die die historisch wie systematisch wesentlichen Theorien über das Eigentum abdecken. Sie reichen – innerhalb der europäischen Denktradition – von Aristoteles bis zu John Rawls; und die einzelnen Kapitel sind nach den Prinzipien geordnet, die das Eigentum als Rechtsinstitut in der jeweiligen Theorie begründen.

Unter der Idee der „Gemeinschaft und des Gemeinwohls“ fassen die Autoren im ersten Kapitel die Eigentumstheorien des Aristoteles, der christlichen – m.E. eher katholischen – Soziallehre sowie des Kommunitarismus zusammen. Und in der Tat diskutieren diese Theorien – trotz unterschiedlicher Begründungen – die Fragen nach der Rolle und der Funktion des Eigentums in einem umfassenderen gesellschaftlichen Kontext, in dessen Rahmen die je private Verfügung über die Dinge und Güter eingeordnet und -gebettet sein soll. Für Aristoteles war dieser Rahmen die Polis, für das Christentum die religiöse und für den Kommunitarismus die säkulare Gemeinschaft. Was mir allerdings bei dieser Vor- und Darstellungsweise als unterbelichtet erscheint, ist, dass Aristoteles – gegenüber Platon – große Schwierigkeiten hatte, das individuelle Recht auf private Verfügung über die Dinge, damals vor allem über den Boden, mit der Verantwortung und der Verpflichtung des Bürgers gegenüber der Polis zu vermitteln. Aristoteles weiß zwar, dass das Eigeninteresse der (sklavenhaltenden) Grundbesitzer dem Gemeinwohlinteresse der Polis durchaus entgegensteht. Aber er hoffte angesichts dessen – letztlich vergeblich – auf die Erziehung jenes griechischen ‚maßvollen Tugendbürgers’, der beides, sein privates und das öffentliche Wohl, in seiner Seele zu verbinden vermag.

Auch die Darstellung der „christlichen Soziallehre“ erscheint mir allzu glatt. Nicht erwähnt wird die ‚Feindschaft’ des Christentums gegen das „Habenwollen“ als Reich des Bösen über nahezu ein Jahrtausend („eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr als ein Reicher ins Himmelreich“), die im kirchlichen „Armutsstreit“ mündete und erst durch Thomas von Aquins Rezeption des ‚Heiden’ Aristoteles ermäßigt wurde. Thomas sah das private Eigentum, nach dem „Sündenfall“, unter gewissen Umständen und unter Beachtung ethischer Regeln als gerechtfertigt an. Und noch bis heute schwelt in der katholischen Soziallehre der Streit um die Legitimität des Privateigentums, wie er nicht zuletzt jüngst von Papst Franziskus wieder befeuert wurde („Diese Wirtschaft tötet.“). Meines Erachtens hätte die Darstellung dieser Begründungsaporien und Kontroversen zwischen Privateigentum und Seelenheil dem Leser die christliche Soziallehre durchaus nähergebracht.

Höchst informativ hingegen ist das Kapitel über die „Arbeitstheorie“, die John Locke und den Libertarismus umfasst. Die Autoren zeigen, dass Lockes Theorie, das Privateigentum auf die Arbeit zu gründen, durchaus komplexer und voraussetzungsreicher ist, als sie üblicherweise verstanden wird. Überzeugend jedenfalls ist die Deutung, dass Locke sowohl die Arbeit als auch den Genuss ihrer Früchte als eine ethisch-religiöse Veranstaltung verstanden hatte, um das Gute und Gerechte in der Welt zu mehren. Sie macht damit nicht nur die ethischen Regeln deutlich, denen der Eigentumserwerb bei Locke unterliegt, sondern auch den kulturellen Hintergrund seiner Eigentumstheorie, der es den „heidnischen Wilden“ schlicht absprach, überhaupt Eigentümer ihres Grund und Bodens sein zu können. Diese ethischen Gemeinwohlziele und -schranken sind jedoch bei den heute wieder populär gewordenen Libertaristen gefallen. Für sie bedeutet Eigentum das Recht, alles zu tun, was die Rechte anderer nicht verletzt. Eingriffe des Staates zugunsten des Gemeinwohls etwa durch Steuern sind daher schlicht Diebstahl. Mit Recht konstatieren die Autoren, dass die gegenwärtige Eigentumstheorie solch reflexionslosen Behauptungen nur „mit großer Skepsis“ (68) begegnet.

Ähnliche Vorbehalte durchzieht auch die Darstellung der utilitaristischen Theorien, die gleichfalls simpel, aber wirkungsvoll das Recht aufs Privateigentum mit dem „Wohlstand“ verbinden. Sie greifen dabei auf Aristoteles’ umstrittenes Argument zurück, dass eine Ordnung des Privateigentums effektiver als eine des Gemeineigentums sei. Und da nach Jeremy Bentham Maß und Ziel alles menschlichen Strebens der Nutzen oder die Wohlstandsmehrung sei, sei das Recht auf Privateigentum das beste Mittel, diesen Wohlstand zu befördern. Diesem Kurzschluss halten die Autoren die Einsichten der „Neuen Institutionenökonomik“ entgegen, die hinsichtlich der unterschiedlichen Güter durchaus differenzierter argumentiert und die Effizienz von privaten, gemeinschaftlichen und öffentlichen Eigentumsformen untersucht und diskutiert.

Originell und zugleich gründlich ist die Darstellung der Theorie von Hegel unter dem Titel „Eigentum als Widerspruch“. Sie zeigt, wie sehr für Hegel die Eigentumsfrage in seine Gesamtphilosophie eingebettet ist, in der das Vernünftige wirklich, das Wirkliche aber – letztlich – auch vernünftig ist. Ausgangspunkt seiner Eigentumstheorie ist die „Idee der Freiheit“. Freiheit, das Prinzip des Geistigen, aber ist für ihn nicht nur ein Inneres, sondern hat notwendig auch eine äußere Sphäre ihres Daseins. Eigentum ist insofern die Verfügungsmacht der (freien) Person über Äußeres. Doch diese „Person“ ist für Hegel nichts Fertiges, sondern schreitet durch ihre inneren Widersprüche vom abstrakten Ich zum konkreteren Wir fort. In diesem Sinne beginnt Hegel mit der einfachen und abstrakten Form des Rechts als Privateigentum, als des exklusiven Rechts des Individuums, von seiner Sache einen freien Gebrauch zu machen. Jedoch weist der innere Gegensatz dieses Rechts von privater Inklusion und sozialer Exklusion über diese Eigentumsform hinaus. Im Familieneigentum als höherer Form des Sittlichen sieht Hegel diesen Gegensatz aufgehoben: an die Stelle des abstrakten Individuums tritt das Kollektiv der Familie als Rechtsperson und Eigentümer. Doch auch diese partikulare Form löst sich schließlich auf in der höheren Form eines gesellschaftlichen Eigentums. Für Hegel ist also letztlich die ‚bürgerliche Gesellschaft’ erst die wahrhaft freie Rechtsperson, die, gleichsam als ‚Obereigentümer’, durch die staatliche Gesetzgebung sowohl den Inhalt als auch die Grenzen des privaten Eigentums und des Erbrechts – möglichst widerspruchfrei – regelt.

Diese logisch-systematische Entwicklung des Eigentums als „Idee der Freiheit“ verbindet Hegel zugleich mit der historischen Genese, nach der zunächst Einer, der Despot, freier Eigentümer war, dann Einige, die Adligen, frei waren und schließlich wir alle, als Bürger, frei geworden sind. Die Freiheit der Person, so Hegel, habe vor anderthalbtausend Jahren „durch das Christentum zu erblühen angefangen … Die Freiheit des Eigentums aber ist seit gestern … Ein Beispiel aus der Weltgeschichte über die Länge der Zeit, die der Geist braucht, um in seinem Selbstbewusstsein fortzuschreiten – gegen die Ungeduld des Meinens“ (129).

Bekanntermaßen hat sich auch Karl Marx gegen jene „Ungeduld des Meinens“ gewandt, die als „utopische Sozialisten“ das bestehende Privateigentum kritisierten, um die „wahre“ oder „menschliche“ Eigentumsordnung zu ersinnen. Doch von diesem Vorbehalt ist in der Darstellung von Marx’ „Kritik des Eigentums“ nichts zu spüren. Er wird recht umstandslos eingereiht in eine ethisch motivierte Kritik des Privateigentums, die zugleich Konzepte eines „wahren Sozialismus“ entwarf. Und in der Tat gibt der junge Marx mit seiner Kritik der Entfremdung und Ausbeutung genügend Stoff für eine solche Lesart. Doch für den Verfasser des „Kapitals“ trifft sie nicht mehr zu. Man sollte es meines Erachtens ernst nehmen, wenn Marx dort die „Ausbeutung“ durchaus nicht moralisch bewertet, sondern sie analytisch erklärt. Die zentrale Einsicht für diese Erklärung – um die er lange gerungen hatte – war, dass dem Arbeiter nicht – ungerechter Weise – der Lohn für seine Arbeit vorenthalten wird, sondern dass er – gerechter Weise – für den Wert seiner Arbeitskraft bezahlt wird. Daher gehe auf dem Arbeitsmarkt alles mit rechten Dingen zu: Der Arbeiter erhält den Lohn für die Erhaltung seiner Arbeitskraft – der Kapitalist erwirbt den Gebrauch seiner Arbeitskraft. Dass der Wert, den ihr tatsächlicher Gebrauch dann schafft, größer ist als ihr eigener Wert, „ist ein besondres Glück für ihren Käufer, aber durchaus kein Unrecht gegen den Verkäufer“ (208) … die Gesetze des Warentauschs (sind) in keiner Weise verletzt. Äquivalent wurde gegen Äquivalent ausgetauscht“ (209).

Die Aneignung der Mehrarbeit oder des Mehrwerts durch den Kapitalisten ist für Marx also „durchaus kein Unrecht“. Ja, er begreift diese kapitalistische Eigentumsform geschichtlich als progressives Element zur Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivkräfte, die jedoch ihre immanenten Gegensätze und Widersprüche hervorbringt, die erst im Rahmen einer geschichtlich ‚höheren Gesellschaftsformation’ gelöst werden können. Wie sich eine solche Gesellschaftsformation freilich in concreto organisieren wird, das könne nicht, so betonte Marx immer wieder, sein eigenes (theoretisches) Werk, sondern müsse das (praktische) Werk der Arbeiterklasse selbst sein, das er bestenfalls, zeit seines Lebens, beratend begleiten könne.

Wenn die Autoren daher die Auffassung vertreten, Marx’ „emanzipatorische Bedeutung des Eigentums“ bestehe darin, dass der Mehrweit „zu Unrecht angeeignet (wird), weil er das Eigentum des Arbeiters ist, der ihn produziert“ (154), dann wird der historische Materialist Marx flugs in einen naturrechtlichen Lockeaner, vielleicht auch Smithianer, umgedeutet. Die geschichtsphilosophische Pointe seiner Eigentums- und Kapitaltheorie wird damit jedoch verfehlt.

Überraschend, aber durchaus nachvollziehbar ist im Folgenden die Einordnung der Theorien von Hobbes, Kant und Rawls unter dem Begriff der „Demokratisierung des Eigentums“, da doch der Hobbes’sche „Leviathan“ auf den ersten Blick nichts mit Demokratie zu tun hat. Doch die Autoren arbeiten heraus, dass für Hobbes das Recht auf privates Eigentum kein natürliches Recht ist, sondern dass es auf einem ursprünglichen Gesellschaftsvertrag gründet, in dem die Menschen ihr natürliches, aber bedrohtes Recht auf alles zugunsten des Schutzes ihres privaten Eigentums durch den starken Staat aufgeben. Es ist damit zwar der Staat, der souverän über „Gestalt, Grenzen und Schranken der Eigentumsrechte“ (180) bestimmt, aber er muss zugleich den Schutz dieser Rechte garantieren. Die Autoren nennen Hobbes einen „Wegbereiter der Demokratie wider Willen“ (182), weil für ihn jeder Bürger das Recht auf Eigentum und dessen Schutz hat. Ähnlich argumentiert Immanuel Kant insofern, als für ihn das Recht auf „das Meine“ zwar der reinen Vernunft entspringt, dass aber seine Geltung auf dem „vereinigten Willen des Volkes“ (195) gegründet ist. Denn weil „das Meine“ zugleich den Zugang anderer ausschließt, kann diese Ausschließung nur gerechtfertigt sein, wenn ihr alle zustimmen. Dies aber bedeutet, so die Autoren, dass für Kant das Recht auf privates Eigentum seine Legitimität nur dann besitzt, wenn alle – im Unterschied zu Hobbes – demokratisch an der Gesetzgebung teilhaben können. So gesehen macht Kant also die Legitimität der Eigentumsrechte von der demokratischen Verfassung des Staates abhängig. Über diese Argumentation hinaus geht John Rawls, der diesen vertragschließenden und gesetzgebenden Willen seinerseits an Prinzipien der Gerechtigkeit bindet. Für ihn ist eine Eigentumsordnung nur dann gerechtfertigt, wenn sie diese Prinzipien nicht verletzt bzw. ihnen entspricht. Dies gilt nach Rawls zum einen für eine privatwirtschaftliche Eigentumsordnung, insofern sie mit einer effektiven staatlichen Sozialgesetzgebung verbunden ist, und zum anderen für eine gemeinwirtschaftliche Eigentumsordnung, die zugleich mit demokratischer Mitbestimmung verbunden ist. Rawls, entgegnen die Autoren, mache so den Eindruck, als wären in gerechtigkeitstheoretischer Hinsicht eine ‚soziale Marktwirtschaft’ und ein ‚demokratischer Sozialismus’ „gleichwertig“ (211). Argumentiere man jedoch „werttheoretisch“, wonach das Eigentum durch die eigene Leistung gerechtfertigt ist, müsse hinsichtlich der gesellschaftlichen Produktion das Gemeineigentum den Vorrang vor dem Privateigentum haben. „Rawls’ Einsicht, dass es keine politische Demokratie ohne Demokratisierung der Wirtschaft gibt“ (212), weise über sich hinaus: „Die Demokratisierung des Eigentums findet seine Fortsetzung im demokratischen Sozialismus, in dem das Wirtschaftseigentum in Gestalt von Gemeineigentum demokratisiert wird“ (ebd.).

In diesem Kapitel zeichnen die Autoren so ein historisch-systematisches Bild von der „Demokratisierung des Eigentums“, das mit Hobbes’ Modell der Garantie des Privateigentums durch den absolutistischen Staat beginnt, das mit Kants republikanischem Modell einer allgemeinen Zustimmung der Eigentumsrechte und mit den Rawls’schen Modellen der beiden sozialen Eigentumsordnungen weitergeführt wird, um schließlich im Modell eines demokratisch organisierten gemeinschaftlichen Eigentums zu münden.

Abschließend werden als „Ausblicke“ noch die weiterreichenden Fragen erörtert, wem die Daten gehören, wem die Stadt und wem die Natur gehört. Dabei machen die Autoren keinen Hehl, dass für sie letztlich Formen des kollektiven Eigentums die angemessenen Rechtsverhältnisse sind, unter denen die Probleme der Digitalisierung, des städtischen Lebens und des Naturschutzes als lösbar erscheinen.

Trotz der formulierten Einwände gibt das Buch durch seine klare Strukturierung einen ausgezeichneten Überblick über die historisch unterschiedlichen Begründungen des Eigentums in ihrer jeweiligen Zeit sowie eine gehaltvolle Einführung in die auch heute relevanten Theoriegebäude über das, was jeweils als Eigentum verstanden wird, und wie es begründet und gerechtfertigt werden kann. Es ist ihm zu wünschen, dass es dazu beiträgt, das Pro und Contra in den gegenwärtigen Debatte ums Eigentum begründeter und argumentativer führen zu können.

Horn – Klima. Eine Wahrnehmungsgeschichte

Eva Horn

Klima. Eine Wahrnehmungsgeschichte

geb., 608 Seiten, 8 Farb- und 23 S/W-Abbildungen, 34,- €

Frankfurt/Main 2024 (Fischer-Verlag)

von Olaf Sanders

Eva Horn beginnt ihre Wahrnehmungsgeschichte mit einer kleinen Erzählung von einem Besuch im PS1, einem Museum für zeitgenössische Kunst im New Yorker Stadtteil Queens, das seit der Jahrtausendwende zum Museum of Modern Art gehört. Schaut man sich das Museum auf Google Maps an, so sieht man das geöffnete Dach, das den Himmel freigibt in James Turrells Installation Meeting von 1986, die im Bildteil von Horns Buch auch abgebildet ist. Als Horn den Raum betritt, sitzt niemand auf den Bänken des „sehr hellen und überraschend kalten Raum[es]“ (9). Horn vermutet, dass die Heizung ausgefallen sei, bis ein Vogel durch das Bild fliegt und ihr auffällt, dass das Bild der blaue Himmel über ihr ist. Wie bei vielen Installation Turrells entpuppt sich das Bild als diffuser Raum. Turrell führt einen gleichsam zwischen die Dimensionen – und dieses Anliegen scheint Horn mit ihm zu teilen, indem sie eine verlorengegangene Dimension wieder hinzuzufügen versucht: „Dieses Buch ist der Versuch, das Klima aus genau jener sinnlichen, kulturellen und historischen Perspektive in den Blick zu nehmen, die dem naturwissenschaftlichen Zugang fehlt“ (16).

Es geht ihr also um die Wiederergänzung dessen, was der auf Messdaten und Evidenz basierenden Klimaforschung fehlt und durch deren Dominanz im Klimadiskurs marginalisiert wurde bzw. aus ihm weitgehend verschwunden ist. Dieses Bild möchte Horn durch eine „Aisthesis des Klimas“ (21) vervollständigen, die „auf ästhetische Darstellungen angewiesen“ ist. Obwohl sie gleich im Anschluss einen Ausspruch des englischen Malers William Turner zitiert, spielen jedoch bildende Kunst, Film, Architektur oder Musik im Vergleich zur Literatur eine deutlich geringere Rolle.

Im ersten Kapitel fragt Horn, was Klima gewesen ist, bevor es das „durchschnittliche Wetter“ wurde. Sie kehrt dafür zu Hippokrates zurück, für den Heilung mit dem Verständnis des Einflusses des Orts auf die ins Gleichgewicht zu bringenden Körpersäfte verbunden gewesen sei, und zu Vitruv, der die medizinische Perspektive mit der geographischen verbunden habe, die sich noch in den „Klimazonen“ ausdrückt. Die Luft erweist sich als planetares Medium. Von der meteorologischen Medizin legt, wie Horn eingangs des zweiten Kapitels zeigt, noch Flauberts Roman Madame Bovery Zeugnis ab. Die Konstanz der klimatischen Verhältnisse werde durch Winde dynamisiert, die „invasiv, gewalttätig, reinigend und zerstörerisch“ (69) sein können und „kulturhistorisch also einen zweischneidigen Ruf“ (71) haben. Winde transportieren Miasmen, „schädliche Ausdünstungen des Bodens oder stehender Gewässer, Produkte von Fäulnisprozessen oder stark riechende Substanzen, Exhalationen von Menschen und Tieren“ (74) , die lange als „‚Befleckung‘ der Luft“ (75) und Verursacher von Epidemien galten. Noch in Manns Novelle Der Tod in Venedig geht Gustav von Aschenbach als „Meteopath“ (75) zugrunde, obwohl Robert Koch den Cholera-Erreger längst als aquatisches Bakterium identifiziert hatte. Dessen ungeachtet zeigt die Covid-19-Pandemie, dass „Luftkrankheiten“ nie ganz verschwunden waren. Im dritten Kapitel rekonstruiert Horn die Genese einer thermischen Anthropologie, die zur Stereotypenbildung bis zum Rassismus in Kultur- und Kolonialgeschichte beigetragen haben.

Im vierten Kapitel wendet sie sich Herder zu, der den Menschen in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit als „‚Zögling‘ des Klimas beeinflusst, aber nicht determiniert“ (163) sah und die „Sklaverei als klimatisches Verbrechen“ (172) bestimmt hatte. Flankiert wird dessen Auffassung durch Alexander von Humboldt, für den, wie er in Kosmos ausführt, „die Einheit des Menschengeschlechts“ (164) in ihrer ganzen Diversität „jeder unerfreulichen Annahme von höheren und niederen Menschenracen [widerstrebt]“ (ebd.). Horn zeigt sich als große Kennerin der Kolonialliteratur, wobei sie vor allem Louis Couperus’ Roman Die stille Kraft, der auf deutsch kaum noch zugänglich ist, einer ausführlichen Analyse unterzieht. In seinem Roman wirkt das „koloniale Klima“ als „anti-kolonialer Widerstand ohne Subjekt“ (191), der die Akklimatisierung der Niederländer in Indonesien verunmöglicht. Als theoretische Zeugen für die Wirkung des Animismus’ ruft Horn vor allem Davi Kopenawa und Eduardo Viveiros de Castro auf. Aus systematischer Hinsicht wäre hier als Anschluss an das Projekt von Herder und Humboldt – auch im Hinblick deren Aktualisierung, die Horn mitbetreibt – ein Bezug auf die großen Bücher von Philippe Descola Jenseits von Kultur und Natur und Die Formen des Sichtbaren wünschenswert gewesen.

Das umfangreichste fünfte Kapitel trägt den Titel „Himmel – Erde – Luft: Die Atmosphäre“ und untergliedert sich in drei Unterkapitel, die bereits behandelte Themen vertiefen. Horn beginnt mit der kontrastierenden Analyse zweier Luftreisen anhand des Gedichts des indischen Dichters Kalidasa Wolkenbote und Jules Vernes Abenteuerroman Fünf Wochen im Ballon. Während das Gedicht „den Himmel mit der Erde, Götter und Göttinnen mit den Menschen, das Wetter mit dem Leben, Liebende und Geliebte“ (213) verbinde, „erscheint die Meteorologie im Roman als ein regelhaftes Feld des Wissens, das man überschauen und beherrschen kann wie die erstaunlich unfallfreie Mechanik des Ballons“ (216). Später (284) bezeichnet sie das Feld auch als „navigierbaren Raum“, den Lev Manovich, der hier nicht als Referenz dient, als symbolische Form auffasst. Auf der Suche nach einer „Lehre vom Schwebenden“ kehrt Horn erst mal zu Aristoteles und Virgil zurück, um die Atmosphäre „als erdgebundene Dampf- oder Gashülle“ (225) zu fassen, in der wir dann Torricelli zufolge „eingetaucht auf dem Grund eines Meeres von elementarer Luft“ leben. „‚Wie die Fische im Wasser“, so der Physiker Otto von Guericke, „leben und bewegen sich die Landwesen in diesem Luftmeer“ (ebd.). Die Metaphorik der Physiker situiert den Menschen „im Inneren eines Mediums, das ihn umfängt“ (229). Als dazu passende „Medientheorie“ führt Horn Barthold Heinrich Brockes Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott ins Feld, die sie ein weiteres Mal zu Herder und Humboldt zurückführt, diesmal im Hinblick auf die Unterscheidung von Mikro und Makro. Während Herder doch eher auf die „Local-Bestimmung“ (238) oder „das Singuläre“ (247) mit dem Menschen als Mittler(em) setzt, führt Humboldts globale Datensammelpraxis zu einer ersten Isothermen-Weltkarte (242), die als wichtige Vorarbeit zur Abstraktion des durchschnittlichen Wetters gelten kann. Später verteidigt Horn Herder auch noch gegen Kants Kritik unzureichender Systematizität und stellt ihn ins Gefolge Spinozas (425 f.).

Die „Mathematisierung der Meteorologie“ (261), so Horn, verunmöglicht zusehends ein Denken von Wolken als Übergänglichem, wie Goethe es noch zu denken versucht und es auch in der Opazität des Dampfes auf Turners Schneesturm-Gemälde (auch im Farbbildteil abgebildet) oder Adalbert Stifters Schneesturm-Beschreibung in Aus dem bairischen Walde zur Darstellung kommt. Turners Freund John Ruskin erkennt im Rauch dreißig Jahre nach Turners Gemälde nur noch ein industrielles Abfallprodukt, das als „Medium nun verdorben, ästhetisch zweideutig und atmosphärisch vergiftet“ (275) erscheint. In dieser Zweideutigkeit verschränken sich Innen- und Außenwelt. Wie dies geschehen kann, illustriert Horn am Beispiel von Zolas Roman Ein Blatt der Liebe. Der Verlauf der unmöglichen Liebe korrespondiert den Jahreszeiten, die Luft bringt den Tod wie bei Mann. Schließlich normalisiert sich das Wetter, während die Welt aus den Fugen gerät, wie Horn am berühmten Anfang von Musils Der Mann ohne Eigenschaften erläutert, der, wie sie zeigt, meteorologisch vollkommen sinnlos ist und so umso trefflicher auf die Sinnlosigkeit des Ersten Weltkriegs vorausweist, nach dem „die planetarische Perspektive“ nicht mehr abgewiesen werden kann.

„Herders und Humboldts Idee vom Klima als Systemzusammenhang wird nun mathematisch modelliert“ (293). Die Erdsystemforschung etabliert sich; und John Lovelock und Lynn Margulis entwickeln die Gaia-Theorie. Die kleine Tour de Force durch das noch vergleichsweise junge Genre der Climate Fiction, kurz: Cli-Fi, die den Menschen das abstrakte Klima-Geschehen wieder sinnlich erfahrbar machen soll, endet bei Philipp Weiss’ fünfbändigem Welt-Roman Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen, dessen Besonderheit darin besteht, das Weiss mit diesem Roman auch ein literarisches Form-Experiment wagt und das „Modell von stabilisierender Selbstregulation“ auflöst, weshalb am Ende wenig zu lachen bleibt.

Mit dem sechsten Kapitel setzt Horn in der Reflexion des Zusammenhangs von Zeit und Klima neu an. Sie beschreibt zunächst, wie die Jahreszeiten ihre ordnende Rolle verloren haben, die sie von der Antike bis zur Aufklärung innegehabt hatten. Hier hätte sich als Vergleich zu Poussins Jahreszeiten-Zyklus (ebenfalls im Bildteil) auch Philipp Otto Runges Die Zeiten angeboten; aber die Romantik spielt in Horns Buch insgesamt eine eher geringe Rolle. Die Zeit reicht, wie sie sehr plausibel schildert, als Tiefenzeit weiter zurück als der Mensch. In ihr treten Menschen- und Naturzeit auseinander. Mit Brechts Gedicht Über das Frühjahr läutet Horn dann die Epoche des Menschen ein, in der die Menschenzeit vorherrschend wird: das Anthropozän, das uns an unsere „Verantwortung für eine tiefe Zukunft“ (396) erinnert. Zu Beginn des siebten Kapitels stellt Horn fest, dass es angesichts des menschengemachten Klimawandels selbstverständlich sei, dass das Klima Gegenstand von Politik wird. Im Anschluss an Latour, der dafür plädiert, „die unausweichliche Verbundenheit des Sozialen mit dem Terrestischen wieder zum Gegenstand von Politik zu machen“ (407), schlägt sie vor: „Statt ‚Erdverbundenheit‘ könnte man also auch ‚Luftverbundenheit‘ sagen“ (407). Diesen Konjunktiv gibt sie jedoch nach und nach auf. Vorher zeigt sie noch nach ausführlicher Analyse von Stifters Brigitta und Wilhelm Raabes Pfisters Mühle wie sich das „Klima als schlechthin Gemeinsames“ (452) – oder mit Canetti, den sie zweimal anführt, die Luft als „letzte[r] Allmende“ (u.a. 506) – sozusagen in Luft aufgelöst habe. Im achten Kapitel rekapituliert Horn erst die Strategien der Klimawandelleugnung und schlägt dann nach einer längeren Auseinandersetzung mit Kim Stanley Robinsons Das Ministerium für die Zukunft vor, auf politische Verhandlungen und leichte Militanz zu setzen, wie es im Kampf der Erdverbundenen vor allem auch Ende Gelände praktiziert und Andreas Malm auch schon in Wie man eine Pipeline in die Luft jagt vorgeschlagen hat. Im letzten Kapitel votiert sie abschließend für Luftverbundenheit als zeitgemäße Form des „Involviert-Sein[s]“ (506): „Luftverbunden zu sein, bedeutet, in einer Welt zu sein in der alles fließt, aber nichts verlorengeht, in der alle einen Atem teilen, gemeinsam wirbelnd in der Strömung des Luftmeeres.“

Horns vorgenommene Ersetzung von Latours Erdverbundenheit durch Luftverbundenheit halte ich für falsch. Meines Erachtens führt Erd- und Luftverbundenheit weiter, und – gemäß des guten alten Und-und-und von Deleuze/Guattari – wie es im „Luftmeer“ auch schon anklingt, Meer- oder Wasserverbundenheit. Diese drei Verbundenheiten bilden einen borromäischen Knoten, dessen zweiten Strang Horn materialreich in Erinnerung ruft und für die Zukunft fassbar macht.

Hier lässt sich weiterdenken. Zwar zitiert sie Gernot Böhmes Plädoyer Für eine ökologische Naturästhetik aus dem Jahr 1989, aber es wird so wenig aktualisiert wie Herders Ideen. So bleibt Horn die angekündigte die Klimaforschung ergänzende Ästhetik bzw. eine umfassendere Aisthetik des Klimas, zu der sie fraglos sehr umfassende und bedeutende Studien vorgelegt hat und mit dem vorliegenden Buch historisch informiert die Richtung weist, noch schuldig.

Fleury – Die Klinik der Würde

Cynthia Fleury

Die Klinik der Würde

geb., 150 Seiten, 24,- €

Berlin 2024 (Suhrkamp Verlag)

von Marianne Rosenfelder

Die westlichen Demokratien haben Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte und Würde verfassungsrechtlich verankert. Doch ist es, wie die Autorin darlegt, besonders um die Würde schlecht bestellt, obgleich der Begriff die sozialen, politischen und ethischen Debatten prägt und seine Anwendung ubiquitär ist.

Die Divergenz von Theorie und Praxis ist eklatant; denn die theoretische Wertschätzung der menschlichen Würde als universeller Grundwert und als Anerkennung der „Singularität und Vulnerabilität der Menschen“ wird konterkariert durch Armut, Prekarisierung und zunehmend entwürdigende Zustände in Institutionen wie Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern, Altenheimen oder Gefängnissen.

Nach Fleury tut sich zudem eine gesellschaftliche Kluft auf zwischen den „Gebern“ von Würde und Fürsorge, die unter saturierten Bedingungen leben, und denjenigen, die ihnen unterbezahlt zu Diensten stehen und dafür meist auch noch unwürdig behandelt werden, – „obgleich alle dieselbe irreduzible und nicht verhandelbare Würde besitzen“ (7). Sowohl in der Arbeitswelt als auch an Orten der sozialen Ausgrenzung gehe es heute primär darum, den mittlerweile üblichen Formen und Methoden der Entwürdigung zu entkommen, die in der Gesellschaft zu einem „gängigen Führungskonzept“ geworden sind.

Fleurys Intention ist es, dem Begriff der Würde wieder zu seinem Recht zu verhelfen. Dazu entwirft sie die Institution einer „Klinik der Unwürde“ (indignité), um die „Ränder und Kehrseite“ der Würde zu untersuchen und Fälle von „Unwürde“ interdisziplinär mittels der Geistes-, Sozial- und medizinischen Humanwissenschaften zu diagnostizieren und zu therapieren.

Würde ist nicht nur eine metaphysische oder ontologische Eigenschaft des Menschen. Der Begriff der Würde bedarf der Materialisierung. Würde bleibt ein leerer Begriff, wird sie nicht an Bedingungen geknüpft wie menschenwürdige Arbeit und Bleibe, Gesundheitsversorgung oder öffentliche und politische Handlungsfähigkeit. Eine Politik der Würde sollte, gestützt auf die Klinik der Würde, Probleme erkennen und ihre Implementierung im Sinne einer sozialphilosophisch verankerten relationalen, auf Interaktion bezogenen Konnotation des Begriffs umsetzen.

Als mögliche Gründe für die Divergenz von Theorie und Praxis des Wertes der Würde nennt Fleury sowohl die Kritik der Aufklärung als auch den westlichen Universalismus. Den Königsweg zur Überwindung des Gegensatzes von formaler und tatsächlicher Würde sieht sie in einer Care- oder Fürsorgeethik, die auf eine höhere Sensibilität für vulnerable Bevölkerungsgruppen sowie für ökologische Gefährdungen durch die industrielle Produktion und Konsumtion ziele.

Fleury umkreist diese Thematik in insgesamt sechs Kapiteln. In Die Zeitalter der Würde skizziert sie die Entwicklung dieses Konzepts. Seit der Antike war dignitas an Verdienst, Ehre, Adel und sozioökonomischen Status gebunden. Pico della Mirandolas Theorie der Selbstbestimmung des Menschen war ein erster Schritt aus dieser Determiniertheit. Die Forderung der Materialisierung der Würde als Zeichen ihrer Gültigkeit erfolgte mit Jacques Benigne Bossuets Traktat De l´éminent dignité des pauvres (1659).

Seit der Aufklärung und der Französischen Revolution steht der Begriff der Würde für die Moderne als Ära des Fortschritts im Sinne würdiger Lebens- und Arbeitsbedingungen. Von der sozialen Herkunft emanzipiert bezeichnet Würde nun den intrinsischen Wert der Person und den Respekt gegenüber den Rechten und der Singularität des Einzelnen. Würde ist daher ein ethischer und relationaler Begriff. Würdevolles Verhalten wird zum moralischen Anspruch. Unwürdig sind nicht diejenigen, „die unter unwürdigen Bedingungen leben, sondern diejenigen, die diese Bedingungen schaffen und tolerieren“ (14).

Derzeit könnte sich das Verständnis von Würde nach Fleury durch die Tendenz zur Verdinglichung des Menschen oder zur Ausklammerung sozialer und rechtlicher Kontexte erneut wandeln. Mit Axel Honneths sozialphilosophischer Theorie der Anerkennung sei der Begriff jedoch wieder relevant geworden, erwachse doch der Kampf um Anerkennung aus der Geringschätzung individueller wie kollektiver Leidensgeschichten und ziele auf die Kongruenz von formaler und realer Würde. Honneth priorisiere jedoch eine auf Singularität ausgerichtete Variante des Begriffs, die nur dann konstruktiv sei, wenn Anerkennung auch als relationaler Begriff verstanden werde und die politisch-ökonomische Frage der Gerechtigkeit der Güterverteilung berücksichtige.

Nach Fleury sollte die Reflexion des Universellen und des Begriffs der Würde den Prozess der De-Kolonisierung mit einbeziehen. Im Kapitel über Die universelle Unwürde definiert sie Unwürde als „Verletzung der physischen und psychischen Integrität“ (29). James Baldwin habe diese Verletzungen realistisch aus der Perspektive der Betroffenen beschrieben und damit seine Gemeinschaft restituiert. Die Würde ders Sklaven sei die des Widerstandes gegen Unfreiheit und symbolisiere die als universell zu interpretierende Würde der Aufklärung samt der oft ausgeklammerten gewaltsamen Kolonialgeschichte. Die Narrative der Klinik der Unwürde basierten auf der Weisheit von Überlebensstrategen, welche die moderner Philosophen überflügele. Mit Baldwin sei das Konstrukt der Klinik der Würde um das Schwarzsein im Sinne der universellen Erfahrung des Menschseins als Vulnerabilität erweitert worden.

Fleury bezeichnet die CareEthik als Phänomenologie des Politischen, die gesellschaftlich Verborgenes zur Sprache bringe. Wie die koloniale Ideologie der „Last des weißen Mannes“ ist care ein ambivalenter Begriff, da er mit dem Paternalismus und der Ungleichheit als Kehrseite des offiziellen Wohlwollens verbunden ist. Im Kapitel Die Klinik des Schmutzigen beschreibt Fleury die dem Begriff care immanente Negation:als dark care, dirty care oder dirty work werden Arbeiten bezeichnet, die als unwürdig gelten, es aber nicht sind. Den care-Arbeitern erscheint ihre Tätigkeit wie „erduldete Gewalt“(51), basiere sie doch auf konsolidierten Herrschaftsverhältnissen und berge Machtbeziehungen, die die Beherrschten zu Komplizen dieser Gewalt machen, indem sie verpflichtet sind, die Herrschenden zu umsorgen. Care sollte daher politisiert und unter Be-Achtung aller Beteiligten öffentlich thematisiert werden. Schließlich basiere unsere Würde auf der „Drecksarbeit der Mehrheit“, deren Innerlichkeit, Propriozeption und physische Intimität als Garanten der Würde verletzt werden. Trotz der psychischen Belastung für die Pflegenden müsse die Beziehung zu vulnerablen Personen menschlich gestaltet werden. Die Klinik der Un-Würde sollte hinterfragen, unter welchen Umständen die Verantwortlichen dirty care veranlassen. Obgleich sie bezüglich care darauf angewiesen sei, verdränge die Gesellschaft den Verkehr mit dem Unwürdigen und ziehe damit ihre Grenze.

Individuen, die der Freiheit beraubt sind, weisen Symptome auf, die Fleury als Pathologien der Würde thematisiert. Franz Fanon hat deren paradoxale Struktur analysiert: mentale Schäden durch unwürdige Zustände in kolonialen psychiatrischen Kliniken, in denen Kranke gerade von den Leiden, die vom Kolonialismus verursacht wurden, geheilt werden sollen – von der Entfremdung und Ich-Spaltung, der Fragmentierung oder, im Extremfall, Nekrotisierung der Existenz durch eine systematisch-institutionelle Verschlechterung der Lebensbedingungen.

Die primäre Erfahrung, der Kolonisierte ausgesetzt sind, ist die Möglichkeit des gewaltsamen Todes oder der Lebens- als Todesgeschichte. Diese Nekropolitik wurde in kolonialen Systemen praktiziert; aber auch nicht- oder de-koloniale Gesellschaften weisen heute solche Strukturen auf. Fleury rekurriert auf Judith Butlers und Frédéric Worms´ Beschreibung des unerträglichen, „unlebbaren“ Lebens „des deklassierten, mehr als prekären, heimatlosen Menschen“ (75), der, ständiger Ungewissheit ausgesetzt, zum Gefangenen seines Kampfes ums tägliche Überleben wird. In diesem Zustand kann das Subjekt sich nicht äußern und findet keine Anerkennung. Daher müsse Fürsorge politisiert, entgendert und Thema der Demokratie werden.

In Fanons Verdammten der Erde wurde, von Sartre sekundiert, die verlorene Würde und damit das Gefühl von Souveränität und Zugehörigkeit mit Gewalt zurückerobert. In dieser Hinsicht hat Würde Bezug zu kollektiver Identität und ist durch die Kategorie des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ in der Erklärung der Menschenrechte (1948) rechtlich verankert..

Die Kritik der globalen Ungleichheit samt ihrer Plutokraten ist überschrieben mit Das Unwürdig-Werden der Welt. Fleury sieht einerseits in der Würde als positives Recht eine Errungenschaft der Moderne, andererseits definiert sie die Moderne als „systematische Fabrik des Würdeverlusts für das Subjekt“. Die Klimakrise als Realität des Anthropozäns zeitige einerseits globale Mobilität, andererseits „entropische Kollapserfahrungen“ (84) und die Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in fossilen Wirtschaftssystemen.

Angesichts dieser Konstellation diagnostiziert Fleury mit Achille Mbembe ein „Brutalistisch-Werden der Welt“. Durch die Exzesse des Neoliberalismus konstituiere sich Macht als Fragmentierung, Erschöpfung, Verarmung und Proletarisierung und sei vergleichbar mit der kolonialen Brutalität gegen Mensch und Natur.

Ein Aspekt dieser gnadenlosen Normalisierung der Entwürdigung ist die systematische Ausgliederung und Entmündigung von Menschen in Lagern, wie sie bereits Zygmunt Bauman analysiert hat.

Solche Zustände provozieren Rückzug, Burnout, Ressentiments und politische Emotionen, allen voran Empörung. Doch mit Stéphane Hessels Aufruf Indignez-vous/Empört Euch (2010) wird, wie Fleury im letzten Kapitel darlegt, so leicht keine politische Schlacht gewonnen. Zwar vermag Empörung durch politisch wirksame performative Aktionen eine gewisse Zeit die öffentliche Meinung und Debatten zu beherrschen, doch oftmals entpuppten sich die Inszenierungen solcher „Empörungsgemeinschaft“ (110) als Selbstzweck, und ihre emotionale Aufladung verhindere Kompromisse und manövriere die Kampagnen ins Abseits.

In der Rhetorik der Empörung überschneiden sich zudem Würde und Ehre, eine Entwicklung, die Fleury den Medien und sozialen Netzwerken zuschreibt, die als panoptische Machtzentren die Würde gefährden, indem sie die Sprache in den Dienst der Entehrung, Diffamierung und Klassifizierung stellen. Ihnen setzt Fleury die Hoffnung auf die Herstellung würdiger zwischenmenschlicher Beziehungen in der Care-Ethik als Handlungstheorie entgegen, die über die Fürsorge Politik neu begründet soll. Diese konzipiert sie im Verbund mit Ansätzen aus John Deweys demokratischer Pädagogik, Ivan Illichs Theorie der konvivialen Gesellschaft sowie der Reanimierung der Commons-Theorie. Eine solche Fokussierung auf das Gemeinsame würde das private Eigentum als Wert relativieren, da dieses Gemeinsame Engagement und Verantwortung verlange und idealiter die soziale und ökologische Gerechtigkeit mit der demokratischen Teilhabe und ökonomischen Gleichheit verbinden könne.

Im Epilog fordert die Autorin die Akteure der „Klinik der Würde“ auf, all die Fälle der Unwürde zu analysieren und zu dokumentieren, da mit der Revitalisierung qualitativer zwischenmenschlicher Beziehungen ein Gegengewicht zum herrschenden quantifizierenden biopolitischen Regime geschaffen werde. Fraglich bleibt freilich, ob durch solche care-ethische Maßnahmen der gleichberechtigte Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, der in den Demokratien während der letzten Jahrzehnten zugunsten der Privatisierung preisgegeben wurden, auch nur annähernd kompensiert werden kann.

Fleurys Analyse des Begriffs der Würde und seine theoretische und praktische Erweiterung ist nachvollziehbar, und ist auch an der Zeit. Der Begriff der Klinik jedoch erscheint mir nur dort plausibel, wo es tatsächlich um die im Argen liegenden Zustände in den realen Institutionen der Pflege etc. geht. Hier wäre darüber hinaus eine ökonomische und eine politische Kritik der zunehmend börsennotierten, gewinnorientierten Organisationsformen dieser Einrichtungen als eine der Hauptursachen des Versagens angebracht.

So mag ihr Fürsorge- oder Care-Ansatz durchaus ein hehres Ziel sein; aber mit ihm allein ist es nicht getan. So sind spätestens seit der Corona-Epidemie die Forderungen der Care-Beschäftigten bekannt; und es ist zudem fraglich, ob ihre aufrichtigen Bemühungen um die Würde und deren Materialisierung wirklich greifen, wenn von ihr die Löhne und Arbeitszeiten kaum thematisiert werden. Zwar lassen sich in der Tat Würde und Selbstwert schwerlich gegen Geld aufrechnen; aber dies kann kein Argument gegen anständige Löhne in der „Klinik der Würde“ sein.

Kohout – Austeilende Ungerechtigkeit

Franz Kohout

Austeilende Ungerechtigkeit. Wie die Wohlhabenden sich am Steuerstaat bereichern

br., 172 Seiten, 24.- €

Potsdam 2023 (edition fatal)

von Bernd M. Malunat

Man muss es sich erst klar machen: Steuern bilden die Dreh- und Angelpunkte eines jeden Staates; Steuern sind seine hauptsächliche Einnahmequelle. Ohne diese Einnahmen ist er machtlos, unfähig, auch nur eine seiner vielfältigen Aufgaben wahrzunehmen. Das gilt seit altersher, und es gilt erst recht in der Gegenwart, da die Aufgaben des modernen Staates immens angewachsen sind. Die sogenannte „Ampel-Koalition“ scheiterte in der jüngeren Vergangenheit vor allem daran, dass sie sich nicht auf einen gemeinsamen Bundeshaushalt, also auf die Verwendung der Steuereinnahmen, verständigen konnte oder wollte.

Blickt man in die Geschichte zurück, zeigt sich, dass selbst die Grundlagen des modernen Parlamentarismus auf dem der Obrigkeit eingeräumten Recht beruhen, von den Untertanen Steuern verlangen zu dürfen. Sehr eindringlich zeigt sich das an der von den nordamerikanischen Kolonien Englands vorgetragenen Forderung: no taxation without representation – die letztlich in die Unabhängigkeit mündete.

Die Schrift des Politikwissenschaftlers Franz Kohout handelt vom Steuer-Staat, davon, wie durch Disruption Gleichheit, Gerechtigkeit und letztlich Demokratie gefährdet werden, weil der Grundsatz, dass alle nach ihren Möglichkeiten in gleicher Weise zum Gelingen beizutragen haben, verletzt wird. Nicht zuletzt aufgrund steuerpolitischer Entscheidungen wird die Kluft zwischen armen und reichen Bürgern immer größer. Es wächst jedoch nicht nur die Einkommens-Schere, sondern zugleich auch die Vermögens-Schere, und sie wachsen seit langer Zeit so stark, dass die Diskrepanz eines Tages unerträglich werden könnte. Dies ist übrigens keineswegs nur ein soziales Problem; vielmehr gestatten es die angehäuften, geradezu gigantischen Vermögen auch, unmittelbar Einfluss auf die Gestaltung der Politik in den Staaten zu nehmen, wie er in der jüngeren Vergangenheit bereits folgenreich praktiziert worden ist. Demokratien werden in autoritäre oligarchische Plutokratien transformiert.

Für diese in höchstem Maß unverträgliche Entwicklung gibt es eine Vielzahl steuerlicher Gründe. Zum einen gibt es in föderativ organisierten Staaten auf den verschiedenen Ebenen das Recht, Steuern zu erheben, zum anderen ist das Steuerrecht so umfangreich und kompliziert, dass der Steuer-Dschungel kaum noch zu durchdringen ist, und schließlich sind auch all die internationalen Möglichkeiten der Steuergestaltung sowohl in der EU als auch in der globalisierten Welt zu beachten. Aus ihnen resultieren die vielfältigen Vorteile insbesondere derjenigen, die es sich leisten können, die fest etablierten Steuerberatungs- und -vermeidungsindustrie in Dienst zu nehmen. Zudem gilt es, den geradezu monströsen Lobbyismus zu betrachten, der es vermag, die Gesetzgeber der verschiedenen Ebenen unter einen erheblichen politischen Druck zu setzen, der sich durch selektiv plazierte Parteispenden noch einmal beträchtlich verstärken lässt.

Wie die ‚austeilende Ungerechtigkeit‘ funktioniert, die der Titel treffend annonciert, zeigt der Autor an einer Reihe konkreter Beispiele. So wurde die Vermögenssteuer auf die geradezu unanständigen Riesenvermögen faktisch abgeschafft. Die Erbschaftssteuer ist zu einer Bagatellsteuer verkommen, die gerade mal die Hälfte der Tabaksteuer einbringt. Keine Erbschaftssteuer zahlen die Erben eines Unternehmens, wenn sie das Unternehmen nur sieben Jahre weiterführen. Gewerbetreibende können die Zahlung der Gewerbesteuer durch die Gründung von Schein- oder Briefkastenfirmen umgehen. Durch völlig legale Gewinnverlagerungen ins Ausland gehen dem Staat jährlich Milliarden Euro an Körperschaftssteuern verloren. Diese wenigen Beispiele zeigen, welche Möglichkeiten die Wohlhabenden genießen.

Im Gegensatz dazu hat der geringverdienende ‚normale‘ Bürger kaum steuersenkende Möglichkeiten. Ihm wird die Lohnsteuer vom Arbeitgeber direkt vom Gehalt abgezogen, und die Möglichkeit der Rückerstattung mittels der Steuererklärung wird häufig nicht genutzt. Die Gruppe dieser Steuerpflichtigen ist allerdings von großer Relevanz, weil die Verbrauchssteuern (v.a. Mehrwert- und Energiesteuern) rund 42 Prozent des Steueraufkommens ausmachen, da deren Einkommen überwiegend in den Konsum (und die Miete) fließt. Schon deshalb ist ihre relative Steuerbelastung deutlich höher als die der Wohlhabenden. Hinzu kommt, dass die Kapitalertragssteuer auf 25 Prozent begrenzt wurde, während die Einkommenssteuer progressiv auf bis zu 42 Prozent steigt.

Diese ‚Ungleichbehandlungen‘ liegen aber auch daran, dass die Finanzverwaltung unterbesetzt und deshalb chronisch überlastet ist. Vor allem mangelt es an Betriebsprüfern und Steuerfahndern, weshalb Unternehmen nicht regelmäßig überprüft werden können. So etwa wurden die obszönen Cum-Ex-Transaktionen, die den Staat nicht nur sehr viel Geld, sondern auch sehr viel Vertrauen kosteten, jahrelang nicht erkannt. Sollte es für einen allzu findigen Steuerbürger aber doch einmal eng werden, erlangt er nach gelungener Selbstanzeige Straffreiheit.

Dem Autor geht es jedoch nicht nur darum, die sozialen Ungerechtigkeiten des Steuersystems aufzuzeigen, vielmehr unterbreitet er auch Vorschläge, wie eine gerechtere Besteuerung gestaltet werden könnte und sollte. Dazu gehöre in erster Linie eine einfachere und klarere Gesetzgebung. Ferner seien eine gerechtere Gestaltung der Freibeträge, die Besteuerung der Einkommen, die aus leistungslos erworbenen Vermögen fließen, sowie eine internationale Steuerharmonisierung, einschließlich einer Finanztransaktionssteuer, sowie vor allem eine drängend notwendige ökologische Steuerreform (etwa durch Streichung umweltschädlicher Subventionen) erforderlich. Diese Maßnahmen würden nicht nur zu mehr – intergenerativer – Gerechtigkeit führen; sie könnten dem Staat auch deutlich höhere Steuereinnahmen bescheren.

Für die Erreichung dieser Ziele setzen sich seit geraumer Zeit einige sehr engagierte zivile Bewegungen ein, deren Erfolge aber begrenzt bleiben müssen, solange die Brisanz der Steuergerechtigkeit für den überwiegenden Teil der Bevölkerung von den staatlichen Akteuren nicht ernst genommen werden. Doch haben einige Parteien wenigstens in Zeiten des Wahlkampfs die Frage der Steuergerechtigkeit zumindest programmatisch erkannt – bleibt zu hoffen, dass sie sich daran erinnern, sollten sie nicht zuletzt dieser Versprechen wegen in die Verantwortung gelangt sein!

Fuchs – Radikaler digitaler Humanismus

Christian Fuchs

Radikaler digitaler Humanismus. Eine Philosophie für die digitale Gesellschaft des 21. Jahrhunderts

br., 165 Seiten, 29,90 €

München 2024 (UVK Verlag)

von Konrad Lotter

Im Zentrum des Buches steht der Gegensatz von liberalem und radikalem Humanismus. Der eine beruht auf der Proklamation der Menschenrechte zur Zeit der Französischen Revolution und war gegen den Feudalismus gerichtet. Er forderte die Gleichheit vor dem Gesetz sowie die Freiheit der Meinung, der Versammlung und der Religion. Vor allem aber schützte er das (Privat-) Eigentum und das Recht des bürgerlichen Individuums, „ohne Beziehung auf andere Menschen … sein Vermögen zu genießen und über dasselbe zu disponieren“ (Marx). Damit bildete er die Grundlage für den Aufstieg der kapitalistischen Produktionsweise. Der andere, der radikale Humanismus ist hingegen gegen die bürgerlich-kapitalistische Produktionsweise mit allen ihren Verwerfungen gerichtet und klagt die Freiheits- und Entwicklungsrechte aller Menschen ein. Diese Produktionsweise kam erst im Zuge der sog. ursprünglichen Akkumulation, d.h. vor allem durch die Ausbeutung der Kolonien und der Versklavung ihrer Bevölkerung, in Schwung und hatte die Unterwerfung des „globalen Südens“ unter die Herrschaft des zivilisierten „Westens“ zur Folge. Die erste Forderung des radikalen Humanismus, so Christian Fuchs, Professor für Medientheorie an der Universität in Paderborn, ist infolgedessen nicht nur die Aufhebung des (Privat-) Eigentums und der Ausbeutungsverhältnisse auf nationaler Ebene, sondern auch die Ent-Kolonialisierung im globalen Maßstab, d.h. die Angleichung der individuellen Entwicklungsmöglichkeiten der Menschen, nicht nur auf den Gebieten der Bildung und der Wissenschaften, sondern auf allen Gebieten des Lebens.

Martin Heidegger, Günter Anders, Peter Sloterdijk oder Yuval Harari haben den Humanismus für geschichtlich überholt erklärt. Mit der Ausweitung der modernen Massengesellschaft und dem technischen Fortschritt mit seinen Möglichkeiten der genetischen und informationellen Manipulation, so ihr Argument, sei das Maß der individuellen Selbstbestimmung und Autonomie geschrumpft, jede Form des Humanismus an ihr Ende gekommen. Damit, so das Gegenargument von Christian Fuchs, könne freilich nur der alte, liberale Humanismus gemeint sein, dessen Kritik der Ausgangspunkt eines neuen Humanismus sein müsse. Dieser sei nicht mehr auf das Recht und die Freiheit des egoistischen Individuums, sondern auf das Recht und das Gemeinwohl aller Menschen gerichtet. Unter Berufung auf Marx, Rosa Luxemburg, Erich Fromm und Henri Lefebvre, auch auf Adorno und Horkheimer (die umstandslos der Marxschen Tradition zugeordnet werden), entwickelt er so die Grundrisse eines radikalen Humanismus. Weshalb er das Epithteton „radikal“ gewählt hat und nicht den in der Marxschen Tradition üblichen Begriff des „realen“ Humanismus verwendet, ist dabei nicht recht einzusehen. Beide Begriffe besitzen offenbar die gleiche Bedeutung. Wie auch immer: Mit seinem radikalen Humanismus erhebt Fuchs den Anspruch, eine „Philosophie für die digitale Gesellschaft des 21. Jahrhunderts“ zu entwerfen, eine Philosophie, die nicht nur auf ein friedliches Miteinander der Menschen und Nationen gerichtet ist, sondern auch einen Weg aufzeigen soll, wie die gegenwärtigen Probleme der Klimaveränderung, des sozialen Elends und der Armuts-Migrationen behoben werden können.

Unter dem Gesichtspunkt des Humanismus weist die Entwicklung der Technik von jeher in entgegengesetzte Richtungen. Schon die Dampfmaschine, die die industrielle Revolution einläutete, erleichterte zwar die Arbeit und erhöhte ihre Produktivität, erniedrigte aber zugleich (wie seit Adam Smith immer wieder beklagt wurde) die Arbeitenden zu geistlosen Automaten und „Anhängseln“ der Maschine. Mit jeder „Welle“ technischer Innovationen, von der Elektrizität, den neuen Formen der Mobilität, der Nuklear-, Computer- oder Kommunikationstechnologie verschärfte sich dieser Gegensatz. Immer unversöhnlicher standen sich dabei die positiven Möglichkeiten, die das Leben der Menschen erleichterten und bereicherten, den negativen Realitäten gegenüber, die die Selbstbestimmung der Menschen einschränkten, ihre körperliche und psychische Integrität beeinträchtigten und sie an der Entfaltung ihrer Anlagen hinderten. Im Falle der digitalen Technologien und der KI haben die Gefahren zuletzt ein neues Niveau erreicht. Neben der totalen Überwachung und Manipulation der Menschen, der möglichen Herrschaft von Robotern und einem „digitalen Faschismus“ sind Ängste entstanden, die Menschen machten sich selbst überflüssig und schafften sich letztlich ab.

Die großen Industrienationen der USA, Chinas und der EU betrachten, wie Fuchs ausführt, die Entwicklung der KI gleichermaßen als eine „Schlüsseltechnologie“, die mit Steuergeldern großzügig unterstützt wird. Im internationalen Wettkampf geht es um die ökonomische Vorherrschaft, auch wenn die Interessen daran voneinander abweichen. In den USA steht offenbar das Interesse der Manipulation der Konsumenten und Wähler im Vordergrund, im China das der Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung. In Europa wird zwar versucht, die Privatsphäre der Menschen zu schützen, trotzdem, so scheint es, werden auch hier die Risiken der neuen Technologie heruntergespielt. Fuchs zitiert Nida-Rümelins und Natalie Weidenfelsʼ Buch über Digitalen Humanismus (2018) und das Wiener Manifest für digitalen Humanismus (2019). In beiden Schriften werden zwar bestimmte Risiken der digitalen Technologie gesehen und thematisiert, gleichermaßen aber glauben ihre Autoren, diese Risiken durch Ethik und politische Reformen im Rahmen der bestehenden Eigentumsordnung, also unter der Voraussetzung des alten, liberalen Humanismus beherrschen zu können. Diesen Glauben teilt Fuchs nicht. Gegen die sozialdemokratische Naivität der beiden Schriften könnte (in seinem Sinne) der Satz gestellt werden, den Orlando Patterson bei der Verleihung des Hegel-Preises der Stadt Stuttgart (2024) geäußert hat: „In Amerika … besitzen jetzt drei Milliardäre mehr Vermögen als die untere Hälfte der Bevölkerung zusammen … Unter solchen Bedingungen wird ein ethisches Leben – wird Sittlichkeit – unmöglich.“ Anders formuliert: Unter den genannten Verhältnissen, unter denen sich die Schere von Arm und Reich immer weiter öffnet, hat der alte, liberale Humanismus seine Existenzberechtigung verloren. Zu begrüßen sei daher jede Aktion, die zu seiner Fortentwicklung in Richtung auf eine am „Gemeinwohl“ aller Menschen orientierte Weltordnung führt und uns einer radikal humanistischen, wirklich demokratischen und sozialistischen Gesellschaft näherbringt.

Eher am Rande steht Fuchsʼ ausführliche Diskussion, die sich auf die Verbreitung von Covid-19 (im Zusammenhang mit der „kapitalistischen Nekropolitik“) bezieht. War denn die kommunikative und soziale Vereinsamung, unter der viele Menschen gestorben sind, und waren überhaupt sowohl die Ursache als auch die rasche Verbreitung dieser Krankheit ein spezifisches Problem des Kapitalismus? Als „kapitalistisch“, so scheint es, muss vor allem der Umgang mit der Pandemie, d.h. die Entwicklung und Zulassung der Impfstoffe, die Produktion und Verteilung der Masken, die Organisation von Home-Office etc. bezeichnet werden. Schon in vorkapitalistischen Zeiten grassierten Seuchen wie etwa die Pest, und auch ein zukünftiger „demokratischer Sozialismus“ ist, wie Fuchs selbst einräumt, keine Garantie für das Aussterben tödlicher Seuchen. Richtig ist natürlich, dass digitale Kontakte zu erkrankten und isolierten Menschen via Handy oder Computer eine „direkte Präsenz … nicht ersetzen“ können. Mit dem Problem des digitalen Humanismus aber hängt Covid-19 nur über viele Schritte vermittelt zusammen.

Klar und einleuchtend ist Fuchsʼ Plädoyer für den radikalen Humanismus; etwas redundant erscheint dagegen die Form seiner argumentativen Darstellung. Bereits an den Anfängen der verschiedenen Kapitel stehen „Zusammenfassungen“ dessen, was erst ausgeführt werden soll. Es folgen dann „Einleitungen“, in denen die Fragen gestellt werden, die beantwortet werden sollen. Am Ende der Kapitel stehen dann noch „Schlussfolgerungen“, in denen oftmals gesagt wird, was schon gesagt ist. Viele Wiederholungen, die leicht hätten vermieden werden können, sind die Folge. Von diesen Vorbehalten abgesehen (die von vielen Lesern möglicherweise gar nicht als Mangel empfunden werden) ist der Mut und die Entschiedenheit zu bewundern, mit denen Fuchs über die Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise hinausdenkt und gegen viele Widerstände das Programm eines neuen Humanismus entwirft.

Akbarian – Recht brechen

Samira Akbarian

Recht brechen. Eine Theorie des zivilen Ungehorsams

Pb., 172 Seiten, 16.-.€

München 2024 (C.H. Beck-Verlag)

von Bernd Malunat

Ziviler Ungehorsam gehört seit langem zum politischen Prozess der Bundesrepublik. Doch vor allem seit dem Auftreten der sich ‚Fridays for Future‘ nennenden Bewegung von überwiegend jüngeren Aktivist:innen, die Politik, Gesellschaft und Wirtschaft durch ihr Engagement dazu herausfordern, die Bedingungen der natürlichen Umwelt zu achten, insbesondere dem Schutz des sensiblen Klimas gerecht zu werden, ist die Diskussion wieder virulent geworden. Sie begründen ihren Ungehorsam mit der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass es gegenwärtig, vor allem jedoch in absehbarer Zukunft zu gravierenden und unumkehrbaren Veränderungen der globalen Lebensbedingungen, den sogenannten „Kipppunkten“, kommen wird, von denen die kommenden Generationen in unzumutbarer Weise betroffen sein werden. Deshalb ist es erforderlich, sich mit denen, die das Recht brechen, wissenschaftlich, rechtlich, politisch und moralisch auseinanderzusetzen,.

Das Titelbild des Buches zeigt leshia Evans, eine junge schwarze Aktivistin, die scheinbar furchtlos einer Gruppe schwerbewaffneter Polizisten gegenübertritt, um für ihre Rechte einzustehen. Dieses ikonische Bild verdeutlicht exemplarisch das Anliegen der Autorin mit ihrem als Plädoyer anzusehenden Ansatz: wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Es kann jedenfalls als Appell verstanden werden, gegen als ungerecht empfundene Gesetze aufzubegehren, als Pflicht mündiger, aufgeklärter Bürger, im Interesse des Gemeinwohls zu handeln.

Fast natürlich stellt sich damit die Frage, ob es überhaupt zulässig sein kann, gegen Gesetze zu verstoßen, die in einem formellen rechtsstaatlichen Verfahren von einem demokratisch legitimierten Parlament erlassen worden sind. Mit dieser antagonistischen Situation befasst sich Samira Akbarians ‚Theorie des zivilen Ungehorsams‘ auf sehr anspruchsvolle, fast dialektische Weise, durch die ihre Schrift im Wortsinn ‚lehrreich‘ wird. Man muss ihrer Darlegung nicht folgen – sie wird von einigen Rezensenten entschieden abgelehnt –; sie enthält dennoch interessante Überlegungen, die den Raum der recht verfahrenen Diskussion weiten.

Juristische Grundlagen eines zivilen Ungehorsams oder bürgerlichen Widerstands bilden die verfassungsmäßig verbrieften Grundrechte der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), das Recht, seine Meinung frei zu äußern (Art. 5 GG), und das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 GG), die jedoch alle unter dem Vorbehalt der Gesetze stehen. Im Grunde geht es den Protesthandlungen darum, eben diesen Gesetzen zu widerstehen, da sie von Überzeugungen, Gewissensentscheidungen oder moralischen Erwägungen motiviert werden, die für sie zwingender sind als diese einfachen Gesetze (23). Darüber hinaus bedarf es freilich auch eines realen materiellen Grundes dieser Erwägungen, der in der Abhandlung jedoch kaum in Betracht gezogen wird.

In Anlehnung an John Rawls‘ ‚Theorie der Gerechtigkeit‘ erörtert die Autorin den zivilen Ungehorsam als eine öffentliche, gewaltlose, gewissensbestimmte, aber gesetzwidrige Handlung, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen solle (56). Diese Gratwanderung an der Grenze von Legalität und Legitimität, zugleich die Schnittstelle von Recht und Moral, sei jedoch nur gerechtfertigt, wenn dadurch zugleich die liberale Ordnung stabilisiert werde. Liberale Ordnung bedeutet diesem Ansatz zufolge, dass die universellen und unveräußerlichen Menschenrechte dem durch demokratische Mehrheitsentscheidungen zustande gekommenen Recht vorausgehen. In Rawls’ Verständnis ist das Recht also weniger Ausdruck des Gemeinwillens als Instrument zum Schutz der individuellen Autonomie.

Während es Rawls in seiner liberalen ‚Theorie der Gerechtigkeit‘ also vor allem um Freiheit und (Chancen-)Gleichheit geht, kritisiert Jürgen Habermas mit seinem deliberativen Ansatz, dass diese Rechte im Liberalismus wie Republikanismus überbetont seien, weil in einem demokratischen Rechtsstaat die Menschenrechte und die Volkssouveränität ‚gleichursprünglich‘ sind, wodurch Recht und Moral, Legalität und Legitimität, in Übereinstimmung gebracht werden. Deshalb, so seine Schlussfolgerung, sind in einem demokratischen Rechtsstaat die Gesetze grundsätzlich zu befolgen. Zwar dürfe daraus kein blinder Gehorsam, kein ‚autoritärer Legalismus‘ folgen, vielmehr verbleibe den Bürgern die Möglichkeit, Gesetze des Parlaments und Maßnahmen der Regierungen einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Allerdings müssen sich zivil Ungehorsame mit der Verfassung identifizieren. „Ziviler Ungehorsam wird damit zu einem Ausdruck von Verfassungspatriotismus“ (63); er ist moralisch begründeter Protest, ein öffentlicher Akt, der die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen einschließt, ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im Ganzen aufzugeben. Dieser verlangt daher erstens die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen, dass zweitens der Ungehorsam symbolischen Charakter hat, und dass er sich drittens auf gewaltfreie Mittel beschränkt. Damit wird ziviler Ungehorsam in der Tat zum Ausdruck von Verfassungspatriotismus, weil im demokratischen Rechtsstaat die Loyalität weder der politischen Gemeinschaft noch den einfachen Gesetzen, sondern allein der Verfassung gilt.

Ferner argumentiert Habermas, dass sich der zivile Ungehorsam auf ein dynamisches Verständnis der Verfassung stützt, die kein fertiges Gebilde, sondern ein revisionsbedürftiges Unternehmen sei, das darauf angelegt ist, die Rechte unter wechselnden Umständen besser zu interpretieren, also lebendig zu sein. Schließlich wirke dieser Ungehorsam auch integrierend, weil die Bürger von der politischen Willensbildung, die von den Parteien, Verbänden und der Wirtschaft dominiert wird, sonst weitgehend ausgeschlossen blieben. Ziviler Ungehorsam steht für Habermas also nicht im Widerspruch zum demokratischen Rechtsstaat, sondern ist Teil dieser Ordnung (85).

So weit, so überzeugend, könnte man sagen. Wie aber ist es zu beurteilen, wenn ziviler Ungehorsam nicht auf Integration und Stabilität zielt, sondern an den Fundamenten rüttelt, weil die gegebene Ordnung nicht als gut und gerecht erscheint? Solchen radikaldemokratischen Theorien geht es darum, das genuin Politische, also die den Institutionen und deren Funktionen vorausliegenden, den formellen Prozess aber bestimmenden Prämissen, die Machtungleichgewichte und strukturellen Gerechtigkeitsdefizite, aufzuweisen. Es geht dann nicht mehr darum, einen Konsens herzustellen, sondern ihn zu dekonstruieren, die Fundamente zu hinterfragen. Das gilt insbesondere für das bestimmende Verhältnis von Recht und Macht, weil das Recht mit Zwang durchgesetzt werden kann und zudem über die definitorische Macht verfügt. „Viele radikaldemokratischen Ansätze“, so die Autorin, „lehnen daher den zivilen Ungehorsam ab, weil er der bestehenden Ordnung zu nahe steht, zu ihrer Stabilisierung beiträgt und nicht deren Infragestellung dient“ (100). Sie stehen „damit für eine kontinuierliche Revisionsbereitschaft und eine Anerkennung der Unsicherheit demokratischer Gesellschaften“ (120) und können deshalb als disruptive Form einer Verfassungsinterpretation, als Dekonstruktion etablierter Interpretationen betrachtet werden (154).

Schließen sich diese radikale Infragestellung der Annahmen demokratischer Gesellschaften und eine konstruktive Verfassungsinterpretation deshalb aus? Als eine Art von Kompromiss trägt Akbarian nun eine ethisch begründete Konzeption zivilen Ungehorsams vor, in dem der Bruch von Gesetzen die Verwirklichung eines höheren moralischen Gesetzes darstellt, dessen Maßstab das eigene Gewissen oder religiöse und spirituelle Überzeugungen sind. Prominente Zeugen dieser Auffassung sind einerseits der Philosoph Sokrates, der sich in der Konsequenz seiner Haltung das Leben nimmt, andererseits die politischer agierenden Henry David Thoreau, Mohandas Karamchand Gandhi sowie Martin Luther King. Bei allen Unterschieden ist ihnen gemeinsam, dass für sie eine höhere Wahrheit verpflichtender ist als das staatliche Gesetz. Als ein zeitgenössisches Beispiel dafür kann die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen (Art. 12a, Abs. 2 GG) dienen, die belegt, dass eigene Glaubensüberzeugungen mit staatlichem Recht vereinbar sein können, obwohl sie anderen normativen Welten entstammen (136); die Autorin nennt das ‚Rechtspluralismus‘ (122). Ethisch motivierter Ungehorsam dürfe als Verfassungsinterpretation aber nur dann angesehen werden, wenn sich in ihm die Hoffnung auf eine bessere Zukunft der Verfassung, nicht aber die Hoffnung auf eine Revolution zeige. „Wenn die Welt durch die Verfassung verändert werden soll, dürfen Vision und Realität nicht zu weit auseinanderliegen“ (139). Ethischer Ungehorsam „praktiziert im Hier und Jetzt schon jene gute Ordnung, die er für die Zukunft erst erträumt“ (154). Man mag darin eine Annäherung zwischen demokratisch und radikaldemokratisch motiviertem Ungehorsam ausmachen.

Gegen Ende ihrer Schrift wird die Autorin konkret politisch, wenn sie den Klimaaktivist:innen gerechtfertigten zivilen Ungehorsam zubilligt – entgegen einer verbreiteten öffentlichen, aber auch politischen Auffassung, die sie gern als ‚Extremisten‘ oder gar ‚Kriminelle‘ einstuft. Diesen Ungehorsamen gehe es darum, die Erde für die Menschheit zu erhalten, die globale Abhängigkeit der Menschen untereinander und zwischen Mensch und Natur zu erkennen. Ein solcher ziviler Ungehorsam zeichne sich durch eine Richtigkeitsüberzeugung aus, ohne sie jedoch mit einem Totalitätsanspruch durchsetzen zu wollen, und der deshalb gewaltfrei sein muss. Dabei sollte die Einsicht bedacht werden, dass Protestbewegungen oftmals erst in der Retrospektive legitim erscheinen (148), nicht zuletzt deshalb, weil ‚Privilegierte ihre Privilegien selten freiwillig aufgeben‘ (Martin Luther King) – für große Teile der Weltbevölkerung könnte es dann aber bereits zu spät sein. Doch auch für Demokratien könnte es zu spät sein: Wenn Wetterereignisse zu unablässigen Katastrophen führen, helfen allenfalls noch diktatorische Maßnahmen, für die die jetzt schon häufig erklärten Notstände ein unverkennbares Indiz bilden.

Abschließend erklärt Samira Akbarian, dass sie mit den dargestellten Zugängen keine einheitliche Theorie des zivilen Ungehorsams vorlegen, sondern aufzeigen wollte, dass die demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung Raum für Widerspruch und Träume, für ein dynamisches Verfassungsverständnis bietet, um die Vision einer gerechten, guten Gesellschaft auf den rechtsstaatlichen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit zu verwirklichen – auch wenn es dazu manchmal erforderlich ist, das Recht zu brechen.

Die anregende, sehr selbstbewusst im Ich-Modus verfasste Schrift – für eine wissenschaftliche Arbeit eher ungewöhnlich – lässt allerdings den Bezug zur Brüderlichkeit, also zum sozialen Rechtsstaat vermissen, um den es den ungehorsam Widerständischen doch auch geht. Durch den Rückgriff auf ein überpositives Naturrechtsdenken ließe sich die Verbindung von Recht und Moral, die in Artikel 1 des Grundgesetzes kodifiziert ist, noch deutlicher darstellen.

Moyn – Der Liberalismus gegen sich selbst

Samuel Moyn

Der Liberalismus gegen sich selbst. Intellektuelle im Kalten Krieg und die Entstehung der Gegenwart

aus dem Englischen von Christine Pries

geb, 304 Seiten, 30,– €

Berlin 2024 (Suhrkamp-Verlag)

von Percy Turtur

Der Historiker Samuel Moyn unternimmt in seinem Buch den Versuch, den Liberalismus zu retten, nicht zuletzt vor sich selbst. Da der Rezensent selber kein Liberaler ist, sondern sich als Linker versteht, gilt sein Interesse weniger der ‚Rettung des Liberalismus‘ als der Frage, was sich aus dessen Scheitern lernen ließe. Gemeinsam ist liberalen und linken intellektuellen Strömungen der offensichtliche Schiffbruch, den beide politischen Denkrichtungen angesichts des unabsehbaren Erstarkens konservativer bis extrem reaktionärer, militanter politischer Positionen derzeit erleiden.

Moyn stellt verschiedene Interpretationen des Liberalismus anhand einiger Autoren wie Judith Shklar, Isaiah Berlin, Karl Popper, Gertrude Himmelfarb und Lionel Trilling vor; sein besonderes Augenmerk gilt dabei einer Richtung, die er den „Kalter-Krieg-Liberalismus“ nennt. Er betrachtet diesen als eine Art radikaler Aufhebung des ‚klassischen‘ Liberalismus, wobei nicht ganz klar wird, ob er diese Aufhebung im hegelschen Sinne dialektisch versteht – in jedem Fall aber denkt er an eine Art von Negation des Liberalismus in sich selbst.

Die Texte aus den fünfziger Jahren von Judith Shklar, in denen sie den Kalten-Krieg-Liberalismus (noch) kritisiert, vor allen im ersten Buch „After Utopia“, stellen für Moyn eine Art Leitbild der Erörterungen in diesem Buch dar. Die Verbindung mit der Aufklärung, die Ende des achtzehnten Jahrhunderts beginnt, wird, so seine These, im Liberalismus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in der Konfrontation der beiden Weltmächte unterbrochen. Obwohl Kalter-Krieg-Liberalismus und Neoliberalismus sich in einigen Punkten deutlich unterscheiden, sind sie sich doch in der Ablehnung aufklärerischer Rationalität weitgehend einig, die im Ursprung doch grundlegender Bestandteil des früheren Liberalismus war. Am Beispiel des intellektuellen Verhältnisses von Isaiah Berlin und Shklar macht Moyn deutlich, wie verschiedene Auffassungen von Liberalismus zusammenfinden und wieder auseinanderdriften, und wie die einzelnen Autoren selbst ihre Positionen im Lauf der Zeit modifizieren oder sogar weitgehend verändern.

Der Vorwurf, den Moyn Karl Popper macht, ist der, dass er durch seinen Anti-Hegelianismus und seine Ablehnung von Marx wichtige Bestandteile des Liberalismus des neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts eliminiert hat, was an der speziellen Ausprägung des Kalter-Krieg-Liberalismus entscheidenden Anteil hat. Mit seiner Kritik an der von ihm „Historizismus“ genannten Geisteshaltung, die im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert auf sozialen Fortschritt setzte, dekonstruierte Popper auch die Hoffnung vieler Liberaler auf eine bessere Zukunft, die, wenn nicht notwendig, so doch immerhin möglich und anzustreben wäre. Da der Liberalismus es nicht zu einem eigenen Geschichtsverständnis, abgekoppelt von jenem Historizismus, gebracht hatte, blieb ihm nur ein eklektizistisches politisches Bewusstsein. Ein solches Verständnis ist für Moyn jedoch unverzichtbar: „Wenn Geschichte keinen Fortschritt macht, ist sie sinnlos“ (113). Dies freilich gilt für jede politische Richtung, auch für alle Spielarten des Konservatismus (Anm. d. Rezensenten).

Dementsprechend gilt es nach Moyn daran festzuhalten, dass zwar der Kalter-Krieg-Liberalismus eine „Aufkündigung der Zukunft“ (121) verlangte, dass aber kein Liberalismus längerfristig gedeihen könne, der „nicht emanzipatorisch und der Zukunft zugewandt“ (124) ist. Mit Francis Fukuyama habe der Kalter-Krieg-Liberalismus sich ab 1989 jedoch folgenreich in den Neoliberalismus transformiert und sich damit endgültig gegen seine bisherigen philosophischen Grundlagen gewandt.

Etwas überraschend bezieht Moyn Hannah Arendt in seine Überlegungen zum Widerspruch des Liberalismus mit ein, obwohl diese sich doch nie als Liberale verstand. In gewisser Weise, so Moyn, habe Arendt, als ausgewiesene Konservative, sich an der Transformierung des freiheitlichen Liberalismus in den Kalter-Krieg-Liberalismus beteiligt, wenn auch mit anderen Motiven. Sie habe geholfen, den ‚Anti-Kanon‘ eines Liberalismus zusammenzustellen, der sich von jeglicher Form der Aufklärung bis hin zu Hegel und Marx verabschiedet hat. Eine weitere, nach Moyn unangenehme Folge des Kalter-Krieg-Liberalismus war die Aufkündigung des Projekts der Globalisierung mit der Folge, die ‚Freiheit‘ des ‚Westens‘ gegen den Rest der Welt verteidigen zu müssen, bis dann die neoliberale Ökonomie den postkolonial entstandenen Staaten ihr „stahlhartes Gehäuse“ (167) aufzwang. Als Vordenkerin der Totalitarismus-Theorie sei Arendt dem Kalter-Krieg-Liberalismus erstaunlich nah gewesen.

Schließlich habe dann auch noch Lionel Trilling die Psychoanalyse mit Sigmunds Freuds „Das Unbehagen an der Kultur“ für den Kalten-Krieg-Liberalismus eingespannt, um den seiner Ansicht nach schädlichen Kollektivismus zugunsten eines (elitären) Individualismus zu verdammen. Selbst die Kulturkritik Theodor W. Adornos in dessen „Negativer Dialektik“ muss dafür herhalten, obwohl Adorno das völlige Gegenteil eines Liberalen war. Der Kalter-Krieg-Liberalismus und nach ihm der Neoliberalismus, so Moyn, haben alles für sich vereinnahmt, was gegen eine soziale Weiterentwicklung der Menschheit sprechen könnte und was für eine unumschränkte Herrschaft der Reichen und Mächtigen spricht, selbst wenn diese Theorien mit dem Liberalismus nicht kompatibel oder sogar gegen ihn gerichtet sind.

Es wäre schön gewesen, hätte Moyn die verschiedenen Strömungen des Liberalismus, die er in Anschlag bringt, inhaltlich und systematisch klarer konturiert. Es hätte das Verständnis der verschiedenen Spielarten des Liberalismus vom 20. Jahrhundert bis heute deutlich erleichtert. Gerade für eine Art von ‚Geschichte des Liberalismus‘ wäre das interessant und hilfreich gewesen.

Formal lässt sich schließlich sagen, dass die Positionierung der Fußnoten ans Ende des Buches im Zeitalter des Computersatzes reichlich anachronistisch wirkt und das ständige Blättern nach hinten zu den Fußnoten und wieder nach vorn zum Text beim intensiven Lesen lästig fällt. Andererseits zerreißen Fußnoten, die des öfteren eine halbe Seite beanspruchen, den fortlaufenden Text. Sie gehören zwar in eine wissenschaftliche Arbeit, stören aber den Lesefluss.

Wie so oft lautet die Antwort auf die Frage, was aus der Geschichte sich lernen ließe, dass sich eben nichts lernen lässt. Auch wenn Samuel Moyn der Überzeugung Ausdruck gibt, den ‚klassischen‘ Liberalismus nicht einfach wiederbeleben zu können, da dessen bisherige Spielarten obsolet geworden seien. So stellt sich für ihn dennoch die Frage, was das „ganz Andere“ des Liberalismus sein könnte, das ihn aufhebt, auch und gerade im Sinne des ‚Bewahrens‘ eines ‚klassischen‘ Liberalismus. Eine Frage, die sich, wie mir scheint, auch die Linke, wenn auch mit anderen (besseren?) Inhalten und Zielen, gleichfalls stellen muss.

Muss man dieses Buch (als Linke:r) gelesen haben? Nein. Kann man es mit Gewinn lesen, wenn man sich für den Liberalismus des 20. und 21. Jahrhundert interessiert, gerade jetzt in einer Zeit, in der Anti-Intellektualismus und Anti-Liberalismus in den USA, aber auch anderswo, fröhliche Urständ‘ feiern? Ja.

Zima – Kritische Theorie zwischen Spätmoderne und Postmoderne

Peter V. Zima

Die Kritische Theorie zwischen Spätmoderne und Postmoderne

Nostalgie als Kritik

br., 295 Seiten, 39,- €.

Tübingen 2024 (Narr Franck Attempto Verlag)

von Konrad Lotter

Zwei bereits im Vorwort zitierte Aussagen geben dem Buch die Richtung vor. Die eine stammt von Adorno und lautet: das „Maß des neuen Schlechten ist einzig das Frühere“ (und Bessere); die andere stammt von Marcuse: „Die kritische Theorie hat es in bisher nicht gekanntem Maße mit der Vergangenheit zu tun, gerade sofern es um die Zukunft geht“.

In beiden Aussagen, so Zima, kommt der Wandel der Kritischen Theorie zu einer Theorie der Spätmoderne zum Ausdruck. Unter dem Eindruck des konsolidierten Kapitalismus und der Schrecken des Stalinismus verabschieden sich die Vertreter der Kritischen Theorie in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts von Marx und der Hoffnung auf eine proletarische Revolution und schwenken auf eine Argumentationslinie ein, die von den spätmodernen Soziologen und Philosophen Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Max Weber vorgezeichnet ist: radikale Kritik an den Missständen, Entfremdungen und Fehlentwicklungen des kapitalistischen Systems, verbunden mit der Erinnerung an das Positive, das im Prozess des gesellschaftlichen Fortschritts verloren gegangen ist. Dabei handelt es sich um keinen romantischen Antikapitalismus, der in eine idealisierte Vergangenheit zurückkehren will, sondern um die Forderung, die einmal verwirklichten Errungenschaften an Humanität nicht preiszugeben, sondern in die fortgeschrittene Form der Gesellschaft aufzuheben.

In diesem Sinne sind für Horkheimer, Adorno oder Marcuse, die gleichermaßen dem Großbürgertum entstammen, der liberale Individualismus und die damit verbundene Bildung, Kritikfähigkeit und Autonomie des Individuums ein Wert, hinter den nicht zurückgefallen werden darf. Hatte die Kritische Theorie in ihren Anfängen noch mit Marx das Proletariat als „Subjekt“ der Geschichte begriffen, so ist jetzt das autonome Individuum an seine Stelle getreten. Bei Habermas, in der zweiten Generation der Kritischen Theorie, ist daraus die „herrschaftsfreie Kommunikation“ der vernunftbegabten, autonomen Individuen geworden, die sich vom „besseren Argument“ leiten lassen.

Der Schwerpunkt des Buches liegt allerdings nicht auf der skizzierten Entwicklung der Kritischen Theorie hin zu einer Theorie der Spätmoderne, sondern im Übergang (oder eigentlich Verfall) der Spätmoderne zur Postmoderne. Trotz ihrer Abkehr von Marx bleiben „Utopie“, „Revolution“ oder „Überwindung“ (des Kapitalismus) Themen der zur „Frankfurter Schule“ gewandelten Kritischen Theorie, wenn auch nicht mehr im Sinne von Marx, sondern mit der vagen Perspektive auf ein „ganz Anderes“. Bei den Postmodernen ist die Abkehr von Marx noch viel entschiedener, so dass selbst diese Themen als überholt, anachronistisch und sogar als gefährlich angesehen werden. An die Stelle der Kritik der naturwüchsigen (kapitalistischen) Verhältnisse treten ein „Living Without an Alternative“ (Zygmund Baumann) und die rückhaltlose Anerkennung der bestehenden Verhältnisse. An die Stelle des (Gebrauchs-)Werts der Dinge tritt die Universalität des Tauschwerts, der alle Wert-Differenzen einebnet (Jean Baudrillard). An die Stelle des Versuchs, die Selbstbestimmung der Individuen zu fördern, tritt deren Gleichschaltung innerhalb der Massengesellschaft (Jean-François Lyotard). Die Reduktion der Vernunft auf die Zweckrationalität und die „Eindimensionalität“ des Menschen werden als Faktum hingenommen und akzeptiert (Gianni Vattimo). Als positiv wertet Zima dagegen die „Vielfalt“ der postmodernen Theoretiker, ihr Interesse für das Einzelne; darin sieht er einerseits eine Verwandtschaft mit Adornos „Akzentuierung des Partikularen“, andererseits einen Gegensatz zum Universalismus der „großen Erzählungen“ von Hegel oder Marx.

Bemerkenswerterweise sehen sich die Theoretiker der Postmoderne selbst oftmals in völliger Übereinstimmung mit der Frankfurter Schule (Michel Foucault) oder knüpfen ausdrücklich an deren Gedanken an. Tatsächlich aber, so die Kritik Zimas, treiben sie deren Gedanken nur „auf die Spitze“ und verkürzen sie, um sie dann als „Argumente gegen sie zu wenden“. So kehrt Lyotard das „Erhabene“ Adornos, das „die Kritikfähigkeit der Kunst und des Einzelnen stärken sollte, gegen das Subjekt“. Der französische Soziologe Michel Maffesoli analysiert (in Übereinstimmung mit Horkheimer und Adorno) zwar den Niedergang der individuellen Autonomie, feiert deren Unterordnung unter die Masse aber als „postmodernen Fortschritt“. Baudrillard erinnert zwar an die Kritik des Tauschwerts, vertritt aber die Auffassung, dessen Herrschaft über den Gebrauchswert sei so total, dass er als „Archimedischer Punkt der Kritik“ ausgedient hat. Grundsätzlich hatte die Kritische Theorie (mit Walter Benjamin) zwischen dem Fortschritt der Naturbeherrschung und dem der Gesellschaft und der in ihr verwirklichten Humanität unterschieden. Dieser Unterschied ist in der Postmoderne, die allein den Fortschritt der Naturbeherrschung thematisiert, verschwunden. Adorno und Horkheimer kritisierten zwar die rücksichtslose Beherrschung der Natur, deren Methoden auf die Beherrschung des Menschen übertragen werden; gleichzeitig widmen sie dem Individualismus des Liberalismus eine „rettende Kritik“. Diese Dialektik kommt in den postmodernen Theorien nicht mehr vor. Gezeigt wird stattdessen nur, wie das Netz der Disziplinierung und der Angleichung der Individuen immer enger wird, so dass sie zuletzt vollständig verschwinden „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ (Foucault).

Als Literaturwissenschaftler verweist Zima oftmals auf Parallelen zwischen Philosophie und Literatur und macht auf Selbstreflexionen der Moderne aufmerksam, wie sie auch bei Baudelaire, Valery, Kafka oder Broch anzutreffen sind. Wiederholt zitiert er den bezeichnenden Satz von Robert Musil: „Der Individualismus geht zu Ende … aber das Richtige (an ihm) wäre hinüberzuretten.“ Was wäre aber das Richtige? Zimas Antwort (im Sinne der Frankfurter Schule) lautet: die individuelle Autonomie des liberalen Zeitalters, die Fähigkeit zur Kritik und zum Widerstand, die Fähigkeit, dem ideologischen und kommerzialistischen Konformismus zu widerstehen, letztlich die Würde des Menschen.

Zimas Buch ist gut gegliedert, in seinen Argumenten (auch dank vieler Wiederholungen) gut nachvollziehbar. Es vermittelt ein breites Spektrum der weitgespannten Diskussion, in der Zima am Ende auch selbst Stellung bezieht. Er plädiert, wie schon in früheren Werken, für eine „dialogische Erneuerung der Kritischen Theorie, die postmoderne Kritiken an der (Spät-) Moderne ernst nimmt und den Universalismus der Kritischen Theorie mit dem Partikularismus der postmodernen Denker dialektisch zusammenführt“. Er wehrt sich vor allem gegen Habermas, der die Postmoderne als bloßen Konservativismus abtut, und möchte Horkheimer und Adorno „mit Hilfe des postmodernen Partikularismus … korrigieren und ergänzen“. Mit diesem Konzept versucht er, „unzeitgemäß gegen den Zeitgeist zu denken“. So unzeitgemäß, wie behauptet, erscheint dieses Konzept freilich nicht. Höchst zeitgemäß und dem Mainstream entsprechend ist vielmehr, was Zima mit beiden Ansätzen, deren Synthese er anstrebt, verbindet: die Ablehnung der Marxschen Theorie und der Mangel einer wirklichen, gesellschaftlichen (nicht bloß individuellen) Perspektive, die über die Grenzen des gegenwärtigen Kapitalismus hinausblickt.

Pineault – Die soziale Ökologie des Kapitals

Éric Pineault

Die soziale Ökologie des Kapitals

mit einem Vorwort von Simon Schaupp

br., 190 Seiten, 25.- €

Berlin 2025 (Karl Dietz Verlag)

von Fritz Reheis

Was der Kapitalismus genau ist, werden wir erst im Nachhinein voll begreifen, wenn er überwunden sein wird. Dieser Gedanke seines akademischen Lehrers, Murray Bookchin, US-amerikanischer Sozialist, Anarchist und Begründer des Institute for Social Ecology, dem das Buch gewidmet ist, habe ihn nicht mehr losgelassen, erzählt Éric Pineault. Der Gedanke sei für ihn „paradoxerweise ein Hoffnungsschimmer“. Er wolle mit seinem Buch, das teilweise bereits veröffentlichte Texte enthält („The ghosts of progress“ und „The Post Growth Condition“), „zum kollektiven Verständnis dieser sozialen und ökologischen Formation (des Kapitalismus, F.R.) und ihrer Grenzen“ beitragen (190). Pineault ist Professor am Department of Sociology und am Institute of Environmental Sciences an der Universität Quebec in Montréal. Außer durch Bookchin und Aktivisten aus Quebec sieht er sich hauptsächlich durch das Wiener Institut für Soziale Ökologie (Martina Fischer-Kowalski) und das Postwachstumskolleg an der Uni Jena (Hartmut Rosa, Klaus Dörre u.a.), wo er 2018 bis 2019 Gast war, inspiriert. Die Theorie der Sozialen Ökologie des Kapitals ist für Pineault ein „vorgeordnetes und begrenztes Unterfangen“, das einen theoretischen Rahmen für Degrowth (einschließlich Ökosozialismus) bereitzustellen versucht (170).

Es sei eine Illusion, so die Grundthese des Buches, die ökologische Transformation von einer Entkopplung der Wirtschaft vom Naturverbrauch zu erwarten und dabei auf einen Wandel der Werte mit einhergehendem Konsum- und Politikwandel zu hoffen. Nötig sei vielmehr die vollständige Überwindung der herrschenden „sozialen Ökologie des Kapitals“. Voraussetzung für diese Überwindung sei eine konsequent materialistische Analyse der energetischen und stofflichen Prozesse und der politischen Ökonomie, die sich mit ihnen in Wechselwirkung befindet. Im Zentrum der Analyse steht der Begriff des „sozialen Stoffwechsels“. Pineault unterscheidet drei Aspekte dieses sozialen Stoffwechsels: die durch Gesellschaften fließenden Ströme von Energie und Materie, die Akkumulation von materiellen Vorräten sowie die Kolonisierung von Ökosystemen durch menschliche Aktivitäten. Diese drei überhistorischen Momente des Mensch-Natur-Verhältnisses gelte es nun für kapitalistische Gesellschaften zu konkretisieren und zu „re-soziologisieren“ (28). Dabei zeige sich im Detail, wie die kapitalistische Dynamik und die sie exekutierenden globalen Konzerne in allen Phasen des menschlichen Eingriffs in die Natur – von der Extraktion über Produktion, Konsumtion und Reproduktion bis zur Dissipation – die Grenzen der Natur ignoriert und eine ökologisch verträgliche Form des Wirtschaftens und Lebens verhindert. Grund dafür seien nicht nur die systematisch erzeugten Rebound- und Verdrängungseffekte und die systematische Trennung von Produktion und Reproduktion (auch als Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land sowie Nord und Süd). Hinzu komme vor allem auch die Tatsache, dass diese Dynamik Investitionen in eine naturnahe Form des Wirtschaftens umgehend mit systematischer Entwertung des eingesetzten Kapitals bestraft.

Nach einem Vorwort von Simon Schaupp (Autor von „Stoffwechselpolitik“) über den deutschen Diskurs zum Thema, führt Pineault in das Buch ein, indem er den Begriff „sozialer Stoffwechsel“ erläutert. Das erste Kapitel behandelt den „Materialfluss“, das zweite die „Ökologie des Materialflusses“, quasi die „Arbeit der Natur“ einschließlich des Entropiegesetzes. Im dritten Kapitel geht es um „Stoffwechselregime in historischer Perspektive“, im vierten um den „fossil-basierten Metabolismus“. Das fünfte Kapitel thematisiert den „kapitalistischen Stoffwechsel“ generell, das sechste richtet den Fokus speziell auf die Zeit der „großen kapitalistischen Beschleunigung“, die Pineault zufolge die vergangenen sieben Jahrzehnte umfasst. Das Buch schließt mit einem „Anhang zur deutschen Ausgabe“ mit eindrucksvollen Daten und Grafiken zum Zusammenhang von biophysikalischen und politökonomischen Daten. Insgesamt will die Theorie der sozialen Ökologie des Kapitals eine doppelte Selbsttäuschung entlarven: „Die Versprechungen, privilegierte Lebensweisen im fortgeschrittenen kapitalistischen Kern und unter den Mittelschichten des globalen Südens beibehalten und verbessern zu können, haben ihre Entsprechung bei progressiven Kräften, die sich der Illusion hingeben, die Produktivkräfte und der Durchsatz könnten weiter gesteigert werden, weil reinere, dichtere und sauberere Energieformen im Überfluss in einem ‚dort draußen‘ vorhanden seien, das nur noch gefunden werden müsse.“ (171)

„Die soziale Ökologie des Kapitals“ ist zweifellos ein wichtiges Buch, weil es die naturwissenschaftlich-ökologische und die sozialwissenschaftlich-politökonomische Analyse überzeugend zusammenführt. Dennoch fragt sich der Rezensent, ob Pineault, der ja explizit einem dialektischen Erkenntnisinteresse folgt, nicht vorschnell über Marx hinausgegangen ist. Vielleicht sind die ökologischen Verwüstungen seit der Großen Beschleunigung ja nichts anderes als Zuspitzungen des kapitalistischen Grundwiderspruch zwischen der Gesellschaftlichkeit der Produktion und der Privatheit der Aneignung (einschließlich der Planung), nichts anderes also als weit fortgeschrittene Kollateralschäden eines Systems, von dem schon 1848 klar war, dass es „alles Stehende und Ständische“ verdampft. Vielleicht zeigt sich heute in aller Klarheit, dass Produktivkräfte in Destruktivkräfte umschlagen, solange sie durch überlebte Eigentums- und Konkurrenzbeziehungen gefesselt sind.