Marz – Wut auf Differenz

Ulrike Marz

Wut auf Differenz

Kritische Theorie und die Kritik des Rassismus

br., 378 Seiten, 39,- €

Bielefeld 2023, transcript-Verlag

von Marija Bogeljic-Petersen

Bereits im Vorwort nennt die Autorin drei Gründe, warum der Rassismus wissenschaftlich stets relevant bleibt. Erstens sitzt die Annahme tief, dass Menschen mit ähnlichem Aussehen eine Gruppe bilden und bestimmte Eigenschaften teilen. Wissenschaftliche Widerlegungen allein lösen solche sozialen Praktiken nicht auf. Zweitens erzeugen selbst Antirassismus-Positionen neue Varianten, etwa den kulturalistischen Rassismus, der biologische Zuschreibungen durch kulturelle ersetzt. Und drittens verbindet sich Rassismus mit postfaktischen Tendenzen und passt durch seine Widersprüchlichkeit gut zu Debatten, welche die Wahrheit gering schätzen, zum Beispiel in der Flüchtlingspolitik. Seine Irrationalität bleibt zudem an die Rationalität kapitalistischer Gesellschaften anschließbar.

Dieses Zusammenspiel von Unvernunft und kapitalistischer Logik mache somit den Rassismus zu einem zentralen Gegenstand Kritischer Theorie, die gesellschaftliche Ideologiefunktionen mit dem Blick auf psychische Strukturen im Subjekt verbindet. Marz’ leitende These lautet: Moderner Rassismus dient als Verarbeitung gesellschaftlicher Anforderungen, die als naturgegeben erscheinen (9). Zugleich fehlt es den Subjekten an kritischem Reflexionsvermögen, sowohl gegenüber sozialen Zusammenhängen als auch gegenüber eigenen Bedürfnissen und Konflikten. Ideologiekritik müsse deshalb um eine stärkere Hinwendung zum Subjekt ergänzt werden, wie es bereits die frühe Kritische Theorie tat.

Marz verfolgt in ihrer Studie zwei Ziele. Sie möchte erstens die unterschiedlichen theoretischen Ansätze der Rassismusforschung sowie deren verschiedene Deutungen wieder stärker in die aktuelle wissenschaftliche und politische Debatte einbringen; und sie zielt zweitens darauf, die Kritische Theorie weiterzuentwickeln, indem sie deren Überlegungen mit dem Forschungsfeld Rassismus konfrontiert, das bisher nicht systematisch aus dieser Perspektive untersucht worden sei. Obwohl Adorno und Horkheimer keine eigene Rassismustheorie vorgelegt hätten, fänden sich in ihrer Gesellschaftskritik immer wieder Hinweise auf rassismuskritische Gedanken, meist im Zusammenhang mit Antisemitismus oder in Überlegungen zu Rassenvorurteilen. Diese Spuren arbeitet die Autorin ausführlich in ihrem Hauptanliegen heraus, einen Ansatz für eine Kritische Theorie des Rassismus zu entwickeln. Dieser sei dabei doppeldeutig zu verstehen: Als theoretischer Bezugspunkt und zugleich als Versuch, die Grundlagen einer solchen Theorie zu begründen. Dazu greift Marz ausdrücklich auf die frühen Überlegungen der Kritischen Theorie zurück und versucht, den Rassismus mit deren methodischem und begrifflichem Instrumentarium zu beschreiben und zu kritisieren. Es wirkt daher folgerichtig, wenn das zweite Kapitel den Titel „Methode als geronnener Inhalt – Der Kritikbegriff Kritischer Theorie“ trägt. In ihm reflektiert Marz zunächst die zentralen Elemente des Kritikbegriffs bei Adorno und Horkheimer und arbeitet „Leid als Maßstab“, „immanente Kritik als materialistische Kritik“, „Negativität und negative Dialektik“ sowie „Historizität“ systematisch heraus. Diese Prinzipien prüft sie dann in Hinblick auf ihre Eignung für das methodische Verfahren der Analyse des Rassismus.

Im dritten Kapitel „Metamorphosen des Rassismus – Natur und Kultur“ oder prägnanter: „Aus ‚Rasse‘ wurde Kultur“ (51) geht sie zunächst detailliert auf den vormodernen und modernen Rassebegriff sowie auf den biologistischen Rassismus ein – nicht vergessend, dass Menschenrassen nicht nur in den Naturwissenschaften propagiert wurden, sondern dass auch bei den Philosophen Kant, Fichte oder Hegel (als rare Ausnahme, die die Regel bestätigt, Herder) deren „Verstrickung“ und „Widersprüchlichkeit“ bis heute ein Problem für „aufklärerische Rassismuskritik“ bleibt (56). Den zynischen Gedanken der Nationalsozialisten, wonach getrennte Menschengruppen eine friedliche Ordnung sichern sollten, sieht Marz dann im Ethnopluralismus der Neuen Rechten fortgeführt. Dort bleibt die Vorstellung bestehen, dass es eine vermeintlich natürlich berechtigte Gesellschaft gebe und eine Gruppe von Nichtberechtigten, die etwa mit dem Hinweis ausgeschlossen werden, sie hätten zu wenig zum Sozialsystem beigetragen. Der Ethnopluralismus bildet für Marz das zentrale Ideologiefragment eines Neo-Rassismus, der den Begriff „Rasse“ meidet und ihn durch „Kultur“ und „Ethnie“ ersetzt.

In einem Unterkapitel widmet sie sich der Frage, ob die Debatten um die „kulturelle Aneignung“ einem linken Ethnopluralismus ähneln. Sie nennt zwei Aspekte: Erstens greifen Hinweise auf „hybride Identitäten“ wenig, weil Eingewanderte meist als kulturell geschlossene Gruppe wahrgenommen werden. Zweitens schwächt die Kritik an der „kulturellen Aneignung“ die Hoffnung auf eine kulturelle Öffnung. Denn wer Elemente als „fremd“ geltender Kulturen zum Zwecke der Vermarktung oder des Profits ausbeutet oder deren geistiges Eigentum, traditionelles Wissen, Frisuren, Kleidung, Nahrung etc. übernimmt, stehe schnell in der Kritik, dass solche Übernahmen nur aufgrund der Macht westlicher Gesellschaften möglich seien. Dadurch aber werden diese Kulturen als fest umrissen dargestellt und stereotypisiert. Das jedoch rückt sie in die Nähe eines rechten Denkens, dem die Kulturen auch als abgeschlossene Einheiten erscheinen.

Marz betont folglich, dass entscheidend sei, wie eine multikulturelle Gesellschaft begründet wird. Denn eine Fixierung auf die Differenz fördert den Rassismus, sodass auch das Denken in Minderheiten ausgrenzen kann. Egalität hingegen entsteht erst, wenn Kulturen dezentriert werden und keine ‚Leitkultur‘ vorausgesetzt wird. Der einzelne Mensch, so Marz, sollte Vorrang vor kulturellen Kollektiven haben. Denn erst dann werde die Freiheit, verschieden sein zu können, wirklich universal. Nur dort, wo der einzelne den Vorrang vor einem Kollektiv erhält, dem er zugeschrieben wird, könne eine Gesellschaft ihren Anspruch auf Individualität einlösen; und dort wäre die Freiheit, verschieden sein zu dürfen, universell.

Mit diesem Spannungsfeld zwischen Partikularismus und Universalismus und mit der Frage, ob die Kritik an kultureller Aneignung oder am Multikulturalismus tatsächlich antirassistisch ist oder doch ungewollt rassistische Muster stützt, führt Marz ins vierte Kapitel „Metamorphosen der Rassismustheorien – Objektivismus und Subjektivismus“ ein. In ihm untersucht sie historische Formen des Rassismus und theoretische Versuche, ihn kritisch zu fassen. Objektivistische Ansätze wie die von Robert Miles, Étienne Balibar und Stuart Hall liefern dabei wichtige Einsichten: Rassismus ist wandelbar; er passt sich sozialen Konflikten an und legitimiert Herrschaft, indem er Differenzen produziert, naturalisiert und in nationale Ingroups übersetzt. Diese Theorien schließen damit an zentrale Motive der Frankfurter Schule an wie die der verselbständigten Logik sozialer Institutionen oder der Funktion autoritärer Bindungen. Dabei betont Marz aber zugleich den Unterschiede zur frühen Kritischen Theorie, weil stärker an den Erfahrungen, dem Alltag und Privatem angesetzt wird. Nicht die Handlungsfähigkeit des Subjekts wird hervorgehoben, sondern vielmehr deren Gefährdung. Subjektivistische Perspektiven bedeuten hier, zu verstehen, wie die Möglichkeit zu selbstbewusstem Handeln und Mündigkeit objektiv eingeschränkt wird.

Im fünften Kapitel „In schlechter Gesellschaft“ skizziert die Autorin zunächst die Grundannahmen der Kritischen Theorie. Sie führt die Begriffe der Mimesis‘ und Idiosynkrasie‘ ein, um den Gesellschaftsbegriff erklären und die Position des Subjekts darin analysieren zu können. Anschließend erörtert sie die Rolle der Erfahrungin kapitalistischen Gesellschaften, um zu klären, wer die Rassismuskritik tragen kann. Den Abschluss bildet dann eine Analyse des Nichtidentischen im Kontext von Rassismus.

Dieser Begriff des Nichtidentischen, so Marz, ist für die Rassismusanalyse ambivalent: Denn einerseits zeigt er, dass der Rassismus ohne die Konstruktion eines Kollektivs der Rassifizierten nicht existieren kann, da die Identität der Rassifizierenden auf ihrer Abgrenzung gegen außen beruht. Adornos Konzept des Nichtidentischen verdeutlicht, wie nötig dieses Identifizieren der Anderen ist, um die eigene Identität zu stabilisieren. Jedoch gefährdet das Nichtidentische stets die angestrebte Geschlossenheit von Identitätskonstruktionen wie der „Rasse“, des „Volk“ oder der „Nation“. Andererseits aber eröffnet die Anerkennung des Nichtidentischen auch die Möglichkeit, diese Unterdrückung durch Zwangsidentifizierung zu beenden. Fraglich bleibt dabei, ob dieses Nichtidentische sichtbar gemacht werden soll, oder ob als Hoffnungsträger gesellschaftlicher Veränderung dienen kann. Auf keinen Fall, so Marz, darf es jedoch schlicht unter das Identische subsumiert werden.

Das sechste Kapitel „Rassismus und gesellschaftliche Objektivität“ beschreibt die Strukturen, die den Rassismus tragen. In ihm zeigt Marz, welche Elemente der marxschen Kritik der politischen Ökonomie für die Analyse von Rassismus zentral sind. Im Mittelpunkt stehen zwei Gedanken: erstens die Kritik von Marx an der „Geneseblindheit“ bürgerlichen Denkens, das gesellschaftlich Gewordenes, besonders die ökonomisch vermittelte Herrschaft, als Natur ausgibt; zweitens sein ideologiekritischer Hinweis, dass das Bürgertum an seinen eigenen Versprechen von Freiheit und Gleichheit scheitert. Darauf aufbauend zeigt Marz, wie Kritische Theorie gesellschaftliche Objektivität versteht: die Überausbeutung rassifizierter Arbeitskräfte, die dadurch erzeugte Konkurrenz sowie die Rolle des Staates, der gemeinsam mit dem Kapital rassistische Strukturen stabilisiert. Anschließend prüft Marz, ob die immanente Kritik ein geeignetes Instrument zur Analyse von Rassismus ist. Sie betont nit Rahel Jaeggi, dass die Ideologie der Gleichheit selbst Ungleichheit erzeugen kann. Entscheidend sei nicht das Nichterfüllen des Gleichheitsversprechens, sondern seine „verkehrte Verwirklichung“. So zeige sich, dass der moderne Kapitalismus rassistische Praktiken hervorbringt, obwohl er zugleich ihre Überwindung verspricht. Die Mechanismen, Menschen immer wieder rassistisch zu sortieren, sind eng mit den Mechanismen bürgerlicher Gleichheit verknüpft. Ein anschauliches Beispiel dafür bietet der Arbeitsmarkt: Warenbesitzende treten einander als Gleiche gegenüber, während Ausgeschlossene, etwa durch Arbeitsverbote oder Visaregeln, nicht zu dieser Gruppe der Gleichen zählen. Beide Logiken, die des Kapitals wie die des Rassismus, stufen sie als minderwertig ein, im ersten Fall aufgrund mangelnder Produktivität, im zweiten aufgrund vermeintlicher Natur. So erscheint Rassismus als struktureller Effekt kapitalistischer Ordnung, besonders im Zusammenspiel von Kapitalverwertung und Arbeit.

Damit kehrt Marz zurück zur klassischen Ideologiekritik: Ideologie bleibt eine Rechtfertigung von Herrschaft, die materialistisch verstanden werden müsse als Ergebnis bestimmter Produktionsweisen. Weil eine rein historische Perspektive jedoch nicht ausreicht, plädiert sie schließlich für eine Erweiterung des Ideologiebegriffs um die Kritik instrumenteller Vernunft, damit materialistische Analysen nicht durch relativistische Deutungen ersetzt werden.

Im siebten Kapitel „Die Wendung aufs Subjekt – Ressentiments, Autoritarismus, Rassismus“ werden die Fragen aufgegriffen, warum sich nicht alle Menschen antidemokratischen Bewegungen anschließen? Warum machen „Arbeiter und Angestellte“ keine Revolution, sondern unterstützen in weiten Teilen die neuen autoritären Bewegungen in Europa? (243) Marz verbindet hier einen antipsychologisch und objektivistisch gelesenen Marx mit der psychoanalytischen Subjekttheorie der Frankfurter Schule, deren Studien zum Autoritarismus sie in den Mittelpunkt stellt. Dieser gilt als Syndrom, das Menschen besonders empfänglich für politische Vorurteile und Aggressionen macht. Seine Erklärung gelinge jedoch nicht nur durch die bloßen Inhalte autoritärer Angebote, sondern vor allem in den psychologischen Reizen, die sie aussenden, und der Resonanz, die sie bei bestimmten Personen finden. Sie zeigt dabei zunächst im Abschnitt „Sozialpsychologie, Psychoanalyse und Kritische Theorie“ die Bedeutung psychoanalytischer Ansätze, stellt danach die Forschung zum autoritären Charakter vor und diskutiert verschiedene Perspektiven, wie gesellschaftliche Bedingungen autoritäre Bedürfnisse erzeugen. Abschließend analysiert sie aus autoritarismuskritischer Sicht das Verhältnis des Rassismus zu anderen Ideologien.

Vor diesem Hintergrund erscheint das Unterkapitel „Rassistisches Meinen“ angesichts heutiger Social-Media-Debatten fast unabdingbar. Marz fragt, warum Menschen rassistische Positionen über- und einnehmen. Diese Aneignung sei ein kollektiver Prozess der Entfremdung, der aber als individuelle, frei geäußerte Meinung erscheint. Wer sich im Einklang mit anderen erlebt, fühlt sich bestätigt, die eigene Meinung wirkt normal und wahr. Diese „normale“ Form des Meinens hat Adorno von ihrer pathischen Ausprägung unterschieden. Das Pathische, „das Deformierte und Aberwitzige von Kollektivideen“, liege bereits in der Struktur des Meinens selbst, in der „die reale Dynamik der Gesellschaft steckt“ (267). Durchschnittliche Meinungen werden so fetischisiert, sie wirken wahr, obwohl sie ideologisch sind. Die Vorstellung, Menschen in „Rassen“ einteilen zu können, kompensiere eine Ich-Schwäche, die Adorno als Folge der Ohnmacht des Subjekts gegenüber der Gesellschaft deutet (269). Der objektive Zustand der Entfremdung erzeuge damit subjektiv irrationale Formen pathischen Meinens. Hier hält sich Meinung nicht durch Prüfung, sondern durch emotionale Besetzung. In postfaktischen Debatten wird sie zusätzlich aufgewertet: In ihnen ersetzt die abstrakte Gleichheit der Meinungen den Streit um Argumente durch einen Kampf um die Macht. Unter diesem Schild aber kann der Rassismus wieder als Ressentiment auftreten, als bloßer Wille, die „Anderen“ nicht zu mögen und nicht zu ertragen, ohne dies begründen zu müssen, weil es nur als Meinung erscheint.

Im letzten Kapitel „Kein Ende in Sicht“ fasst Marz ihre Studie in 17 Thesen zusammen. Diese bieten eine knappe, fast tabellarische Übersicht über die vorangegangenen 300 Seiten und sind klarer strukturiert als manche der zuvor weit ausholenden Passagen, in denen man oft zurückblättern musste, um der Argumentation zu folgen. Sie greift hier die zentralen Begriffspaare wieder auf: Partikularismus und Universalismus, Objektivismus und Subjektivismus sowie Natur und Kultur, nun aber in einem durchgehenden Argumentationsfluss ohne die vielen Exkurse zu einzelnen Theoretikerinnen und Theoretikern.

Die Stärke der Darstellung in ihrem Buch liegt darin, aus unterschiedlichen Perspektiven zu zeigen, warum eine kritische Theorie des Rassismus dessen Reduktion auf Vorurteile zurückweisen muss. Zwar bleiben Vorurteile wichtige Untersuchungsgegenstände, weil sie ideologische Inhalte in subjektive Wahrnehmungen übersetzen und psychologisch ein Eigenleben entwickeln können. Doch sie sind zugleich Symptome einer gesellschaftlichen Logik, die rassistische Welterklärungen als Herrschaftspraxis stabilisiert. Als Ideologie rechtfertigt der Rassismus die Ungleichheit in einer Gesellschaft, die sich selbst über Gleichheit definiert. Wer den Rassismus daher nur als individuelles Vorurteil deutet, verschiebt diese Struktur auf einzelne Personen und setzt auf pädagogische oder psychologische Korrektur, ohne jedoch die Bedingungen zu verändern, die dieses Denken produzieren.

Der ideologische Kern des Rassismus liegt für Marz darin, Ungleichheit und Ausbeutung zu legitimieren, sei es nachträglich oder vorausschauend (310). Zugleich wird hier aber auch eine Schwäche sichtbar: Die starke Betonung struktureller Logiken lässt wenig Raum für Fragen nach der politischen Handlungsfähigkeit und nach den Brüchen, in denen rassistische Ideologien auch scheitern. Dennoch liefert sie eine wichtige Einsicht: Kritische Theorie kann sich nicht für eine kollektiv festgelegte Form des Nicht-Identischen einsetzen. Ihre Betonung des Nicht-Identischen richtet sich gegen den subsumierenden Charakter jedes Identitätsdenkens. Sie will die Unsichtbaren sichtbar machen, ohne die Identität zu verabsolutieren. Damit übt sie auch Kritik an der Identitätspolitik. Rechte Identitätspolitik strebt nach Homogenisierung; linke Identitätspolitik will das Heterogene stärken, betont aber oft die Gruppe statt die geteilten Erfahrungen. Im Zentrum sollten nicht Identitäten stehen, sondern die Sichtbarkeit gemeinsamer Erfahrung und ihr politischer Umgang. Marz erinnert daran, dass Ideologie nicht im Kopf entsteht, sondern in gesellschaftlichen Verhältnissen, die sie erzeugen. Befreiung liegt daher nicht im Festschreiben von Gruppenmerkmalen, sondern in der Kritik der Verhältnisse, die diese Merkmale politisch aufladen. Identitätspolitik ist produktiv nur dann, wenn sie Ausdruck geteilter Erfahrung ist. Kritische Theorie betont und erinnert, dass politische Kämpfe ihre Form wechseln müssen, um nicht das zu reproduzieren, was sie doch überwinden wollen.

Amlinger, Nachtwey – Zerstörungslust

Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey

Zerstörungslust

Elemente des demokratischen Faschismus

geb., 453 Seiten, 30,- €

Berlin 2025, Suhrkamp-Verlag

von Bernhard Schindlbeck

Dass die liberale Demokratie durch rechtspopulistische Bewegungen, Parteien, Akteure und Regierungen in Bedrängnis und unter Druck, ja in Existenznot geraten ist, wird so massenhaft wie hilflos beklagt, aber kaum jemand fragt, weshalb das so ist. Endlich, so muss man deshalb wohl sagen, erforscht jemand systematisch, vielschichtig und mit Genauigkeit die mannigfaltigen Ursachen dieser Misere. Und am liebsten würde man das Buch allen Abgeordneten und Regierungsamtsinhabern zur Pflichtlektüre machen. Zum Beispiel stehen alle Innenminister immer hilflos vor dem auf sie wie ein unlösbares Rätsel wirkenden Phänomen und finden keine Erklärung, weshalb Menschen Feuerwehrleute und Rettungssanitäter bei ihrer Arbeit behindern und sogar angreifen. Auf den Seiten 123 und 124 könnten sie sich einschlägig informieren und dann sogar, falls sie es schaffen, über ihren ideologischen Schatten zu springen, etwas begreifen. Warum, so fragen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey in ihrem mit dem Geschwister-Scholl-Preis 2025 ausgezeichneten Buch, „hat in liberalen Gesellschaften eine nicht unerhebliche Zahl an Menschen eine Gefühlsstruktur angenommen, die sich in Abwehr und Destruktion äußert?“ (112) Und sie erklären: „Unser Buch ist weniger eine Bestandsaufnahme neufaschistischer Projekte als vielmehr eine Suche nach den Gründen, warum sie auf so viel Zustimmung stoßen“ (13). Indirekt und unbeabsichtigt zeigt das Buch also auch, dass viele Politiker die Gesellschaft, in der sie agieren, gar nicht verstehen, weshalb ihr Handeln nicht in der Lage ist, den neofaschistischen Tendenzen etwas entgegenzusetzen.

In gewisser Weise schließen die Autoren an ihr Buch Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus von 2022 an. In zweifacher Hinsicht steht es in der Tradition der klassischen kritischen Theorie. Zum einen orientiert es sich methodisch (in modifizierter Weise) an den Untersuchungen des Instituts für Sozialforschung zur autoritären Persönlichkeit, außerdem will es ausdrücklich als wissenschaftliche Publikation politisch wirksam sein: „Adorno schrieb 1950, ‚die Wissenschaft‘ müsse ‚Waffen gegen die potentielle Drohung der faschistischen Mentalität‘ finden. Hierzu soll dieses Buch einen Beitrag leisten“ (26).

Die Intention und das Erkenntnisinteresse sind klar: „Uns geht es vor allem darum, die Wechselwirkungen zwischen sozioökonomischen sowie politischen Veränderungen und Gefühlsstrukturen zu analysieren. Wir orientieren uns dabei zwar stark an den Autoritarismus-Theorien der Frankfurter Schule, machen uns aber die in den Studien zum autoritären Charakter hinterlegte individualpsychologische Perspektive nur eingeschränkt zu eigen. Destruktivität begreifen wir nicht als einen in die Persönlichkeit eingelassenen Charakterzug, sondern wir betrachten sie als etwas Dynamisches … Wie lässt sich erklären, dass viele Menschen – wenn auch nicht die Mehrheit – autoritäre und destruktive Einstellungen entwickelt haben, obwohl sie keine autoritäre Grunddisposition haben, obwohl sie als Kinder viel weniger streng erzogen wurden, obwohl Männer nicht mehr zum Militärdienst müssen, beide Geschlechter mit anderen Rollenvorstellungen in Berührung kommen und in zunehmend liberalen Gesellschaften aufgewachsen sind?“ (25 f.)

Die empirische Grundlage der Studien bilden eine Umfrage mit 2060 Personen und ausführliche Gespräche mit daraus ausgewählten 41 Interviewpartnern, nämlich AfD-Wählern oder Sympathisanten; Ausschnitte aus diesen Gesprächen oder Zusammenfassungen werden über das Buch verstreut eingebaut, um die theoretischen Erkenntnisse zu illustrieren. Da die westliche Gesellschaft am Beispiel von USA und Deutschland in den Blick genommen wird, kommen (neben anderen europäischen Parteien und Politikern) in der Konkretion vorwiegend die neofaschistischen Kommunikations- und Politikstile Trumps und der AfD vor.

Der Ausdruck „demokratischer Faschismus“ scheint ein Oxymoron, auf den ersten Blick ein Widerspruch in sich selbst zu sein. Allerdings wird in der Abgrenzung der gegenwärtigen Phänomene vom „historischen Faschismus, der die Demokratie offen bekämpfte“ deutlich, inwiefern der demokratische Faschismus „in der Demokratie verankert“ ist und „sich als ihr Erneuerer“ versteht. „Gleichzeitig untergräbt er ihre Grundlagen. Treibende Kraft ist die Zerstörungslust. Mit seiner lustvollen Grausamkeit sowie dem frivolen Spiel der Gewalt geht der demokratische Faschismus über den Rechtspopulismus hinaus“ (12). Die destruktiven Impulse dieser neuen Art des Faschismus richten sich grundsätzlich gegen alles Liberale, Fortschrittliche und Emanzipatorische der liberalen Demokratie. Ausführlich erklären die Autoren: „Wir wählen für unsere Analyse eine Perspektive, in der wir die grundsätzliche Problemkonstellation des historischen Faschismus aufnehmen, dabei jedoch die veränderten Strukturen, Normen und Handlungskonstellationen in der Gegenwart berücksichtigen. Auf der makrosoziologischen Ebene lässt sich dabei zunächst feststellen: Der Faschismus resultiert auch heute – nicht nur, aber wesentlich – aus Krisen der kapitalistischen Moderne, in der sozioökonomische und moralische Fortschritte blockiert sind. Dennoch unterscheiden sich die Zeit der Großen Depression und unsere Gegenwart signifikant: Mit der Massenarbeitslosigkeit der Jahre 1929ff. wurden große Teile der Mittelklasse pauperisiert. Sie büßten ihren Status ein und hofften, ihn durch eine Zerstörung der sozialistischen Arbeiterbewegung zu restaurieren. Heute hingegen sind eher die Angst vor Statusverlust, eine gefühlte Blockade und das Nullsummendenken die Quelle faschistischer Affekte“ (258 f.).

Das Nullsummendenken „ist eine zentrale, wenn nicht die wesentliche mentale Schaltstelle, um die Entstehung des gegenwärtigen Faschismus zu verstehen“ (50). Es ist eine Folge davon, dass ohne entsprechende Wachstumsraten viele Menschen das Gefühl haben, es sei nicht genug für alle da, sodass das, was der eine bekommt, dem anderen vorenthalten wird. Alles, was Flüchtlingen, Fremden, Migranten zugutekommt, fehlt den einheimischen Deutschen. Dieses simple Denkmuster kommt dadurch zustande, dass – wie in den ersten beiden Kapiteln (Nach dem Fortschritt und Blockiertes Leben) detailliert herausgearbeitet wird – Demokratie und Liberalismus nicht mehr in der Lage sind, die Versprechen, die mit ihnen gemeinhin verbunden werden, einzulösen, vor allem die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs („die Kinder werden es einmal besser haben“) und der materiellen Verbesserung der eigenen Lage. Der Liberalismus hat seine Kraft und Glaubwürdigkeit verloren, er „leidet unter einem Mangel an Problemlösungskapazitäten“ (15), wie allabendlich in den Fernsehnachrichten und in den Talkshows ausführlich gezeigt wird. Im Rückgriff auf die Untersuchungen von Karl Polanyi und Seymour Martin Lipset über die sozioökonomischen Grundlagen des Funktionierens der Demokratie zeigen Amlinger und Nachtwey, woran genau die Demokratie heute scheitert. Die Wachstumsraten von 1961 bis 2023 für USA und Deutschland zeigen, wie es dem Kapitalismus immer weniger gelingt, ein hinreichendes Wachstum zu generieren, um Wohlstand auch für die mittleren und unteren Schichten zu garantieren und den Wohlfahrtsstaat zu finanzieren. Politik ist nicht in der Lage, Lösungen für die vielen Krisen (Klimawandel, Wachstumskrise, Renten- und Pflegeproblematik, marode Infrastruktur, Finanzierung des Gesundheitssystems, des Bildungssystems usw.) zu entwickeln. Der Neoliberalismus hat, gerade unter sozialdemokratischen Regierungen (Clinton, Blair, Schröder), neue eklatante Ungleichheiten geschaffen und zur Eskalation dieser Ungleichheit beigetragen, wobei im selben Zug soziale und demokratische Rechte und Institutionen, die einst für die Einhegung des Kapitalismus sorgten, in vielen Bereichen abgewickelt wurden. Die moderne Gesellschaft wird regressiv, was sich vor allem für die Unterklassen negativ auswirkt. „Die Politik ist nicht länger in der Lage, effektiv für Wachstum und Aufwärtsmobilität zu sorgen, wodurch sie in den Augen vieler Bürger:innen an Legitimation einbüßt. Zugleich lässt der beschleunigte soziale Wandel neue Spaltungslinien aufbrechen. Bislang nicht repräsentierte Gruppen werden besser integriert; zuvor privilegierte Gruppen fühlen sich übergangen und von einer ‚woken‘ Hegemonie bedroht. Diese gefühlte Bedrohung ist eine wichtige Quelle des gegenmodernen Projekts“ (47 f.).

Für immer mehr Menschen ergibt sich angesichts der nicht endenden Sparpolitik aller Regierungen der Eindruck, das eigene Leben sei blockiert, ein Gefühl der Perspektivlosigkeit und der Ohnmacht, das anfällig für Autoritarismus macht. Bei der Erklärung des „Gefühl[s] des blockierten Lebens“ beziehen sich die Autoren umfassend auf Studien Erich Fromms, der in seinem Buch Die Furcht vor der Freiheit (1941) von der „Vereitelung des Lebens“ sprach. „Die Räder des gesellschaftlichen Antriebsmechanismus bewegen sich nicht mehr synchron, sie erzeugen eine Blockade. Dies drückt sich in empfundenen Benachteiligungen aus, etwa dem Gefühl, sich hinten anstellen zu müssen, nicht auf seine Kosten zu kommen, den Kürzeren zu ziehen. Die moderne Idee gelungener Lebensführung, die auf Maximen des quantitativen Zuwachses und der qualitativen Verbesserung gründet, stößt im Gefühlshaushalt der Nachmoderne auf Schranken. Potenzialitäten, die nicht verwirklicht werden können, werden zu verhinderten Möglichkeiten“ (134). Klar ist, dass es hier nicht um einzelne enttäuschte Wünsche geht, sondern um „eine umfassende Blockade.“ Das Leben ist für Fromm „durch eine expansive Dynamik geprägt: Menschen wollen sich ausbreiten und Spuren in der Welt hinterlassen. Werde ‚diese Tendenz vereitelt‘, so Fromm, … scheine ‚die auf das Lebens ausgerichtete Energie einen Zerfallsprozeß durchzumachen und sich in Energie zu verwandeln, die auf Zerstörung ausgerichtet ist. … Destruktivität ist das Ergebnis ungelebten Lebens.‘ Diese Beobachtung ist so hellsichtig wie folgenreich. Sie führt uns zum Kern der gegenwärtigen Zerstörungslust“ (135).

Das dritte Kapitel untersucht verschiedene Grade, Typen und Formen der Destruktivität, ordnet sie statistisch bestimmten Einstellungen (etwa Antisemitismus, Anti-Gender, Klimaskepsis und Formen des Autoritarismus wie Unterwürfigkeit, Aggression und Konventionalismus), aber auch sozialen Schichten und Berufsklassen nach AfD-Wahlabsicht zu. Als die drei grundlegenden Typen der Destruktivität werden sog. Erneuerer, Zerstörer und Libertäre ausgemacht. Die Erneuerer wollen die liberalen Institutionen „erschüttern, um auf ihren Trümmern eine Gesellschaft mit traditionellen Hierarchien wieder- oder neu aufzubauen und sie schließlich saniert in die Zukunft zu führen“ (214). Die Gesellschaft der Vergangenheit mit tradierten Rollenbildern und ohne (bzw. mit nur geringer) Migration imaginieren sie als „Normalität“. Dagegen weisen die Zerstörer „viele Züge der von Fromm identifizierten rachsüchtigen Destruktivität auf, die ‚oft grausam, lustbetont und unersättlich‘ sei. Es gibt unter den Zerstörern mitunter eine regelrechte Strafsucht, auch die Todesstrafe wird von ihnen häufig befürwortet und gilt als probate Lösung sozialer Probleme. Zugleich fürchten sie sich besonders vor Heterogenität, Diversität und gemischten Verhältnissen jeder Art (der Geschlechter, der Hautfarben, in der Gesellschaft usw.), wobei sie diese Angst oft mit biologischen und evolutionstheoretischen Argumenten unterlegen“ (215). Die libertären Autoritäten vertreten einen radikalen Individualismus, eine ausgeprägte Migrationsfeindlichkeit und „wollen sich nicht zuletzt aus ideologischen Gründen des regulierenden Staates entledigen“ (217). Eine Geneinsamkeit aller Typen besteht darin, dass in all ihren Ansätzen zur Kritik der demokratischen Gesellschaft der Kapitalismus ausgespart bleibt.

Das vierte Kapitel (Demokratischer Faschismus) widmet sich ausführlich dem Begriff des Faschismus, der bekanntlich oft sehr leichtfertig und vorschnell bestimmten politischen Erscheinungen als Etikett angeheftet wird. Zunächst wird die „Bivalenz des Faschismus“ (237 ff.) als Grundmuster erläutert, womit der „Doppelsinn oder die Doppelbödigkeit von Sprechakten oder symbolischen Handlungen, die neben der wörtlichen noch eine weitere Bedeutung transportieren“, gemeint ist (239 f.). Mussolini ist ein perfektes Beispiel für solche Sprechakte, die durch ihre Bivalenz Wahrheitsansprüche und Zurechenbarkeit sowie Verantwortung immer unterlaufen und eine Atmosphäre schaffen, „die sich hinter dem Gesagten verbirgt. Faschistische Dispositionen zeigten sich in unseren Gesprächen oft in Allegorien oder vagen Andeutungen. Im Zweifel können die Interviewten immer behaupten, es sei eigentlich ganz anders gemeint gewesen.“ Der Faschismus befördert etwas, „das in einem vagen Gefühl bereits vorhanden ist, aber unbestimmt bleiben soll. Faschistische Politik ist eine Führung der Gefühle, in der unbewusste Impulse, Wünsche und Ängste nicht bewusst gemacht, sondern ‚künstlich unbewusst‘ (Adorno) gehalten werden“ (241). Dass sich dafür auch Mythen des Nationalen und Schicksalhaften perfekt eignen, leuchtet ein. „Es sind Erzählungen ewiger Wiederkehr und schicksalhafter Fügung, die die Prüfungen des Lebens mit Bedeutung ausstatten und Menschen ihren Platz in einer überzeitlichen Ordnung zuweisen, wenn die eigene Existenz als kontingent und der eigene Lebenslauf als blockiert wahrgenommen wird. Wer den Mythos – vor allem jenen der historischen Mission der eigenen Nation – erkannt hat und an ihn glaubt, kann sich erhaben fühlen … Auf dem Mythos gründet der affektive Magnetismus des Faschismus, da er ein Gefühl des Ungenügens und des Mangels in Größe umwandelt“ (242).

Um die vielfältigen Facetten des „demokratischen Faschismus“ richtig einzuordnen, werden im Rückgriff auf den historischen Faschismus verschiedene Definitionen und Erklärungen des Faschismus – von Georgi Dimitroff bis Robert Paxton, Michael Mann, Roger Griffin usw. – kontrastierend betrachtet und geprüft. Zentrale Elemente sind immer wieder die Sakralisierung der Nation, die Gewaltverherrlichung und der antimoderne Impuls. Die Autoren verflechten ihre Ergebnisse mit einem umfangreichen kulturellen Wissen innerhalb eines weiten Horizonts nicht nur profunder soziologischer, politikwissenschaftlicher und historischer Kenntnisse, auch psychoanalytische Befunde (etwa aus Theweleits Männerphantasien) und Überlegungen postmoderner Autoren wie Foucault, Deleuze und Guattari (Anti-Ödipus und Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie) oder Lacan (Encore. Das Seminar) werden in die Erklärungen unterstützend einbezogen. Im Schlusskapitel (Ein neuer Antifaschismus) wird deutlich ausgesprochen, dass ein neuer Antifaschismus notwendig ist und dieser logischerweise nicht aus dem Liberalismus kommen kann, da letzterer mit seinem Versagen als Mitverursacher an der Wiege des neuen demokratischen Faschismus steht. Schon Polanyi kam ja zu der Schlussfolgerung, dass die liberale Marktgesellschaft eine für die menschliche Gemeinschaft zerstörende Wirkung hat. Deshalb schließt das Buch mit einem leicht abgewandelten Zitat von Max Horkheimer: „Wir sind so frei, abschließend ein bekanntes Diktum Max Horkheimers ein wenig zu ergänzen: Wer aber vom Kapitalismus und vom Liberalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“ (321). Dass diese Ergänzung notwendig ist, erschließt sich schon aus der Tatsache, dass der Liberalismus bei all seinen theoretischen Auffächerungen und unterschiedlichen Akzentuierungen letztlich immer nur ein ideologischer Appendix des Kapitalismus war.

Amlinger und Nachtwey legen hier ein überaus wichtiges und lesenswertes Buch vor, das in vielen Richtungen und Verästelungen einem neuen Phänomen nachgeht, das bislang mit dem Ausdruck Rechtspopulismus eine eher verharmlosende Bezeichnung erhalten hat, weshalb der Untertitel vollkommen berechtigt ist. Seine Befunde werden auch durch andere Studien bestätigt. So kommt zum Beispiel eine Allensbach-Umfrage vom November 2025 zu dem Ergebnis: „Das Vertrauen in demokratische Systeme schwindet. Viele Deutsche trauen mittlerweile autoritären Systemen mehr Krisenkompetenz zu als Demokratien“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.11.2025).

Es bleibt nur die Frage, ob etwas nicht oder nicht ausreichend beleuchtet ist. Denn es fällt ja auf, dass die Grobunterscheidung zwischen Demokraten einerseits und Anhängern des neuen Faschismus andererseits von den Autoren beibehalten wird. Für Deutschland heißt das: Hier die sog. demokratischen Parteien, dort die AfD und ihre Wähler und Anhänger. Dass es jedoch dazwischen eine Zone des Übergangs und eben keine Kluft gibt, wird nicht deutlich genug. Im Spiegel-Interview etwa sagt Carolin Amlinger: „Selbst wer kein großer Anhänger des aktuellen CDU-Fraktionsvorsitzenden ist, wird ihm richtigerweise kaum absprechen, ein Demokrat zu sein. Bei den konservativen und nationalen Kräften in der Weimarer Republik war das anders“ (42/2025). Mit solchen wohlmeinenden Zuschreibungen übersieht man aber, dass faschistoide Einstellungen immer wieder gerade von Politikern und Journalisten bedient werden müssen, was in der Ära der Sozialen Medien natürlich einfach ist. Jedoch auch etablierte Publikationen wie Cicero, Bild und Welt, Plattformen wie Die Achse des Guten unterstützen neben konservativen Politikern aus der vermeintlichen Mitte und anderen sog. Experten ganz kräftig die Haltungen des demokratischen Faschismus. Ausgerechnet Jens Spahn hat in der Causa Brosius-Gersdorf gezeigt, wie wenig abgeneigt er der Disruption von hergebrachten Spielregeln im parlamentarischen Procedere ist, wie sehr der breite rechte Rand der Mitte sich vom Mob anstacheln lässt. Und wenn etwa ein Ministerpräsident Söder verkündet: „Es kann nicht sein, dass jemand, der bei uns ist, quasi eine Art Asylgehalt bekommt und davon dann noch perfekt leben und die gesamte Heimat finanzieren kann,“ dann reiht er sich damit in die Unterstützer des demokratischen Faschismus ein. Ebenso Friedrich Merz im September 2023 mit seiner Aussage von den dreihunderttausend abgelehnten Asylbewerbern, die „die vollen Leistungen bekommen, die volle Heilfürsorge bekommen. Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine.“ Damit fördert er mit voller Absicht das von Amlinger und Nachtwey analysierte Nullsummendenken und die Haltung „Ich muss verzichten, weil Migranten illegitimer Weise etwas bekommen, was eigentlich mir zusteht“. Desgleichen ist seine Aussage zum Stadtbild im Zusammenhang mit Migration („Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.“) ein Musterbeispiel für bivalent faschistische Aussagen. Hinterher kann man (so wie Merz es macht) „immer behaupten, es sei eigentlich ganz anders gemeint gewesen“ (241). Und auf die Rückfrage, wie er es denn gemeint habe, kommt ein charakteristisch ungenaues und vages „Fragen Sie ihre Töchter“. Das ist der im Buch beschriebene kommunikative Stil des Faschismus. Man muss die Demokratie also auch gegen solche Unterstützer des Mobs aus der konservativen Mitte heraus verteidigen. Und dabei müsste man den Mut haben, sie namentlich zu nennen, denn sonst lässt sich die Demokratie nicht verteidigen. Dieser Mut hätte dem Buch gut getan.

Wagner – Abenteuer der Moderne

Thomas Wagner

Abenteuer der Moderne

Die großen Jahre der Soziologie 1949–1969

geb., 330 Seiten, 28,- €
Stuttgart 2025, Klett-Cotta Verlag

von Konrad Lotter

Thomas Wagner erzählt die Geschichte der deutschen Nachkriegs-Soziologie als einen Prozess, der von Gegensätzen ausgeht, die sich innerhalb von 20 Jahren über verschiedene Stufen hinweg zunächst auflösen, wobei es zu gewissen Annäherungen, zu allen möglichen Formen der Zusammenarbeit und sogar zu persönlichen Freundschaften kommt. Am Ende der „großen Jahre“ allerdings brechen, wie er weitererzählt, die alten Gegensätze unter veränderten Verhältnissen und in veränderter Form wieder auf. Im Zentrum des Buches steht dabei die Beziehung von Th. W. Adorno als Repräsentant der 1949 aus der Emigration zurückgekehrten Antifaschisten und Arnold Gehlen, der 1933 das „Bekenntnis deutscher Professoren zu Adolf Hitler“ unterschrieben und während des „Dritten Reiches“ eine „Traumkarriere“ gemacht hatte.

Eine erste „Begegnung“ der beiden fand bereits am Ende der Weimarer Republik statt. Adorno hatte sich bei dem religiösen Sozialisten Paul Tillich mit seiner Arbeit über Kierkegaard habilitiert. Tillich, der sich mit einer Kritik am aufkommenden Nationalsozialismus hervorgetan hatte, wurde sofort nach der „Machtergreifung“ aus dem Staatsdienst entlassen. Seine Professur erhielt vertretungsweise Gehlen. Wie seinem Lehrer war auch Adorno die Universitätskarriere versperrt, er emigrierte zuerst nach England, dann in die USA. Gehlen wurde dagegen auf den Lehrstuhl seines ebenfalls entlassenen jüdischen Doktorvaters Hans Driesch in Leipzig berufen, später auf den Kant-Lehrstuhl in Königsberg und zuletzt an die Universität in Wien.

Von den acht Lehrstühlen für Soziologie, die 1949 nach dem Ende der Diktatur ihre Arbeit aufnahmen, waren drei von zurückgekehrten Emigranten oder ausgewiesenen Gegnern des Nationalsozialismus (Max Horkheimer, der zunächst von Adorno nur vertreten wurde, René König, Otto Stammer), drei von ehemaligen Nazis (Arnold Gehlen, Helmut Schelsky, Gerhard Mackenroth) besetzt, die nach kurzer „Entnazifizierung“ wieder eingestellt wurden und weiterlehren durften. Das gegenseitige Misstrauen war, wie Thomas Wagner berichtet, groß; beide Seiten fühlten sich voneinander ausspioniert. Schon Anfang der 50er Jahre allerdings, im Zuge der Adenauerschen Politik des Kalten Krieges, der Aufrüstung und der Frontstellung gegen Stalin und die Sowjetunion, die beide Seiten unterstützten, war der Boden ihrer Annäherung bereitet.

Noch überwog freilich die Feindschaft. Durch „vernichtende Gutachten“ verhinderten Horkheimer und Adorno die Berufung Gehlens nach Heidelberg. Adorno stützte sich dabei vor allem auf die Zuarbeit und das Urteil seines damaligen Assistenten Jürgen Habermas. Habermas hatte bei dem Faschisten Erich Rothacker, dem Organisator der „Bücherverbrennungen“ 1933, promoviert, hatte versucht, (in Fortführung der „Kritischen Theorie“) die Marxsche Theorie weiterzuentwickeln, stieß dabei aber auf die Ablehnung von Horkheimer, der sich von diesen Anfängen inzwischen entfernt hatte. In dessen Person zeigt Thomas Wagner die langsame Durchlässigkeit der Grenzen zwischen ehemaligen Faschisten und Antifaschisten. Horkheimer pflegte Kontakte nicht nur zu Adenauer, sondern auch zu dem Bankier Hermann Joseph Abs, der Himmler nahegestanden war, unterstützte (durch Gutachten) den „Parteigenossen“ Bruno Liebrucks und den Rasseforscher Karl Valentin Müller. Er versuchte sogar, die Nazi-Propagandistin Elisabeth Noelle-Neumann, die in der Nachkriegszeit als Demoskopin große Anerkennung fand, zur Mitarbeit im „Institut für Sozialforschung“ zu gewinnen. Habermasʼ marxistisch-orientierte Ablehnung von Gehlen (in dessen Soziologie seiner Ansicht nach „das gesamte Instrumentarium des Faschismus … beisammen“ ist) erscheint umso bemerkenswerter, als sie der ebenfalls marxistisch-orientierten Begeisterung für Gehlen von Seiten des philosophischen Jung-Stars aus der DDR, Wolfgang Harich, gerade entgegengesetzt ausfiel. Harich hielt Gehlens 1940 erschienenes Werk Der Mensch (in zweiter Auflage von Anpassungen an NS-Jargon und -Ideologie gereinigt) für eine Leistung, die für die systematische Ausarbeitung einer marxistischen Anthropologie unverzichtbar sei. Er suchte die Freundschaft Gehlens und setzte sich (vergebens) sogar dafür ein, ihn an die Ostberliner Humboldt-Universität zu berufen.

Eine Zäsur in der Beziehung zwischen Adorno und Gehlen bildete das Jahr 1960, in dem Gehlens Zeit-Bilder erschienen. Mit seinem Untertitel Zur Soziologie und Ästhetik der Moderne beinhaltete es ein Plädoyer für die abstrakte Malerei und überhaupt die Kunst der Avantgarde, in dem Adorno Übereinstimmungen mit seiner eigenen Kunstanschauung entdeckte. Es kam darüber gewissermaßen zu einem Bündnis nicht nur gegen den verbreiteten Publikumsgeschmack (der zu dieser Zeit der Ablehnung der „entarteten Kunst“ durch die Nazis noch ähnlich war), sondern auch gegen die reaktionäre Ablehnung der Avantgarde durch Hans Sedlmayr, der die Abkehr der Kunst von der Religion als Verlust der Mitte beklagte. Einig waren sich beide auch in der Ablehnung von Heidegger, dem „Yogi von Freiburg“ (Gehlen) und Schwadroneur des „Eigentlichkeit“ (Adorno). Dissens bestand dagegen in Bezug auf Hegel, von dem sich (nach Gehlens Ansicht) nichts mehr lernen ließ. Im Gegensatz zu Günter Anders oder René König, die mit dem ehemaligen Nazi nichts zu schaffen haben wollten, entwickelte sich zwischen Adorno und Gehlen eine gewisse Freundschaft mit privaten Essenseinladungen (samt Ehefrauen) und Ausflügen (in Gehlens VW).

Auf dieser Grundlage kam es zu den denkwürdigen „Streitgesprächen“, die 1964 /65 im Südwestfunk, späterhin auch im WDR-Fernsehen übertragen wurden. Unter Wahrung kollegialer Achtung stritt man zum einen über die Frage, ob sich im Deutschland der Nachkriegszeit eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ breitgemacht habe, für die die Marx‘sche Klassenanalyse nicht mehr greift (so Gehlen im Anschluss an Schelsky), oder die Gesellschaft weiterhin nur als Klassengesellschaft angemessen begriffen werden kann. Zum anderen stritt man über die Bedeutung gesellschaftlicher Institutionen, die von Menschen geschaffen, sich den Menschen gegenüber aber verselbständigt und Macht über sie gewonnen haben. Gehlen, der die Menschen als (biologische) „Mängelwesen“ dargestellt hatte, begriff die Institutionen als „Entlastung“, ohne die die Menschen innerhalb der Industriegesellschaft nicht überleben und sich entwickeln könnten. Freiheit sei nur innerhalb und unter der Voraussetzung und Akzeptanz der bestehenden Entfremdung möglich. Adorno betonte dagegen den repressiven Charakter der Institutionen, die den Menschen im Zustand der Unmündigkeit halte und forderte, die verselbständigten Institutionen wieder unter die Kontrolle der Menschen zu bringen.

Wagners Buch besticht durch seine weite Perspektive und seinen ungeheuren Detailreichtum. Es erzählt die Geschichte der Soziologie in ihrem Bezug auf die Kehrtwendungen und auch auf die Skandale der Politik (Spiegel-Affäre u.a.), auf die wachsende Bedeutung der Massenmedien für den wissenschaftlichen Diskurs und berücksichtigt nicht zuletzt die Biografien und Karrieren einzelner Soziologen. Eine eminente Rolle spielt darin selbstverständlich auch der wirtschaftliche Aufschwung des „Wirtschaftswunders“ und seine Auswirkungen auf die rasanten Veränderungen der Lebenswelt, was die Bedeutung der Soziologie steil ansteigen ließ. 1960 gab es nicht mehr nur 8, sondern bereits 25 Lehrstühle für Soziologie, die Zahl der Studenten an der Frankfurter Universität stieg von 60 (1955) auf 626 (1968). Bundesweit verdreifachte sich ihre Zahl von 1897 (WS 1963/64) auf 5593 (WS 1970/71). Soziologische Bücher wurden zu Bestsellern, zunächst noch mehr von Gehlen und Schelsky als von Adorno und Habermas. Von der Soziologie erwartete man Antworten auf die drängenden Fragen der Industriegesellschaft.

Hatten sich Adorno und Gehlen zunächst einander angenähert, miteinander diskutiert und partiell zusammengearbeitet, so brach im Zuge der Studentenrevolte die alte Feindschaft wieder auf. Dem 16. Kongress der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ im April 1968 zum Thema Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft, der mit 1300 Teilnehmern in der Frankfurter Messehalle abgehalten wurde, blieb Gehlen fern. Während die Studenten neben den Klassikern des Marxismus zunehmend auch die Anarchisten (Bakunin, Kropotkin, Mühsam u.a.) lasen und praktisch-politische Konsequenzen daraus zogen, geriet der Konservative Gehlen, der sich zusammen mit anderen konservativen Professoren im „Marburger Manifest“ den Mitbestimmungs-Ansprüchen der Studenten widersetzte, zunehmend in die Isolation. Er warf dem „liberalen Halbmarxisten“ Adorno vor, die bis dahin überwiegend braven Studenten mit seinen utopischen Idealen zur Revolte angestachelt zu haben. Die Revolte richtete sich zuletzt allerdings auch gegen Adorno selbst, der, als das soziologische Institut von Studenten besetzt wurde, die Polizei zur Hilfe rief und seine Vorlesung abbrach, als er dafür zur „Rechenschaft“ gezogen und zur Entschuldigung aufgefordert wurde. Von den Krawallen gesundheitlich stark angeschlagen, verstarb Adorno im Sommer 1969.

Die „großen Jahre der Soziologie“ hatten, wie Thomas Wagner ergänzt, ein erfreuliches politisches Nachspiel. Bei der Bundestagswahl 1969 scheiterte die NPD, die bereits in verschiedenen Landesparlamenten gesessen hatte, an der 5%-Hürde. Der damalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, wie Gehlen ehemaliges Parteimitglied der NSDAP, verlor die Wahl. An seiner Stelle wurde Willy Brandt, der wie Adorno 1933 vor dem Nationalsozialismus geflohen und ins Exil gegangen war, zum Bundeskanzler gewählt.

Von großem Interesse sind zuletzt auch noch Wagners Schlussbemerkungen über die Rezeption Gehlens nach dem Ende der „großen Jahre“. Auf der einen Seite wurde Gehlen von den rechtsgerichteten Zeitschaften Criticon und Sezession als ein „unabgegoltener Denker“ entdeckt und dem Studium empfohlen. Mit seiner Propagierung staatlicher Ordnung und autoritärer Strukturen (wobei er zuletzt noch in der Sowjetunion ein Vorbild gesehen hatte) stieg Gehlen auf diesem Wege zum Vordenker der Neuen Rechten auf. Auf der anderen Seite wandte sich Wolfgang Harich, der langjährige Freund und Bewunderer Gehlens (der dessen Werke Georg Lukács und Bert Brecht dringend zum Studium empfohlen hatte) enttäuscht von ihm ab. Ab 1986 sieht er in ihm nur noch den Plagiator des jüdischen Mediziners und Anthropologen Paul Alsberg und dessen Buch Das Menschheitsrätsel (1922): einen Ganoven, der einem Verfolgten des Nazi-Regimes „den rationalen Kern seines Hauptwerkes gestohlen“ hat.

Joas – Universalismus

Hans Joas

Universalismus

Weltherrschaft und Menschheitsethos

geb., 975 Seiten, 48,- €

Suhrkamp-Verlag, Berlin 2025

von Robert Lembke

Will, wer Menschheit sagt, betrügen, wie einst Carl Schmitt insuinierte? Nicht, wenn es nach Hans Joas geht: Ganze 900 Seiten widmet der Soziologe mit dem theologischen Profil einer Analyse dessen, was er „moralischen Universalismus“ nennt: Das Bewusstsein dafür, dass allen Menschen ein unhintergehbarer Wert zukommt, auch jenseits der eigenen Gruppe und unabhängig von Interessen und Situationen.

Nicht unbedingt erleichtert wird das Verständnis dadurch, dass das gewichtige Buch den Abschluss einer Trilogie bildet: Hatte Joas im ersten Band nach der „Macht des Heiligen“ gefragt und – der gängigen These einer unumkehrbaren Säkularisierung entgegentretend – ihre vielfältigen Transformationen in der Moderne aufgesucht, bezog er sich im zweiten Band, „Im Bannkreis der Freiheit“, kritisch sowohl auf Hegel als auch auf Nietzsche und versuchte, ein alternatives Religionsverständnis zu entwickeln, das um den Begriff der „Selbsttranszendenz“ und seine ethischen Implikationen kreist.

Im dritten Band nun sind für Joas die Quellen des moralischen Universalismus untrennbar mit der „Achsenzeit“ (800 v. Chr. bis 200 n. Chr.) verbunden. Mit Karl Jaspers, Robert Bellah und anderen sieht er in diesem langen geschichtlichen Zeitraum erstmals ein Menschheitsethos aufscheinen, dessen vielfältige Ausdrucksformen und Wandlungen die weitere Geschichte mitbestimmt haben. Die moralischen Universalismen in Indien, China, dem antiken Griechenland und im Judentum seien eine „kontingente schöpferische Reaktion“ (81) auf den Eroberungs- und Anpassungsdruck antiker Imperien gewesen – wobei sich hier relativ zu Beginn die interessante Pointe ergibt, dass sich drei davon, nämlich der indische, jüdische und griechische moralische Universalismus, der Expansion des antiken persischen Weltreichs „verdanken“. Damit ist zugleich auch der weltgeschichtliche Gegenspieler des Menschheitsethos benannt – der „politische Universalismus“ machthungriger Staaten, die stets bestrebt sind, ihren Herrschaftsbereich zu vergrößern und der eigenen Weltanschauung notfalls mit Gewalt Geltung zu verschaffen.

Die Quellen des moralischen Universalismus werden zunächst aufgesucht in der jüdischen Prophetie, im antiken Griechenland – weniger in Demokratie (nicht konsequent implementiert) und Philosophie (Platon und, etwas überraschend, Aristoteles kommen sehr schlecht weg) als vielmehr in der Tragödie, die Joas allerdings an einem einzigen Werk, Aischylos’ „Die Perser“, exemplifiziert – sowie in Indien (Buddhismus) und China (Konfuzianismus). Schon hier ist Joas’ Bemühen um eine Abkehr vom Eurozentrismus zu verspüren, die ebenso wie seine immer wiederkehrende Auseinandersetzung mit postkolonialen Argumenten sicherlich positiv zu bewerten ist.

Charakteristisch für seine Arbeit ist außerdem der methodische Ansatz, seine eigenen Gedanken über weite Strecken in Abgrenzung und Vergleich mit den Soziologen Max Weber und Ernst Troeltsch zu entwickeln – ein m.E. nicht immer nur produktives Vorgehen, das das Buch teilweise unnötig verlängert, gerade wenn man sich die teils harsche Kritik an den Autoren (mehr an Weber als an Troeltsch) vor Augen führt. Hier wie fast durchgehend zeigt sich Joas jedoch vor allem als stark vom akademischen Umfeld geprägter, skrupulös-relativistischer Denker, der neben stupender Gelehrsamkeit auch mit immensem philologischen Eifer aufwartet – da werden ein ums andere Mal handschriftliche Anmerkungen in abseitigen Werken beigebracht, und es wäre ohne Weiteres möglich, eine Liste von 20 Autoren anzuführen, deren Namen auch Diskursteilnehmern kaum bekannt sein dürften, denen Joas jedoch entscheidende Impulse zuspricht.

Zurück zur Argumentation: Von Anfang an steht der moralische Universalismus unter dem Druck politischer Mächte; in Indien kann der Buddhismus niemals wirklich Fuß fassen und wandert aus, der Konfuzianismus ist der Sonderfall einer „konfessionslosen“, d.h. nicht institutionalisierten und mit anderen Einflüssen teilweise bis zur Unkenntlichkeit sich vermischenden, Religion ohne Kirche, und das geschichtliche Schicksal des Judentums ist weithin bekannt. Umso interessanter muss in der Rückschau der Sonderfall des Christentums erscheinen, das – vermittelt über Paulus als zentrale Figur – eine „Fusion seines religiös-moralischen Universalismus mit dem politischen Universalismus des Imperiums“ (271) zustande brachte und dieses Imperium, das römische, bekanntlich sogar überlebte.

Die wechselvolle Geschichte des Verhältnisses von christlicher (Staats)Religion und den Nachfolgeregimen Roms, wie sie Joas rekonstruiert, kann hier nicht nachgezeichnet werden. Ausdrücklich seien jedoch die diffizilen Kapitel zu Augustinus, zum Dualismus von weltlicher und geistlicher Macht oder zur sogenannten organischen Sozialethik, gipfelnd in Dantes utopischer Vision einer christlichen Universalmonarchie, dem geschichtlich und philosophisch interessierten Leser zur Lektüre empfohlen – Joas befindet sich hier offenbar auf ureigenstem Terrain und kann mit einer Fülle interessanter Befunde und Einsichten aufwarten, immer akribisch situiert und eingeordnet in den diskursiven Strom aktueller Forschung und Diskussion. Ein Beispiel sei trotzdem angeführt, nämlich die Beschreibung der Art und Weise, wie das Christentum in der Eucharistiefeier die archaische Praxis des Opfers (von Menschen, Tieren oder Dingen) in einer Weise transformiert, die an Hegels dialektische „Aufhebung“ erinnert: ein Prozess, in dem eine Sache zugleich beendet, erhöht und bewahrt wird.

Mit dem Ende des Mittelalters entsteht ein zweiter Strang des moralischen Universalismus, der aus den Naturrechtsdebatten des Mittelalters hervorgehende Menschenrechtsdiskurs. Als zentrale Figur macht Joas den Dominikaner Bartolomé de Las Casas aus, der, selber anfänglich spanischer Kolonialist im neu „entdeckten“ Amerika, sich mehr und mehr gegen die Gewalt an und Ausbeutung der indigenen Bevölkerung wendet: „In den folgenden Jahren verstärkte sich bei ihm die Identifikation der Indios mit dem gequälten und gekreuzigten Christus gemäß dessen Lehre, ihn jederzeit in den Geringsten unter den Mitmenschen zu sehen“ (460). Freilich bleibt Las Casas’ lebenslanges Engagement weitgehend folgenlos, wie sowohl er selbst als auch Joas keineswegs leugnen – wohl aber nicht vollkommen wirkungslos: Denn von hier führt eine Linie über Zwischenstationen zu den Menschenrechtserklärungen der Amerikanischen und Französischen Revolution, die in ihrer Interdependenz sowie im Zusammenhang mit den Weltgeschehnissen genauestens analysiert werden. Dabei setzt sich Joas immer wieder in bewundernswerter Weise mit der postkolonialistischen Frage auseinander, ob denn nicht diese angeblich universalen Menschenrechte angesichts ihrer unauflöslichen Verstrickung mit dem Kolonialismus – dem nach Dauer und Opferzahl wohl größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte – nicht wertlos seien; oder schlimmer noch, ob sie als ‚Feigenblatt‘ des politischen Universalismus (Joas vermeidet den Begriff „Imperialismus“ wegen dessen Engführung bei Lenin) nicht sogar gegenteiligen Zielen dienten. Joas arbeitet sich an dieser Frage sehr intensiv ab, verneint sie jedoch letztlich.

Weniger überzeugen kann Joas‘ Auseinandersetzung mit der Moderne. Die Aufklärung und die mit ihr verbundene Zurückdrängung religiöser Prägungen und Vorstellungswelten zeichnet er als europäischen Sonderweg, der „in hohem Maße kontingent“ (525) gewesen sei. Über die wesentlichen Treiber dieser Entwicklung, nämlich (Natur)Wissenschaft und Technik, redet Joas freilich nicht. Stattdessen betont er, dass sich jede moralische und rechtliche Hochschätzung des einzelnen Menschen als Individuum religiösen Quellen verdankt („Sakralität der Person“) – jedoch sozusagen mit dem Geburtsfehler, dass Angehörige bestimmter subalterner Gruppen in so gut wie allen Kulturen gar nicht erst als Individuen in den Blick kommen: „Wir müssen deshalb dem Sachverhalt ins Auge sehen, daß der menschheitsgeschichtliche Fortschritt hin zu einer rechtlichen Kodifikation moralisch-universalistischer Forderungen selbst im Akt dieser Positivierung mit neuen Formen der Einschränkung dieses Universalismus verbunden war“ (549). Hatte Schmitt – „wer Menschheit sagt, will betrügen“ – also doch recht?

Damit sind wir im Prinzip in der Gegenwart angekommen. In relativ geschlossenen Einzelkapiteln widmet sich Joas gewohnt detail- und kenntnisreich dem Faschismus (als direkter Negation jedes moralischen Universalismus), der Bürgerrechtsbewegung in den USA, dem indischen Unabhängigkeitskampf und dabei insbesondere Gandhi, Mao Zedong (und dem Maoismus als radikalster Form eines antireligiösen Universalismus) sowie dem Islam.

Das alles kann hier nicht nachgezeichnet werden, sei aber zur Lektüre wiederum ausdrücklich empfohlen. Drei Aspekte möchte ich hier herausheben: Erstens die lehrreiche Pointe, dass die „Allgemeine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ von 1948 als direkte Reaktion auf die Erfahrung des Faschismus zu verstehen ist; und dass sie keineswegs „ein westliches Oktroi“ (606) darstellt, wie Joas brillant herausarbeitet. Im Gegenteil geht der Wortlaut im Wesentlichen zurück auf den libanesischen Politiker und Intellektuellen Charles Malik (1906-1987) und den chinesischen Philosophen und Kosmopoliten Peng-chun Chang (1897-1957). Zweitens die Rolle von Mahatma Gandhi, der mit seiner Lehre der „ahimsa“ (Gewaltlosigkeit) und den damit verbundenen Formen des Widerstands sozusagen zum prototypischen Helden von Joas’ moralischem Universalismus wird – und übrigens als Vorbild und Ideengeber die amerikanische Bürgerrechtsbewegung und Martin Luther King stark beeinflusste. Und drittens die staunenswerte Perspektivierung und Rehabilitierung des Islam, der – mit Unterstützung des amerikanischen (!) Religionshistorikers Marshall Hodgson (1922-1968) – von Joas sozusagen in den weltgeschichtlichen Strom des moralischen Universalismus, nun auch „interreligiöser Universalismus“ genannt, eingemeindet wird.

Bei aller Bemühung um die Verdienste des moralischen Universalismus, etwa die Hochschätzung von Augustinus, Dante oder Martin Luther King, kann man nicht übersehen, welch beschränktes Potenzial moralische Ideale für Joas letztlich haben. Ihr geschichtlicher Aufschwung ist zeitlich und räumlich begrenzt und verdankt sich einmaligen Konstellationen sowie besonderen Individuen, die ihre schöpferische Leistung auffällig oft mit dem gewaltsamen Tod bezahlen. (Man kann daher kritisch fragen, woher die heutigen bedrängten Individuen die Inspiration und Kraft zu solch hochfliegenden und persönlich riskanten Aufschwüngen überhaupt nehmen sollen.) Zudem hat die Geschichte in Joas’ Sicht, jedenfalls in Europa, eine falsche Abzweigung, die des Säkularismus, genommen, an dessen diskursiver Korrektur er als Autor nun tatkräftig mitwirkt – stellenweise liest sich sein Text denn auch wie die Einlösung von Habermas’ Anfang der 2000er Jahre ausgerufener „postsäkularer Wende“ mit ihrem Aufruf zur Revitalisierung religiöser Sinnbestände.

Wenn man sich die aktuellen kulturkämpferischen Frontlinien anschaut, wie sie zum Beispiel in den USA verlaufen – Stichwort MAGA, Wissenschaftsfeindschaft und Deliberalisierung –, kann man große Zweifel haben, ob diese Intervention, so verdienstvoll sie ist, in die richtige Richtung weist. Die Rückkehr zu wie immer gewandelten Traditionsbeständen – ganz im Sinne von Malrauxs angeblichem Diktum: „Das 21. Jahrhundert wird religiös sein oder es wird nicht sein“ – führt nicht selten zu politischen Ideologien, die einmal erreichte zivilisatorische Fortschritte und Freiheitsrechte fröhlich und rücksichtslos missachten. Zudem wäre, selbst wenn es gelänge, sich auf Weltebene auf einen allgemein akzeptierten Satz universeller moralischer Normen zu einigen, noch die ganz praktische Frage zu klären, wie man sie – modern und ironisch gesprochen – in ‚Humankapital‘ implementiert‚ ohne die Zwangszivilisierung der Vergangenheit zu wiederholen.

Mir scheint Joas daher eher das Symptom einer Art utopischen Schließung zu sein, die das Schicksal der Menschheit ungewollt dem Voluntarismus und der Technologie in die Hände legt. Wenn es daraus offenbar kein Entrinnen gibt, bleibt nur, sich mit den Abziehbildern der Vergangenheit zu trösten – wie ohnehin Joas’ ganze Geschichte unrettbar vergangenheitsfixiert ist und die Gegenwart des 21. Jahrhunderts auch zum Ende hin kaum in den Blick bekommt. Es gibt ja auch Universalismen des Geldes, der Technologie, der Wissenschaft etc., die auch ihre Fürsprecher und Agenten haben, aber verdeckter operieren und sich um die Ideengeschichte wenig bis gar nicht scheren. Möglicherweise ist das Zeitalter der Moral – das zudem an das im Rückgang befindliche Medium der Schrift gebunden sein könnte – sogar schon zu Ende, und das Zeitalter des Bildes, der Codes und der Automatisierung hat längst begonnen.

Nassehi – Kritik der großen Geste

Armin Nassehi

Kritik der großen Geste. Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken

br., 224 Seiten, 18.-€,

München 2024 (Beck-Verlag)

von Bernd M. Malunat

„Kunst ist das Gegenteil von gut gemeint“ – dieses Bonmont des großen Spötters Gottfried Benn lässt sich auch auf das vorliegende Büchlein anwenden; denn es darf ja keine Zweifel daran aufkommen, dass der durchaus renommierte Münchner Soziologe es ernst meint. Nassehi will allerdings keinen wissenschaftlichen Text, auch kein politisches Buch vorlegen. Er verzichtet deshalb auf jeglichen wissenschaftlichen Apparat, begnügt sich mit gelegentlichem name dropping, um durch eine barrierefreie Form das Lesen und auch sein Schreiben zu erleichtern. Damit lässt sich der holprige Schreibstil aber nicht erklären, der den Eindruck erweckt, der Autor habe seinen Text einer Maschine anvertraut, doch irgendwie übersehen, ihn nach dem Ausdruck zu korrigieren. Da wäre ein engagierter Lektor hilfreich gewesen, nicht nur ein paar interessierte Freunde (8). Es handelt sich also um einen Essay (26), einen Versuch eben, der aber den Anspruch erhebt, das politische Problem zu lösen, wie multiple Krisen durch die „Kritik der großen Geste“ in den Griff zu bekommen sind (100). Dies vorauszuschicken ist nötig, weil sonst vieles dieser Schrift ganz eigener Art kaum verstehbar wäre.

Systeme, so Nassehi, seien stabiler, träger als ihre Umwelt (11), und diese Trägheit bilde einen strukturellen Schutzmechanismus (12), der sich trotz gediegenen Wissens und bester Absicht kaum ändern lasse, weil die innere Dynamik, die Selbstlimitation der Gesellschaft dem entgegenstehe (17). Die soziale Welt sei nicht aus einem Guss, könne daher auch nicht kollektiv handeln (172). Diese angenommene Absage an die kollektive Veränderbarkeit von Bedingungen gerinnt zu der Aussage, dass „nur die Mittel und Formen zur Verfügung (stehen), die auch wirklich zur Verfügung stehen“ (21). Nassehi hält dies tatsächlich für einen vielleicht wirklich revolutionären Satz (21)!, der vielleicht wirklich falsch ist. Jedenfalls erscheint ihm die Gesellschaft als zur Einsicht unfähig.

Da wir multiplen Krisen ausgesetzt seien, stelle sich „ernsthaft die Frage, ob die liberale Demokratie überhaupt dafür gerüstet ist, existentielle Herausforderungen zu bewältigen“ (63); mehr noch könne man „dann ernsthaft fragen, ob die Demokratie überhaupt für kollektive Krisenbewältigung in der Lage sein kann, und man wird die Frage ebenso verneinen müssen, wie man die Alternativen in Rechnung stellen muss“ (85), als die er „Indoktrinierung, Abschottung, Gewalt“ (85) ausmacht. Damit wendet sich der Autor aber keineswegs von der Demokratie ab, postuliert vielmehr – wenn auch in einer kontradiktorischen Wendung –, „dass die Krise der Demokratie allein durch kompetentere Politik überwunden werden kann“ (179), die durch die operative Durchsetzung konkreter Entscheidungen für nachhaltige Lösungen, die angemessene Wirkungen erzeugen, sorgen müsse (180).

Das bürgerliche Gesetz, das in den bisherigen Überlegungen begrifflich nicht vorkommt (43), erhält durch die implizierte Politiker-Schelte seine Funktion zwar zurück, wird allerdings gleich wieder einkassiert, weil man sich Problemlösungskompetenz zwar wünschen, nicht aber dekretieren könne (182). Seine grundlegende Skepsis gegenüber der Wirksamkeit des rechtsstaatlichen Gesetzes gilt selbst dann, wenn es sachlich überzeugend begründet und gut kommuniziert wird; denn „man kann kaum Empirisches verstehen, wenn man keinen ausgearbeiteten Gesellschaftsbegriff hat“ (208). Gibt es demnach also keine Verpflichtung, staatliche Gesetze zu befolgen? Anders: muss das Gesetz hinter den durchaus berechtigten Interessen einer diversen Gesellschaft zurücktreten, selbst wenn erkennbar ist, dass durch Untätigkeit Kosten entstehen werden, welche die Gesellschaft zu tragen haben wird? Ist das unvermeidbar oder schon fahrlässig? Das wirft die Frage nach der demokratischen Verfasstheit der Gesellschaft auf.

Über einen ausgearbeiteten Gesellschaftsbegriff verfügt für den Soziologen natürlich die Soziologie. Ließe sich daraus herleiten, es mit einem gewissermaßen technokratischen Parlament samt Regierung aus Soziologen zu versuchen? In seiner Darstellung ist immer nur von der Gesellschaft die Rede, einer Art amorpher Masse, die zwar vielfältigen Perzeptionen huldigt, aber die Wirkung von Menschen, Personen, Persönlichkeiten, die teils herausragende Leistungen erbracht haben, wird einfach negiert. Dabei bedarf es keiner großen Belege dafür, dass die ‚großen Gesten‘ überwiegend von Einzelnen, von den inzwischen gescholtenen ‚alten, weißen Männern‘ ( manchmal auch Frauen) vollbracht wurden. Das gilt selbstverständlich für fast alle naturwissenschaftlichen, technologischen Leistungen, aber auch für wegweisende politische Transformationen; man denke etwa an die Westpolitik Adenauers, die Ostpolitik Brandts, auch an die sog. Agenda-Politik Schröders, allesamt Entscheidungen, die meist im kleinsten Kreis getroffen wurden.

Damit stellt sich die Frage, ob die Grundannahme des Autors, auf ‚große Gesten‘ zu verzichten, um die notwendigen Transformationen gesellschaftlich bewirken zu können, nicht diametral anders beantwortet werden müsste. Denn es bedarf auch keiner weiteren Belege, dass das gegenwärtige Weltgeschehen tatsächlich von den ‚wirklich großen Gesten‘ befeuert wird; man denke an die USA, China, Russland, Indien und viele weitere Staaten. Dieser Blick in die große Welt zeigt, dass die Soziologie ihres verengten Blicks wegen gänzlich ungeeignet wäre, die ohnehin hypothetisch angestellte Überlegung einer Experten-Herrschaft mit Aussicht auf Erfolg bewältigen zu können.

Der Blick des Soziologen ist aber auch dann als verengt anzusehen, wenn es nur um die Deutschland betreffenden Transformationen geht; dafür liefert er unbeabsichtigt ausreichende Hinweise. Am augenfälligsten wird das an seiner altväterlichen Kritik der Kapitalismus-Kritik (70ff). Nassehi hat offenbar nicht erkannt, dass es nicht um dessen Überwindung geht, sondern darum, seine Verteilungswirkungen zu korrigieren. Die Ungleichverteilung ist national wie global, zusammen mit dem existenzbedrohenden Klimawandel und dem Artenschwund, das wohl drängendste zukünftige Problem, weil es das geordnete Zusammenleben zerstört. Mit extremer Deutlichkeit zeigt sich diese finanzkapitalistische Entwicklung an der Westküste der USA, wo eine Anzahl sogenannter Tech-Multimilliardäre zu den ‚allergrößten großen Gesten‘ ausholt, welche die Weltgeschichte erlebt hat, die durch die rasanten Fortschritte der Künstlichen Intelligenz (KI) sogar möglich werden könnten. Deutschland, Europa aber übt sich im Klein-Klein! An der Unterstützung der von Russland überfallenen Ukraine lässt sich das deutlich zeigen.

Der verengte Blickwinkel wird aber etwa auch daran deutlich, dass der Autor sich zwar seitenlang, und mit durchaus guten Gründen, mit der Identitätspolitik beschäftigt, den Lobbyismus jedoch völlig unbeachtet lässt. Dabei ist offenkundig, dass es sich um den ‚großen Bruder‘ – ein Sprachbild, das er gern verwendet – der Identitätspolitik handelt, weil die verschiedenen sozialen und ökonomischen Großgruppen dadurch ihre Interessen einbringen, die allerdings mit bedeutend größeren Ressourcen, nicht zuletzt finanzieller Art, ausgestattet sind. Das verdeutlicht zugleich, dass er die Wirtschaft als sozialen Akteur nicht zum relevanten Teil der Gesellschaft zählt, und ihr deshalb kaum Beachtung zuwendet.

Sein Versuch, die Potentiale für notwendige Veränderungen in konkreten Gegenwarten zu finden (212 ff.), mutet ein wenig feuilletonistisch an, weil er zwar durchaus begrüßenswerte Beispiele nennt, sich aber nicht selbst befragt, weshalb gerade sie von der doch so disparaten Gesellschaft akzeptiert werden sollten: einfach nur weil sie ‚klein‘ sind? Davon abgesehen ist anzunehmen, dass diese wirklich gut gemeinten Ansätze, die überwiegend von Start-ups hervorgebracht werden, nicht nur langsam wirken, sondern, sobald sie skalierbar sind, ganz schnell von finanzstarken Investoren aufgekauft werden, wie es in der Vergangenheit beinahe regelmäßig geschah – um dann doch wieder als ‚große Geste‘ zu enden.

Die vom Autor präferierten ‚kleinen Gesten‘ bedeuten zugleich auch eine nicht bedachte Absage an die internationale Zusammenarbeit, etwa in der EU, der NATO, letztlich sogar im System der Vereinten Nationen, auf die zu verzichten aus vielfältigen Gründen kaum vorstellbar, sicher aber nicht wünschbar ist, angesichts der weltpolitischen Neuordnung. Die rückwärtsgewandte, vielleicht nur gedankenlose Haltung, die von einer randständigen Partei vertreten wird, ist nicht in der Gegenwart angekommen, hat die ‚Zeitenwende‘, die Welt im grundlegenden Wandel noch nicht integriert. Selbst angesichts der verteidigungspolitischen Herausforderungen hätte das zur Folge, den Kopf in den Sand zu stecken.

Versucht man den beredeten Text zusammenzufassen, gelangt man zu dem ernüchternden Ergebnis, dass der Autor zwar ‚anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken‘ will, aber allenfalls in eingestreuten Nebensätzen schreibt, wer für wen was transformieren soll; wichtig ist ihm nur, dass es nicht mit ‚großer Geste‘ erfolgt. Wenn man die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre verfolgt, lässt sich statistisch deutlich belegen, dass sein Votum schon gute Erfolge erzielt hat. Deutet man die Politik der amtierenden Bundesregierung richtig, so ist auch sie in diesem ‚Herbst der Reformen‘ auf einem guten Weg. Nur die riesige Schuldenaufnahme sollte man ausblenden, auch wenn sie auf weitgehende Zustimmung in Wirtschaft und Gesellschaft trifft, die nicht so unfähig zur Einsicht scheint, wie der Autor annimmt.

Daher eine kurze Zwischenbemerkung. Man kann all die vielleicht wirklich bestehenden negativen Konnotationen extrapolieren; man kann sich aber auch bemühen, die gegebenen Einstellungen in eine nicht-lineare, positivere, gemeinschaftsverträglichere und demokratiegerechte Richtung umzulenken, um dadurch zugleich die Meinungsführerschaft der nur so genannten sozialen Medien zu beschränken. Das ist übrigens ein gelungener Euphemismus der Empörungs-Unternehmer, die durch die Manipulation ihrer Algorithmen in der Lage sind, in vermehrtem Umfang ‚neue Unübersichtlichkeiten‘ zu schaffen. Das ist als Anregung gedacht, nicht als Auftrag an eine Soziologie in pädagogischer Absicht.

Der Soziologe, der als ruheloser Wissenschaftler bloß ‚große Worte‘ in die Arena der Auseinandersetzungen werfen will, kann sich zufrieden zurücklehnen. Man muss sich also keine Sorgen machen, weder um die dringend not-wendigen Transformationen noch um die Soziologie – oder vielleicht doch? Jedenfalls handelt es sich bei Nassehis Text um eine auf- und anregende Buchstabenfolge.

Zum Schluss ein Aperçu: Ich singe Dir `ne Welt / wie sie Mir gefällt.

Schlemm – Fortschritt als Fehlschritt?

Annette Schlemm

Fortschritt als Fehlschritt?

Pb., 203 Seiten, 15.- €

Stuttgart 2025 (Schmetterling-Verlag)

von Konrad Lotter

Wer gegenwärtig von „Fortschritt“ redet, assoziiert damit oftmals eine Bewegung hin zum Schlechteren: die beängstigende Auflösung demokratischer Prinzipien zugunsten autokratischer Willkür, die zunehmende Unverbindlichkeit des (Völker)-Rechts, die wachsende Überschuldung der Staaten bei massiver Aufrüstung und Militarisierung des Lebens, die ungebremste Veränderung des Klimas etc. „Fortschritt“ wird als als Gefahr empfunden, als Niedergang und Auflösung, der man sich mit aller Kraft entgegenstellen sollte.

Ganz anders der Blickwinkel von Annette Schlemm, Physikerin und Philosophin, die noch in der DDR aufgewachsen ist und, ihrer real-sozialistischen Erziehung entsprechend, „Fortschritt“ mit Hoffnung und der Vision einer besseren Welt verbunden hat. Von dieser Erziehung hat sie sich allerdings längst emanzipiert und, wie sie schreibt, ihr „früheres Weltbild dekonstruiert“. Was bei aller Dekonstruktion dieses (staatlich vereinnahmten) Konzepts allerdings überlebt hat, ist die Faszination, die von den verschiedenen Idealvorstellungen ausgeht, auf die sich der Fortschritt zubewegen soll: die Vorstellungen einer Welt ohne Knechtschaft und Elend, ohne Krieg, Unrecht und Entfremdung. Zugleich mit diesen Hoffnungen behält Annette Schlemm aber auch die Schranken dieser Idealvorstellungen im Auge. Auf der einen Seite analysiert und vergleicht sie die Strukturelemente, die den verschiedenen Fortschrittsbegriffen zugrundeliegen, auf der anderen Seite referiert sie die Diskussionen und Kritiken, die sich an diese Begriffe angeschlossen haben. Aufgrund ihrer großen Belesenheit (die neben philosophischen Texten auch literarische Texte umfasst) und der damit verbundenen weiten Perspektive gelangt Annette Schlemm dabei zu sehr differenzierten Aussagen. Am Ende ihres Buches versucht sie sich an einer „rettenden Kritik“, die den Begriff des Fortschritts bei aller „Kontaminierung“ doch aufheben und als Orientierung für soziale und politische Ereignisse beibehalten möchte.

Grundvoraussetzung dafür, dass überhaupt von Fortschritt gesprochen werden kann, ist ein entsprechendes „Zeitregime“, das von ökonomischen und kulturellen Bedingungen abhängt. Solange Zeit als stehendes Jetzt, als Wiederkehr des Gleichen oder als ein dem Wechsel der Jahreszeiten entsprechender Kreislauf erfahren wird, kann sich keine Vorstellung von Fortschritt ausbilden. Dazu bedarf es eines Zieles, wie etwa die Wiederkehr Christi und der Beginn des Tausendjährigen Reiches, auf das sich nach christlicher Auffassung die Geschichte in linearer Bewegung zubewegt. Während der Aufklärung verbreiteten sich dagegen säkulare Zielvorstellungen: die Überwindung des Naturzustandes durch den Gesellschaftsvertrag (Hobbes), der „ewige Frieden“ (Kant), das allgemeine „Bewusstsein der Freiheit“ (Hegel), die Aufhebung des bürgerlichen Privateigentums (Marx), die Emanzipation der Frau (Göttner-Abendroth) oder der Frieden mit der Natur. Ein wesentlicher Unterschied ist dabei, ob das Ziel positiv, als Annäherung an das angestrebte Ziel, formuliert wird, oder negativ, als fortschreitende Entfernung von einem bedrückenden Zustand, so wie Marx und Engels etwa den Kommunismus als „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen [schlechten] Zustand aufhebt“ definierten.

Grundlegende Differenzen zwischen den verschiedenen Fortschrittskonzeptionen bestehen auch hinsichtlich der Frage, auf welche Weise der Fortschritt zustandekommt: als bewusster Akt handelnder Menschen (wie etwa bei der Verkündigung der Menschenrechte), als „Naturgesetz“ bzw. die Vorsehung eines weisen Schöpfers (wodurch das „ungesellige Wesen“ des Menschen die Vervollkommnung der Menschheit vorantreibt), als „List der Vernunft“ (die sich als Resultante widersprechender Handlungen und Zielsetzungen hinter dem Rücken der Menschen durchsetzt) oder als Zwang (wie beim Fortschritt der Technik, der sich aus der Konkurrenz der Kapitalisten bei Strafe des Untergangs ergibt). Einen wichtigen Autor mit seinem unter heutigen Verhältnissen skurril anmutenen Gottvertrauen hat sich Annette Schlemm bei der Diskussion dieses Themas allerdings entgehen lassen. Für Alexis de Tocequille ist der unausweichliche Fortschritt zur Demokratie durch göttlichen Willen gewährleistet, der sich der Menschen als „blinder Werkzeuge“ bedient. Zu diesen Werkzeugen gehören, wie er schreibt, nicht nur diejenigen, die sich für die Demokratie einsetzen, sondern (und ganz besonders) auch diejenigen, die sie bekämpfen. Donald Trump wäre, so gesehen, das blinde Werkzeug Gottes für den Fortschritt der Demokratie in Amerika, in der die Politiker dann nicht mehr käuflich sind und ihre Politik nach den Interessen derjenigen ausrichten, die ihren Wahlkampf durch großzügige Spenden finanzieren.

In eigenen Abschnitten behandelt Annette Schlemm die Fortschrittsbegriffe von Marx und Darwin, die bei aller Verschiedenheit das Gemeinsame haben, dass sie den Fortschritt post festum darstellen. Erst nachdem das Ziel (die kapitalistische Produktionsweise bzw. der homo sapiens) erreicht war, wird rückblickend nach den Bedingungen und den Etappen gefragt, über die dieses Ziel fortschreitend tatsächlich erreicht wurde. „In der Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen“, erst vom fortgeschrittenen Stadium einer Entwicklung können die Stadien begriffen werden, die ihm geschichtlich vorausliegen. Der zitierte Satz stammt nicht von Darwin, sondern von Marx.

Ein grundlegendes Problem des „Fortschritts“, das ausführlich zur Sprache gebracht wird, ist die Ungleichzeitigkeit, mit der sich verschiedene Bereiche der Gesellschaft entwickeln (wie etwa die Kunst, die unter zurückgebliebenen ökonomischen Verhältnissen ein Höchstmaß an Vollkommenheit erreicht hat) und, mehr noch, die gegenläufige Entwicklung verschiedener Bereiche, für die sich viele Beispiele anführen lassen. Mit dem Anwachsen des gesellschaftlichen Reichtums etwa wächst auch die Spaltung der Gesellschaft und die Verbreitung relativer Armut; die wachsende Herrschaft über die Natur geht mit der Ohnmacht gegenüber dem fortschreitenden Klimawandel einher. An diese Überlegungen schließt sich reibungslos die Kritik an den verschiedenen Konzepten des „Fortschritts“ an: wenn etwa die ungewollten „Nebenwirkungen“ die gewollten Ziele übersteigen und konterkarieren. Ausführlich referiert Annette Schlemm die Kritik am Fortschritt, die schon von Oswald Spengler oder Ludwig Klages (in reaktionärer Weise mit Richtung auf die Erhaltung des status quo), in reflektierterer Form dagegen von Walter Benjamin (der die unter der Sozialdemokratie verbreitete Annahme, man schwimme „in Strom“ des automatischen Fortschritts, anprangert) oder den Autoren der Dialektik der Aufklärung (die der Entzauberung der Welt das „triumphale Unheil“ der vollends aufgeklärten Welt entgegensetzen) vorgetragen wurde. Schon Ernst Bloch kritisierte den verbreiteten Eurozentrismus der meisten Fortschrittstheorien, als wäre die europäische Zivilisation das Maß und Ziel, auf das sich alle anderen Erdteile und Kulturen zubewegen sollten.

Am Ende ihres lesenswerten Buches widmet sich Annette Schlemm einer „rettenden Kritk“ des Fortschrittsbegriffes, die sie in einer Reihe von Thesen vorträgt. Wer sich grundsätzlich gegen Fortschritt ausspricht, meint offenbar, dass alles so bleiben soll, wie es ist. Manche, wie der Fürst von Salina, meinen allerdings auch, dass sich vieles ändern muss, damit alles beim Alten bleibt. Worauf es beim „Fortschritt“ ankommt, sind die Ziele und die darin zum Ausdruck kommenden Interessen. Ohne solche Zielvorstellungen exitiert keine Orientierung, weder für die Beurteilung von politischen oder sozialen Ereignissen, noch für das eigene Handeln. Auch wenn sich der Begriff des Fortschritts nicht mehr auf die Gesellschaft als ganzer, sondern nur noch auf Teilbereiche bezieht, ist er doch letztlich auf Emanzipation, das heißt auf die Freiheit und deren Verwirklichung gerichtet: auf die Befreiung von Not und Unwissenheit, von Knechtschaft, Krieg, Ausbeutung und Angst.

Dausner – Migration und Hospitalität

René W. Dausner (Hg)

Migration und Hospitalität. Im interdisziplinären Gespräch mit Donatella Di Cesare

br., 224 Seiten, 29,00 Euro

Baden-Baden 2025 (Nomos-Verlag)

von Bernhard Schindlbeck

Es geht hier um ein eminent wichtiges und interessantes Buch, das den Leser, der sich ernsthaft darauf einlässt, wirklich ins Nachdenken bringt. Wichtig ist es schon deshalb, weil es dankenswerterweise deutlich macht, inwiefern seit 2015 die politische, aber auch die akademische Diskussion über Migration von einem extrem verengten und bornierten Standpunkt aus, vorwiegend dem einer allfällig behaupteten „territorialen Souveränität“ einer vermeintlich „autochthonen Bevölkerung“ geführt wird. Ziel des Buches ist, wie Herausgeber René Dausner schreibt, den „innovativen Ansatz der italienischen Philosophin Donatella Di Cesare aufzugreifen und in einem ausführlicheren Kontext zur Geltung zu bringen“ (9). Die Beiträge beziehen sich in unterschiedlicher – zustimmender, kritischer, ergänzender und weiterführender – Weise auf Donatella Di Cesares Buch Philosophie der Migration (deutsch 2024), dessen aussagekräftiger Originaltitel Stranieri residenti. Una filosofia della migrazioni im Deutschen nicht hinreichend zur Geltung kommt; denn, so Dausner, die „zentrale Figur des Buches ist der ansässige Fremde“ (10). Es geht also um den Umgang mit Fremden, Fremdheit und Alterität, um Grenzen bzw. Ausgrenzung, Territorien, Wanderung, Gastfreundschaft, gemeinsames Wohnen, Recht und Rechtlosigkeit.

Nach der Einleitung des Herausgebers folgt zunächst Di Cesares eigener Beitrag Wer sind die Migranten? Versuch einer Phänomenologie, bevor in zehn Aufsätzen aus mehreren Perspektiven verschiedene Interpretationen, Einwände, Bezüge zu anderen philosophischen Ansätzen (vor allem zu Derrida und Levinas) und zu historischen Vorgängen und Entwicklungen entfaltet und diskutiert werden. Den Schluss bildet eine Replik Di Cesares auf die kritischen Anmerkungen und auf Darstellungen, in denen sie sich nicht richtig verstanden sieht.

Johann Szews (Magdeburg) nimmt im Ausgang von Carl Schmitts Demokratie-Verständnis („Zur Demokratie gehört also erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen“) das in den meisten politischen Migrationskonzepten heute vorherrschende Phantasma der Homogenität der in den staatlichen Grenzen lebenden Bevölkerung in den Blick und zeigt, inwiefern die Vorstellung der Homogenität der Bevölkerung eine von (nicht nur rechtsextremen) Politikern gern und gezielt bediente Vorstellung ist, um die „Identität eines Volkes“ zu konstruieren, „bevor soziale Unterschiede ins Spiel kommen können“ (93). Die behauptete Homogenität einer angeblichen autochthonen Bevölkerung hat selbstredend einen ideologisch-integrierenden Zweck, der zu der Exklusionsdynamik führt, die gegenwärtig zu beobachten ist. „Weil die Volksgemeinschaft auf Bestätigung gegenüber der Realität angewiesen ist, sich immer wieder neu gegen die letztendliche Unbestimmtheit der Grenzen des Volkes bestimmen muss, werden ständig ‚Gemeinschaftsfremde‘ markiert und ausgegrenzt“ (94). Dagegen formuliert Di Cesare „eine migrationsphilosophische Intervention, die jedem Phantasma der Homogenität widerspricht und stattdessen die Position irreduzibler Heterogenität und Fremdheit einnimmt. Es geht ihr um eine Umkehrung der Perspektive: Die Philosophie sollte aus der Perspektive der Migrant:innen denken, und nicht den Blick der Volksgemeinschaft oder der staatlichen Souveränität übernehmen“ (98 f.).

Eine wichtige Klarheit schaffen Andreas Hetzel und Amanda Malerba (Hildesheim) mit der Feststellung: „Di Cesare sucht nicht [wie so viele andere Publikationen, kann man als Leser gedanklich ergänzen], einfach nach Antworten auf das vermeintliche ‚Problem‘ der Migration oder auf eine vermeintliche ‚Migrationskrise‘. Dieser Begriff, der seit 2015 auch in der akademischen Philosophie verwendet wird, zeichnet die Sesshaftigkeit und das Privileg, über ein Territorium als exklusiven Besitz zu verfügen, von vornherein als Normalform aus. Dafür steht exemplarisch die von der GAP (Gesellschaft für analytische Philosophie) im Jahr 2015 ohne jede Ironie ausgeschriebene Preisfrage ‚Welche und wieviele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?‘ In dieser Frage manifestiert sich ein im Sinne Michel Foucaults ‚gouvernementales‘ oder im Sinne Jacques Rancières ‚polizeiliches‘ Verständnis des Philosophierens als Instanz einer sozialtechnischen Problemlösung bzw. einer Abarbeitung von Kollateralschäden des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses“ (48). In ihrem Beitrag Migration und Kohabitation referieren sie (ausführlicher als einige andere Autoren) Di Cesares Vergleich des Umgangs und Zusammenwohnens mit den Fremden in den antiken Städten Athen, Rom und Jerusalem. Athen war die „erdverbundene“ souveränistische Stadt der Autochthonie, die anderen die Zugehörigkeit strikt verweigerte, während Rom mit seiner Expansionspolitik und dem „Versuch, die Eroberten an das Imperium zu binden“ (52), in seinem offeneren Konzept die Bürgerschaft „ausschließlich juristisch“ definierte und von Geburt, Herkunft und Wohnort löste. Schon Aeneas war ja ein Flüchtling. „Das biblische Jerusalem“ jedoch, „das uns aus der Tora und dem Talmud bekannt ist, erlaubt uns aus Di Cesares Sicht, die Dichotomie von Staatsbürgern und Fremden vollends zu dekonstruieren. Diese Dekonstruktion wird möglich, weil sich Fremdsein und Wohnen in der ‚hebräischen Landschaft‘ nicht trennen lassen. Jerusalem ist vor allem die Stadt des [hebr.] ger, des ansässigen Fremden: Alle, die ‚hier‘ sind, sind ‚nicht von hier‘, so dass die Rede von Fremden ihren Sinn verliert.“ Die Fremdheit bilde damit, wird Di Cesare zitiert, „den Grund und das Fundament von Gemeinschaft“ (53).

Judith Kohlenberger (Wien) fragt ganz direkt: Wem gehört das Land?, um das „Spannungsverhältnis zwischen Universalität und Souveränismus“, in dem der „ansässige Fremde“ sich befindet, auszuloten. „Der universelle Anspruch von Menschenrechten stand von Beginn an den speziellen Rechten, die der Staatsbürgerin zuteilwerden, diametral gegenüber“ (153). Sie verweist auch auf das von Chantal Mouffe konstatierte „demokratische Paradox“, dass die von den politischen Prozessen Ausgeschlossenen als ansässige Fremde dennoch den von den Eingeschlossenen gemachten Gesetzen (z.B. als Steuerzahler) unterworfen sind, ohne auf diese Einfluss nehmen zu können. „Ja mehr noch, sie sehen sich dem rechtlichen Zirkelschluss gegenüber, dass das Volk bestimmt, wer auch perspektivisch zum Volk gehören darf, und zu welchen Bedingungen“ (152). Eine unfreiwillige Bestätigung für diesen territorialen Souveränismus und die Sesshaftigkeit als „Privileg, über ein Territorium als exklusiven Besitz zu verfügen“ (Hetzel/Malerba, 48), liefert etwa Julian Nida-Rümelins Buch Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration (2017), in dem der Autor genau jenen national-territorialen Besitz-Souveränismus vertritt, gegen den Di Cesare sich wendet. Die „Legitimation von Grenzen“ begründet Nida-Rümelin mit der Analogie der eigenen Wohnung, die für alle Fremden, die nicht in der Wohnung leben, eine „legitime Grenze“ darstelle, denn: „Ich kontrolliere als Wohnungseigentümer oder Mieter den Zutritt zu dieser Wohnung und mein Status als Eigentümer oder Mieter gibt mir individuelle Rechte, darunter das Recht, den Zutritt oder den Aufenthalt zu verweigern, auch im Falle, dass die [fremde] Person gute Gründe hat, sich den Zutritt oder den Aufenthalt zu wünschen“. Nida-Rümelin entgeht hier völlig, dass er juridisch vom schon gesetzten Recht aus und völlig zirkulär argumentiert: Ich habe das Recht, weil ich das Recht habe. Der Fremde hat nur einen „Wunsch“, aber eben kein Recht. Nida-Rümelin dehnt ganz einfach die politische Ideologie des Besitzindividualismus auf einen vermeintlichen nationalstaatlichen „Besitz“ aus, um die inhumane Politik der Zurückweisung von Schutzsuchenden zu rechtfertigen. Mit Ethik hat das zwar nichts zu tun, aber genau so funktionieren die propagandistisch-ideologischen Mechanismen des gegenwärtigen Migrationsdiskurses, der dann die Floskel von der „illegalen Migration“ erfolgreich verbreitet.

Das in Di Cesares Phänomenologie so wichtige „Zusammenwohnen“, das Margit Eckolt (Osnabrück) ins Zentrum ihres Beitrags stellt, würden Nida-Rümelin und die politische Kaste, die er so gerne berät, gar nicht verstehen. „Gerade den Fremden – und hier knüpft Di Cesare an Emmanuel Levinas und Jacques Derrida an – kommt im Blick auf die Frage nach dem Wohnen besondere Bedeutung zu“ (165). Denn der Fremde „erschüttert“ das Wohnen, er „entäußert und entwurzelt“, er „entkoppelt“ von Eigentum, Zugehörigkeit und vom Haben, „und steht für eine Gestalt von Existenz, die mit einem ‚transitorischen Aufenthalt‘ verbunden ist, und so wird diese Gestalt zur ontologischen Grundfigur einer Philosophie der Migration“ (165). Zustimmend zu einem ius migrandi als Menschenrecht zitiert Eckholt ausführlich: „Der Horizont einer Gemeinschaft, der sich von der Nation, der Geburt und der Abstammung losgesagt hat und sich der im Namen des Blutes begangenen Verbrechen sowie der im Namen des Bodens geführten Kriege erinnert, die sich des Exils bewusst ist, die offen ist für Gastfreundlichkeit, die sich in die Lage versetzt, politischen Formen stattzugebnen, in denen das Immune dem Kommunen und Gemeinsamen den Vortritt lässt“ (163). Ekholt betont Di Cesares Anliegen, „die Gastfreundschaft auf [der] Ebene des Rechts zu verankern, und zwar nicht nur wie bei Immanuel Kant als ein ‚Besuchsrecht‘, sondern als ein ‚Wohnrecht‘“ (167).

Annabel Herzog (Jerusalem) kontrastiert Di Cesares Ansatz mit der von dem jüdischen Talmudisten und Religionsphilosophen Daniel Boyarin vorgeschlagenen „No-State Solution“ für Palästina; er hält als orthodoxer Jude die Diaspora für die eigentliche (oder soll man sagen „richtige“) Heimat der Juden, die somit keinen Staat im traditionellen Sinn brauchen. „Für Boyarin hat das Judentum nichts mit der Staatsbürgerschaft zu tun, und daher kann ein Jude Bürger eines jeden Landes sein. Gleichzeitig kann ein Jude nur im Talmud (einer Synekdoche für die jüdische Kultur) national zu Hause sein, der als ‚reisende Heimat‘ dient“ (81). Kritisch vermerkt Herzog die „Tatsache, dass weder Di Cesare noch Boyarin in ihren Büchern politische Leitlinien anbieten“ und „keine konkreten politischen Pläne oder Institutionen vorschlagen“ (85). Denn „das grundlegende Problem der staatszentrierten Souveränität“ und der „Starrheit der Grenzen“ bleibe ungelöst (87). Zur „Sicherung des Wohlergehens der Migrant:innen“ seien Strukturen erforderlich. Wie kann, fragt sie, „unterdrückten Menschen geholfen werden, wenn es keine Strukturen zur Bekämpfung von Herrschaft und Unterdrückung gibt? Zweifellos erhalten die Unterdrückten der Welt derzeit keine angemessene Hilfe, aber würden sie ohne demokratische Souveränität überhaupt Hilfe erhalten?“ (ebd.)

Jürgen Manemann (Hannover) rückt den ethischen Anarchismus Di Cesares in den Vordergrund. Seiner Feststellung: „Migrant:innen besitzen ein Wissen davon, dass die Ordnungen des Zusammenlebens in gewisser Weise einen künstlichen Charakter haben, mithin auch ganz anders aussehen könnten“ (62), liegt eine bedeutende (wenn auch weitgehend ignorierte) politische Einsicht hinsichtlich der Kontingenz des jeweils Bestehenden zugrunde. Di Cesares ethischer Anarchismus beinhaltet mit seinem „Potenzial von produktiven Destabilisierungen“ in seiner Konsequenz, „auch Praktiken einer ‚anarchischen Revolte‘ aufzuspüren, durch die die staatszentrierte Ordnung auf Neues hin aufgebrochen wird“ (65). Als Fazit mündet dieser Beitrag in einer Aufgabe für die Philosophie: „Di Cesare gelingt es, die Notwendigkeit eines ethischen Anarchismus dadurch auszuweisen, dass sie sich den einhegenden Mechanismen exophober Solutionismen entzieht und so das Potenzial von Philosophie als Problemlösungsverweigerungspraxis freilegt. Ein solcher Anti-Solitionismus, der gegen eine Nekropolitik in Stellung gebracht wird, dispensiert die Philosophie allerdings nicht davon, Menschen zu helfen, eine Haltung auszubilden, die eine Praxis lebbar macht, die dem Anspruch eines ethischen Anarchismus entspringt – eine Leerstelle in der ‚Philosophie der Migration‘. Eine Philosophie der Migration hätte deshalb die Aufgabe, auch die lebenspraktische Dimension von Philosophie herauszuarbeiten, um Menschen darin zu empowern, Fähigkeiten zu erwerben, um sich aktiv in das Zusammenleben einzubringen“ (65).

Eine interessante und wohl die radikalste Kritik an die Di Cesare trägt Carsten Lotz (Mannheim) bei. Unter dem Titel Die gescheiterte Migration nimmt er einen Satz aus Di Cesares Nachwort zur deutschen Ausgabe zu seinem Ausgangpunkt: „Als letzte Version des zeitgenössischen Elends, die sogar über die wirtschaftliche Erniedrigung hinausgeht, stellt der Migrant in seiner unrechtmäßigen Nacktheit das Gespenst des Gastes dar, den seiner Sakralität und seines epischen Anderswo entkleideten Fremden.“ In fünf kurzen Abschnitten unterzieht er die Begriffe „Letzte Version des zeitgenössischen Elendes“, „Unrechtmäßige Nacktheit“, „Das Gespenst des Gastes“, „Sakralität und episches Anderswo“ und „Der entkleidete Fremde“ einer so radikalen wie minutiösen Kritik, um zu zeigen, inwiefern Di Cesare „die Begrifflichkeiten einer Philosophie der Sesshaftigkeit und der Identität“ letztlich doch nicht los wird (103). „Ein ius migrandi,“ so Lotz, „kann es nicht als solches geben, weil sich ein Recht auf ein Mitglied einer Gesellschaft bezieht und der Migrant an der Grenze jener Gesellschaft steht“ (108). Er beharrt also darauf, dass die von Kant im „Dritten Definitivartikel zum ewigen Frieden“ formulierte Hospitalität „kein Recht sui generis“ sei, nur ein Besuchsrecht und kein Bleiberecht. „Der Gast kann auch wieder weggeschickt werden, denn das Recht der Hospitalität ist beides: ein Recht des Gastes und ein Recht des Wirtes, eine Pflicht des Gastes und eine Pflicht des Wirtes“ (109). Auch die allgemeine Hospitalität brauche „einen Gastgeber, der sich in seiner Verantwortung für den Gast als solcher erweist. Wenn wir alle nur noch migrieren, gibt es weder Gäste noch Gastgeber. Wenn es nur noch andere gibt und keine Hierarchie mehr, gibt es keine Gerechtigkeit mehr“ (114). Di Cesares „radikaler Pluralismus“ lasse „das Fremde nicht mehr erkennbar werden“ (ebd.). Er fragt, ob aus dem von ihr propagierten ius migrandi nicht „ein ius considendi“ werde, ein „Recht, sich niederzulassen, ein Recht zu siedeln, wie es von den Philosophen der Kolonialzeit auch geprägt wurde“ (111). Zweifelhaft an dieser Kritik ist, weshalb Hierarchie eine Bedingung für Gerechtigkeit sein sollte; ebenso die gedankliche Verbindung von Migration und Besiedlung, wie man sie aus dem Kolonialismus kennt, die durch die assoziativen Vorstellungen von Siedeln, Niederlassung und Landnahme zustande kommt. Genau gegen diese falsche Gleichsetzung von Migranten und Siedlern erhebt Di Cesare in ihrer Replik am Ende des Buches Einspruch, denn die Gleichsetzung fällt zurück in die falsche dichotomische Fixierung auf die Autochthonen und die Fremden.

In seinem Beitrag Ende oder Endlichkeit der Gastfreundschaft kritisiert Stefan Gaßmann (Münster) Di Cesares Lévinas-Interpretation, in der er den „Vorwurf an Lévinas“ entdeckt, „dass dessen Denken dazu führe, Gastfreundschaft als ‚außerpolitische, ethische Instanz‘ zu verstehen“. In einer subjektphilosophischen Wendung denke Lévinas (laut Di Cesare) lediglich die ‚Geste des Empfangs‘, ohne aber eine ‚Philosophie der Aufnahme‘ zu entwickeln, die „der konkreten Aufnahme des Anderen Rechnung“ tragen würde. „Die Antwort auf die Infragestellung durch den Anderen bliebe damit in Lévinas‘ Philosophie gleichsam aus, weil die ethische Verantwortung für den unendlichen, unbedingten Anspruch des Anderen, in der endlichen Politik nicht rein gewahrt bleiben könne und Gastfreundschaft als reale Aufnahme daher nicht rechtlich institutionalisierbar sei“ (118). Sie verbleibe also auf einer ethischen Ebene und damit in einer „außerpolitischen Sphäre“. Gaßmann wirft Di Cesare vor, dass „die Konturen dessen, was sie mit Politik im allgemeinen und einem politischen Begriff von Gastfreundschaft im Speziellen meint, reichlich farblos und unspezifisch“ bleiben; denn „abgesehen von einer emphatischen Einforderung der Aufnahme und einer das Zusammenwohnen mit Fremden ermöglichenden Politik, gibt PM (i.e. Philosophie der Migration) wenig Orientierung, welche kritischen Maßstäbe für die konkrete Umsetzung der Aufnahme die Philosophie bereitstellen könnte“ (ebd.). Im Folgenden referiert der Beitrag zentrale Stellen aus Lévinas‘ Hauptwerken Totalität und Unendlichkeit und Jenseits des Seins, um Di Cesares Interpretation zu widerlegen. In ihrer Replik antwortet sie: „Meine Kritik des Souveränismus wäre undenkbar ohne die Reflexion von Lévinas auf das souveräne Ego, das den Anderen eliminiert – bis hin zu Auschwitz. Ich habe nie behauptet, dass das Denken von Lévinas oder das von Derrida unpolitisch wäre“ (207). In seinem letzten Abschnitt aber verfällt Gaßmann selbst dann doch in den sattsam bekannten Politiker-Sound, wenn er etwa die Forderungen nach Integration („keine Abwertung von Andersheit“), Institutionen, Grenzen und Schranken sowie Rechte und Pflichten verteidigt.

Naika Foroutan (Berlin) erörtert die Ambivalenz der Hospitalität in postmigrantischen Gesellschaften und fragt: „Wem gebührt die Gastfreundschaft und wer hat das Recht, sie zu gewähren?“ Ihr Ausgangspunkt sind vor allem Ergebnisse empirischer Forschung. „Die postmigrantische Gesellschaft ist von zurückliegender und aktueller Zuwanderung eines Teils der Bevölkerung geprägt und Migration ist politisch als konstitutiver Bestandteil der Gesellschaftsordnung anerkannt – auch wenn die Einstellungen eines relevanten Teils der Bevölkerung dazu negativ sein mögen“ (131). Im Ausgang von dieser Definition wird die konkrete Spaltung der Gesellschaft „in jene, die mit Pluralität, Hybridität und Ambivalenzen umgehen können, und jene, die sich dadurch verunsichert fühlen oder diese radikal ablehnen“, beschrieben. Auch Migranten der zweiten oder dritten Generation, die sich selber inzwischen zur „ursprünglichen“ Bevölkerung zählen, können ihre vermeinten „Privilegien“ durch Neuankömmlinge bedroht sehen. Mit einer solchen „zunehmenden demographischen und generationalen Heterogenität pluralisieren und hybridisieren“ sich Herkünfte, was „postmigrantische Aushandlungen“ (132), damit aber auch das Versprechen der Gleichheit erschwert, da immer mehr Gruppen das Recht der Gleichheit beanspruchen. „Migration ist dabei zu einer Chiffre geworden, in der die Abwehrphantasien kulminieren“ (139). Wenn die Nachfahren von Migranten selber den Anspruch erheben, „zu entscheiden, wer willkommen ist und wer nicht“, dann wird „die Idee der Hospitalität zunehmend unschärfer“ (148). Foroutans Fazit, dass die Migranten damit „auf eine zukünftige Art des Zusammenwohnens“ zeigen, die (Di Cesares Denken entsprechend) „nicht im Bann der Verwurzelung verbleibt, sondern in der Öffnung einer vom Besitz des Territoriums befreiten Bürgerschaft und einer Gastfreundschaft existiert“ (148), scheint eher ein Wunschdenken als in empirischer Analyse fundiert zu sein.

Regina Polack (Wien) überlegt, in welcher Weise Di Cesares Philosophie mögliche Anschlüsse für die praktische Theologie, d.h. für ihre Arbeit als Pastoraltheologin bereithält. Das vielfältige konkrete historische Versagen des Christentums im Umgang mit Fremden, z.B. eroberten Völkern, nennt sie „Schmerzpunkte für die deutschsprachige Theologie“, die es zu erkennen gilt und zu einer Umkehr nötigen. Einigermaßen seltsam mutet ihre Frage an: „Haben wir das gemeinsame Wohnen auf der Erde verlernt, das Di Cesare so eindringlich beschreibt …?“ Denn die Rückfrage würde lauten: Haben wir (wer immer das ist) es denn jemals gekonnt? In der alltäglichen Arbeit in der christlichen Gemeinde jedenfalls muss die Theologin auch bei nur kleinen Schritten in Richtung der Anerkennung von Migranten-Rechten „auf die Perspektive der Sesshaften Rücksicht nehmen“ (194), um überhaupt Gehör zu finden. „Politisch sind Di Cesares Forderungen derzeit in Europa schlicht und ergreifend nicht realisierbar“ (195).

Isabella Bruckner (Rom) sucht zu Di Cesares Migrationsphilosophie biblisch-christliche Ressourcen europäischer Gastlichkeit, sind doch die Erzählungen im Alten und Neuen Testament voll mit den Themen der Fremdheit, der (Nicht-)Zugehörigkeit, der Wanderung und der Gastlichkeit, und in all ihrer Fülle hilfreiche und notwendige Interpretamente, die implizit deutlich machen, was einer analytisch-philosophischen Auseinandersetzung mit dem Thema und ihrem letztendlich immer utilitaristischen Bezug für ein echtes Verständnis mit der Problematik fehlt. Neben den vielen etymologischen Verweisen werden natürlich die (bekannten oder weniger bekannten) relevanten Textstellen genannt, „Erzählungen des Fluchs, wo die Gastfreundschaft den Fremden verweigert oder sie sogar gewaltsam missbraucht wird“ (178), das christliche Gleichnis vom barmherzigen Samariter, oder der Spruch Gottes als Weltenrichter am Ende der Zeit, der in Matthäus 25,34 die Aufnahme des Fremden als das entscheidende Kriterium für die Trennung der Erlösten von den Verfluchten benennt, was Bruckner aber nicht wörtlich zitiert. („Geht weg von mir ihr Verfluchten, … denn ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen.“) Leser, denen alles Theologische suspekt ist, können diese eschatologische Trennung als Metapher für die Unterscheidung von gelingendem und misslingendem Leben im Diesseits interpretieren. Am wichtigsten in dieser theologisch-phänomenologischen Herangehensweise ist aber wohl, „dass Gott selbst der Fremde/Gast ist“ (177). Zum Beispiel in der Erzählung von Abraham und den drei Fremden. Auch auf die Bedeutung der Gastlichkeit in der von Benedikt von Nursia und seinen Regeln begründeten Gemeinschaft der klösterlichen Lebensform geht Bruckner ausführlich ein.

Der nicht zu übersehende Unterschied zwischen Di Cesares phänomenologischer Philosophie und der analytischen Philosophie (den, wie erwähnt, auch Hetzel und Malerba hervorheben) wird von Di Cesare selbst ausdrücklich thematisiert, nämlich in ihrer entrüsteten Replik auf einen Gedanken Judith Kohlenbergers, die gegen Ende ihres Aufsatzes schreibt: „Di Cesares Konzept des ‚Zusammenwohnens‘ erinnert in seiner gleichzeitigen Schlichtheit wie Radikalität an das Gedankenexperiment des Schweizer Philosophen Andreas Cassee, das wiederum auf den ‚Schleier des Nichtwissens‘ von John Rawls zurückgeht.“ Cassee fragt in seinem Essay Globale Bewegungsfreiheit (2016) so ähnlich wie Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit: „Auf welche Grundsätze für den Umgang mit internationaler Migration würden wir uns einigen, wenn wir nicht wüssten, welche Staatsangehörigkeit wir besitzen, welcher sozialen Schicht wir angehören und welche Vorstellung von einem gelingenden Leben wir verfolgen?“ (159) Wenn man so einen hypothetischen Moment vor der eigenen Geburt imaginiert, kann man eine Antwort geben auf die Fragen, „welche Einwanderungsgesetze, welche Grenzkontrollen (und deren Durchsetzung), welche Form der humanitären Aufnahme (und Höhe der Kontingente), welches internationalisierte Passsystem würden wir uns wünschen?“ (ebd.) Das sog. „Gedankenexperiment“ läuft also schlicht darauf hinaus, sich in einen an einer europäischen Grenze zurückgewiesenen afrikanischen Flüchtling, der gerade dem Ertrinken im Mittelmeer zufällig entronnen ist, hineinzuversetzen. Aber genau diese Empathie wird ja von den europäischen Politikern (und den meisten Bürgern) bekanntlich massiv abgelehnt. Di Cesares Einwand lautet: „Schon aufgrund meines philosophischen Hintergrunds habe ich mich nie des Instrumentariums eines Gedankenexperiments bedient, ein Verfahren, das bekanntlich im Denken analytischer Prägung verbreitet ist und das ich wegen seiner heillosen ethischen Konsequenzen heftig kritisiert habe – sowohl in Philosophie der Migration (gerade mit Bezug auf Rawls) als auch beispielsweise in Folter (2023). Jenseits dieser methodischen Notiz fällt bei diesem Urteil jedoch das grundsätzliche Missverständnis gerade bezüglich eines so heiklen und komplexen Themas in die Augen“ (216). Was die analytischen Moralphilosophen, die sich so gerne auf „unsere Intuitionen“ (z.B. Harry G. Frankfurt: „our moral intuitions“) verlassen, nicht begreifen wollen, ist, dass diese Intuitionen (wie Nida Rümelins Buch Über Grenzen denken unfreiwillig bestätigt) immer schon von den bestehenden (herrschenden) Verhältnissen und jahrhundertealten egoistischen Praktiken geprägt sind, deren Legitimität erst aufzuweisen die Aufgabe der Moralphilosophie wäre; kurzum: dass sie einem von ihnen nicht erkannten Zirkelschluss das Wort reden. (Unsere Intuition: Dass nur ich bestimme, wer außer mir in meiner Wohnung oder meinem Haus wohnen darf, ist doch selbstverständlich. Analog bestimmen wir, wer in unser Land kommen darf. Olaf Scholz: „Wir dürfen uns aussuchen, wer zu uns kommen darf und wer nicht.“) Nicht zuletzt in dieser scharfen Abgrenzung von einem sowohl in philosophischer als auch ethischer Hinsicht desaströsen Denken wird mit dem Buch das von Dausner in der Einleitung gesetzte Ziel erreicht, Di Cesares innovative Philosophie der Migration in einem umfassenderen Kontext darzustellen. Und es wird deutlich, wie notwendig in einer sich immer stärker abschottenden „Festung Europa“ die Auseinandersetzung mit ihr ist.

Osrečki – Laien. Eine Soziologie des Nichtwissens

Fran Osrečki

Laien. Eine Soziologie des Nichtwissens

br., 336 Seiten, 24,- €

Berlin 2025 (Suhrkamp-Verlag)

von Alexander von Pechmann

Die Moderne, beginnt Osrečki seine Untersuchung, gründe auf dem Versprechen der Gleichheit aller Menschen und lebe seither in den Kämpfen um diese Gleichheit. In ihr sind das ideelle Element der Inklusion aller ins gesellschaftliche System, zugleich aber auch das permanent reale Element der Ungleichheit und Exklusion miteinander verbunden. Dieses Gegensätzliche, teils Widersprüchliche ist schon oft anhand der „bürgerlichen Gesellschaft“ verhandelt worden: als citoyen gelten die Bürger als Gleiche unter Gleichen und haben gleiche Rechte; als bourgeois hingegen sind sie ungleich und grenzen einander ab: der Bürger vom Proletarier, der Besitzlose vom Besitzlosen etc. Osrečki verhandelt dieses Gegensätzliche in der Moderne jedoch nicht anhand der sozialen Gruppen oder Klassen, sondern anhand der Kategorien des Laien und des Experten, des Nichtwissenden und Unkundigen bzw. des Wissenden und Kundigen.

Entscheidend bei dieser Unterteilung sei, dass – im Unterschied zu sozialen Gruppen – in der modernen, auf Arbeitsteilung beruhenden Gesellschaft jede/r sowohl als Laie als auch als Experte gilt. So erweist sich etwa der qualifizierte Jurist als unkundiger Laie auf dem Gebiet der Sanitärinstallation oder der kenntnisreiche Postzusteller bei der Autoreparatur als kenntnisarmer Laie. In modernen Gesellschaften, so Osrečki, sind Menschen „sehr oft Laien und sehr selten Spezialisten“ (16). Laien bilden also keine bestimmte und abgrenzbare Gruppe, sondern entziehen sich gerade dieser Begrenz- und Bestimmbarkeit. Sie seien daher „überall und nirgends“ (16).

Spannend wird dieses Verhältnis von Laien und Experten dann, wenn die Laien – nach dem modernen Grundsatz der Gleichheit – meinen, in Expertensachen mitreden zu dürfen und zu können, oder umgekehrt – nach demselben Grundsatz – Experten meinen, dem unkundigen Laien ihr Expertenwissen mitteilen zu müssen und zu können. Denn dann verwischen sich die Grenzen; und die Grenzüberschreitungen liefen in der Konsequenz auf die Aufhebung eines Verhältnisses hinaus, das doch ein Element moderner arbeitsteiliger und funktional ausdifferenzierter Gesellschaften ist. Man sieht, dass ‚der Laie’ offenbar ein spannender soziologischer Gegenstand ist, um die Dynamik der modernen „bürgerlichen Gesellschaft“ verstehen und begrifflich fassen zu können.

Wo also findet man den Laien? Osrečki sagt mit Niklas Luhmann: in sozialen Systemen. Im politischen System fungiert der Laie als Wähler, der – zumindest im Parlamentarismus – dem Abgeordneten ausdrücklich seine Stimme überträgt; im ökonomischen fungiert er als Konsument, der die Produkte der Experten erwirbt und ohne Detailwissen gebraucht; im pädagogischen System ist er Schüler, der vom Lehrer Wissen erwirbt, im Gesundheitswesen nimmt er die Rolle des unkundigen Patienten ein, der sich dem kundigen Arzt anvertraut; im Kultur- und Sportbetrieb fungiert er als Zuschauer oder -hörer, der die Handlungen professioneller Akteure verfolgt. Allein im familiären System sowie unter Freunden, so Osrečki, funktioniert diese Begrifflichkeit nicht; denn weder die Liebe noch die Freundschaft lassen sich nach dem „Laie-Experte“-Schema verstehen.

Im Weiteren unterscheidet Osrečki zwischen dem „schwachen“ und dem „starken“ Laien. Laien sind oder gelten als schwach, wenn sie sich nicht artikulieren und als „wenig durchsetzungsstark“ (54) erscheinen. Als „schwach“ seien die Laien von den Sozialwissenschaften daher lange Zeit als marginal, unspezifisch und uninteressant beurteilt worden, oder sie wurden, vor allem in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, ihrer Artikulationslosigkeit wegen als dumpfe, unter Umständen auch als zivilisationsbedrohende Masse etikettiert.

In der Mitte des letzten Jahrhunderts seien dann von Talcott Parsons die Grundlagen für das gelegt worden, was Osrečki die „starken Laien“ nennt. Parsons ging davon aus, dass es ohne Laien gar keine Experten geben könne, und dass zwischen ihnen eine spezifische Art der Kooperation bestehe, die er allerdings nicht näher analysiert hatte. An diesen Gedanken der Kooperation knüpften im Weiteren dann die Soziologen Thomas H. Marshall, Theodor Geiger und Norbert Elias an. Sie nahmen an, dass es zwar weiterhin Machtunterschiede zwischen Laien und Experten gebe, dass sich jedoch – im Zuge der „Demokratisierung“ – diese Ungleichheiten zunehmend einebnen würden. Schließlich habe Luhmann mit seiner Systemtheorie die Vorlage gegeben, um die spezifische und auch notwendige Rolle der Laien oder des „Publikums“ innerhalb sozialer Systeme studieren zu können. Darauf aufbauend habe dann Rudolf Stichweh den starken oder aktiven Laien ins Zentrum gerückt und auf die wichtige Rolle hingewiesen, die Laien in modernen Gesellschaften für die sozialen Inklusionsprozesse spielen.

Verstehe ich Osrečkis Überblick über die „schwachen“ und „starken“ Laien recht, so ist er offenbar der Auffassung, dass die Sozialwissenschaften lange Zeit, von Karl Marx über Émile Durkheim bis Max Weber, mit dem abstrakten und vagen Begriff des „Laien“ nichts anzufangen wussten. Gegenstände waren für sie bestimmbare soziale Gruppen wie die Arbeiter, die Frauen, der Mittelstand etc. Fassbar und sichtbar sind Laien erst mit den „sozialen Bewegungen“ seit Ende der 60er Jahre geworden, als die Experten als „Technokraten“ auf den verschiedensten gesellschaftlichen Feldern durch Laien mit ganz unterschiedlichen Motiven herausgefordert wurden. Seither konzentrierte sich die Sozialwissenschaft nicht nur auf die Untersuchung dieser „starken Laien“, sondern sympathisierte und unterstützte oft auch deren „bürgerschaftliches Engagement“ (171) gegen das Expertenwissen, von dem sie sich eine Demokratisierung und einen Abbau von Herrschaft erwartete. Bei dieser idealisierenden Konzentration auf die engagierten und meinungsstarken Laien ließ sie jedoch, so Osrečkis Kritik, die ‚schweigende Mehrheit’ der indifferenten Laien weitgehend außer Acht.

Den entscheidenden und neuen Gesichtspunkt seiner Untersuchung sehe ich nun darin, dass er nicht mehr jenen „starken Laien“, den engagierten Bürger:innen, eine gestaltende und verändernde Handlungsmacht zuspricht und zutraut, die sich weitgehend verflüchtigt habe, sondern dass er umgekehrt gerade der „Unwissenheit“, die den Laien gegenüber dem Experten auszeichnet, eine eigentümliche Macht im Rahmen der Reproduktion der gegenwärtigen sozialen Systeme zuweist. Um diese neue „Macht der Unwissenheit“ zu erläutern, geht er davon aus, dass vormals das soziale System „versäult“ gewesen sei. Es gab unterschiedliche „Milieus“ oder „Säulen“, welche die Beziehungen zwischen Laien und Experten überwölbten und prägten. So gab man etwa als Arbeiter mehr oder weniger selbstverständlich Experten die Stimme, die die Anliegen der Arbeiter politisch vertraten; man kaufte in den Konsumgenossenschaften ein oder nahm an Arbeiterbildungsvereinen und deren Kulturangeboten teil. Ähnliches galt für die „Säulen“ des Katholizismus, des liberalen bzw. rot-grünen Bürgertums.

Doch diese „Versäulung“ der Gesellschaft sieht Osrečki schwinden; und damit ändern sich auch die Beziehungen zwischen Laien und Experten. Denn mit dem Schwinden der Milieus werde das Verhalten der Laien „überdeterminiert“, es wird diffuser, zufälliger und unberechenbarer. Diese Unbestimmtheit des Laienverhaltens bedeute für die Profis jedoch ihrerseits eine zunehmende Unwissenheit vom Laien. So wissen die Parteien nicht nur immer weniger über ihre ‚Wechselwähler’, sie müssen ihnen in ihrer Programmatik auch hinterherlaufen; gleichfalls können Wirtschaft und Handel das Konsumverhalten ihrer Käufer immer weniger vorhersehen, so dass ihre Investitionen riskanter werden; Lehrer sehen sich durch das unberechenbare Verhalten ihrer Schüler zunehmend überfordert, usw. Diese „Macht der Unwissenheit“ erkennt Osrečki auf Seiten der Laien darin, dass ihre jeweilige soziale Rolle für sie selbst ungewisser und unvorhersehbarer wird – er spricht vom „Nichtwissen um die genaue Präferenzordnung“ (242) –, und dass sie gerade durch dieses Nichtwissen ihre Macht auf die ratloser werdenden Experten ausüben.

Nun ist diese Auflösung der ‚alten Ordnung’ oder der ‚Entsäulung’ seit Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ und dann erneut durch Andreas Reckwitz’ „Gesellschaft der Singularitäten“ von den Sozialwissenschaften oft beschrieben worden. Verstehe ich Osrečki richtig, dann bedeutet für ihn diese Auflösung jedoch zugleich einen Zuwachs an Freiheit. Auf der Seite der Experten finde eine Autonomisierung der Systeme statt, die programmatisch nicht mehr an die diffuser gewordenen Bedürfnisse und Interessen ihrer ‚Kunden’ gebunden sind und daher in ihrer Programmgestaltung unabhängiger, aber auch unbestimmter geworden sind. Auf der Seite der Laien hingegen ist mit der Entsäulung der Gesellschaft die Freiheit zur eigenen Meinung im Rahmen der Öffentlichkeit, zur Wahl verschiedener Parteien oder zur Entscheidung der Konsumenten beim Einkauf gewachsen, die doch alle tief im Versprechen moderner Gesellschaften verankert seien.

Offen bei Osrečkis „Lob der Inkonsequenz … und des Nichtwissens“ (293) in seiner Beschreibung einer solch ‚offenen Gesellschaft’ scheint mir allerdings zu sein, ob sich dieses „Nichtwissen“, das er konstatiert, sowohl auf Seiten der Laien als auch der Experten tatsächlich optimistisch als ein Zugewinn an Freiheit interpretieren lässt, oder ob es sich, eher pessimistisch, nicht doch in einer zunehmenden Unberechenbarkeit und Irrationalität des gesellschaftlichen Gesamtsystems ausdrückt, die – wovor andere Soziologen warnen und die Zeichen sich mehren – durchaus in ein äußerst dumpfes, diffuses wie homogenes, Wollen umschlagen kann. Das wäre jedoch der Gegensatz zu einer ausdifferenzierten und rationalen modernen Gesellschaft.

Angebauer/Wesche – Theorien des Eigentums

Niklas Angebauer/Tilo Wesche

Theorien des Eigentums. Zur Einführung

br., 304 Seiten, 17,90 €

Hamburg 2024 (Junius-Verlag)

von Alexander von Pechmann

Nach Jahrzehnten des Stillschweigens ist seit einiger Zeit in den Sozialwissenschaften, aber auch in der Ethik die Debatte um das Eigentum intensiver geworden. Die Wohnungsnot in den Städten, die zunehmende Ungleichverteilung des globalen Reichtums sowie die vielfältigen ökologischen Krisen werden vermehrt in einen Zusammenhang mit der Eigentumsfrage und der damit verbundenen Verfügungsmacht über den gesellschaftlichen Reichtum gestellt.

Ausdruck dieses wiedererweckten Interesses ist die Einführung in die „Theorien des Eigentums“ der Oldenburger Philosophen Niklas Angebauer und Tilo Wesche, die auch an dem universitätsübergreifenden DFG-Forschungsprojekt über den „Strukturwandel des Eigentums“ beteiligt sind. Sie haben ihr Buch in insgesamt sechs „Positionen“ gegliedert, die die historisch wie systematisch wesentlichen Theorien über das Eigentum abdecken. Sie reichen – innerhalb der europäischen Denktradition – von Aristoteles bis zu John Rawls; und die einzelnen Kapitel sind nach den Prinzipien geordnet, die das Eigentum als Rechtsinstitut in der jeweiligen Theorie begründen.

Unter der Idee der „Gemeinschaft und des Gemeinwohls“ fassen die Autoren im ersten Kapitel die Eigentumstheorien des Aristoteles, der christlichen – m.E. eher katholischen – Soziallehre sowie des Kommunitarismus zusammen. Und in der Tat diskutieren diese Theorien – trotz unterschiedlicher Begründungen – die Fragen nach der Rolle und der Funktion des Eigentums in einem umfassenderen gesellschaftlichen Kontext, in dessen Rahmen die je private Verfügung über die Dinge und Güter eingeordnet und -gebettet sein soll. Für Aristoteles war dieser Rahmen die Polis, für das Christentum die religiöse und für den Kommunitarismus die säkulare Gemeinschaft. Was mir allerdings bei dieser Vor- und Darstellungsweise als unterbelichtet erscheint, ist, dass Aristoteles – gegenüber Platon – große Schwierigkeiten hatte, das individuelle Recht auf private Verfügung über die Dinge, damals vor allem über den Boden, mit der Verantwortung und der Verpflichtung des Bürgers gegenüber der Polis zu vermitteln. Aristoteles weiß zwar, dass das Eigeninteresse der (sklavenhaltenden) Grundbesitzer dem Gemeinwohlinteresse der Polis durchaus entgegensteht. Aber er hoffte angesichts dessen – letztlich vergeblich – auf die Erziehung jenes griechischen ‚maßvollen Tugendbürgers’, der beides, sein privates und das öffentliche Wohl, in seiner Seele zu verbinden vermag.

Auch die Darstellung der „christlichen Soziallehre“ erscheint mir allzu glatt. Nicht erwähnt wird die ‚Feindschaft’ des Christentums gegen das „Habenwollen“ als Reich des Bösen über nahezu ein Jahrtausend („eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr als ein Reicher ins Himmelreich“), die im kirchlichen „Armutsstreit“ mündete und erst durch Thomas von Aquins Rezeption des ‚Heiden’ Aristoteles ermäßigt wurde. Thomas sah das private Eigentum, nach dem „Sündenfall“, unter gewissen Umständen und unter Beachtung ethischer Regeln als gerechtfertigt an. Und noch bis heute schwelt in der katholischen Soziallehre der Streit um die Legitimität des Privateigentums, wie er nicht zuletzt jüngst von Papst Franziskus wieder befeuert wurde („Diese Wirtschaft tötet.“). Meines Erachtens hätte die Darstellung dieser Begründungsaporien und Kontroversen zwischen Privateigentum und Seelenheil dem Leser die christliche Soziallehre durchaus nähergebracht.

Höchst informativ hingegen ist das Kapitel über die „Arbeitstheorie“, die John Locke und den Libertarismus umfasst. Die Autoren zeigen, dass Lockes Theorie, das Privateigentum auf die Arbeit zu gründen, durchaus komplexer und voraussetzungsreicher ist, als sie üblicherweise verstanden wird. Überzeugend jedenfalls ist die Deutung, dass Locke sowohl die Arbeit als auch den Genuss ihrer Früchte als eine ethisch-religiöse Veranstaltung verstanden hatte, um das Gute und Gerechte in der Welt zu mehren. Sie macht damit nicht nur die ethischen Regeln deutlich, denen der Eigentumserwerb bei Locke unterliegt, sondern auch den kulturellen Hintergrund seiner Eigentumstheorie, der es den „heidnischen Wilden“ schlicht absprach, überhaupt Eigentümer ihres Grund und Bodens sein zu können. Diese ethischen Gemeinwohlziele und -schranken sind jedoch bei den heute wieder populär gewordenen Libertaristen gefallen. Für sie bedeutet Eigentum das Recht, alles zu tun, was die Rechte anderer nicht verletzt. Eingriffe des Staates zugunsten des Gemeinwohls etwa durch Steuern sind daher schlicht Diebstahl. Mit Recht konstatieren die Autoren, dass die gegenwärtige Eigentumstheorie solch reflexionslosen Behauptungen nur „mit großer Skepsis“ (68) begegnet.

Ähnliche Vorbehalte durchzieht auch die Darstellung der utilitaristischen Theorien, die gleichfalls simpel, aber wirkungsvoll das Recht aufs Privateigentum mit dem „Wohlstand“ verbinden. Sie greifen dabei auf Aristoteles’ umstrittenes Argument zurück, dass eine Ordnung des Privateigentums effektiver als eine des Gemeineigentums sei. Und da nach Jeremy Bentham Maß und Ziel alles menschlichen Strebens der Nutzen oder die Wohlstandsmehrung sei, sei das Recht auf Privateigentum das beste Mittel, diesen Wohlstand zu befördern. Diesem Kurzschluss halten die Autoren die Einsichten der „Neuen Institutionenökonomik“ entgegen, die hinsichtlich der unterschiedlichen Güter durchaus differenzierter argumentiert und die Effizienz von privaten, gemeinschaftlichen und öffentlichen Eigentumsformen untersucht und diskutiert.

Originell und zugleich gründlich ist die Darstellung der Theorie von Hegel unter dem Titel „Eigentum als Widerspruch“. Sie zeigt, wie sehr für Hegel die Eigentumsfrage in seine Gesamtphilosophie eingebettet ist, in der das Vernünftige wirklich, das Wirkliche aber – letztlich – auch vernünftig ist. Ausgangspunkt seiner Eigentumstheorie ist die „Idee der Freiheit“. Freiheit, das Prinzip des Geistigen, aber ist für ihn nicht nur ein Inneres, sondern hat notwendig auch eine äußere Sphäre ihres Daseins. Eigentum ist insofern die Verfügungsmacht der (freien) Person über Äußeres. Doch diese „Person“ ist für Hegel nichts Fertiges, sondern schreitet durch ihre inneren Widersprüche vom abstrakten Ich zum konkreteren Wir fort. In diesem Sinne beginnt Hegel mit der einfachen und abstrakten Form des Rechts als Privateigentum, als des exklusiven Rechts des Individuums, von seiner Sache einen freien Gebrauch zu machen. Jedoch weist der innere Gegensatz dieses Rechts von privater Inklusion und sozialer Exklusion über diese Eigentumsform hinaus. Im Familieneigentum als höherer Form des Sittlichen sieht Hegel diesen Gegensatz aufgehoben: an die Stelle des abstrakten Individuums tritt das Kollektiv der Familie als Rechtsperson und Eigentümer. Doch auch diese partikulare Form löst sich schließlich auf in der höheren Form eines gesellschaftlichen Eigentums. Für Hegel ist also letztlich die ‚bürgerliche Gesellschaft’ erst die wahrhaft freie Rechtsperson, die, gleichsam als ‚Obereigentümer’, durch die staatliche Gesetzgebung sowohl den Inhalt als auch die Grenzen des privaten Eigentums und des Erbrechts – möglichst widerspruchfrei – regelt.

Diese logisch-systematische Entwicklung des Eigentums als „Idee der Freiheit“ verbindet Hegel zugleich mit der historischen Genese, nach der zunächst Einer, der Despot, freier Eigentümer war, dann Einige, die Adligen, frei waren und schließlich wir alle, als Bürger, frei geworden sind. Die Freiheit der Person, so Hegel, habe vor anderthalbtausend Jahren „durch das Christentum zu erblühen angefangen … Die Freiheit des Eigentums aber ist seit gestern … Ein Beispiel aus der Weltgeschichte über die Länge der Zeit, die der Geist braucht, um in seinem Selbstbewusstsein fortzuschreiten – gegen die Ungeduld des Meinens“ (129).

Bekanntermaßen hat sich auch Karl Marx gegen jene „Ungeduld des Meinens“ gewandt, die als „utopische Sozialisten“ das bestehende Privateigentum kritisierten, um die „wahre“ oder „menschliche“ Eigentumsordnung zu ersinnen. Doch von diesem Vorbehalt ist in der Darstellung von Marx’ „Kritik des Eigentums“ nichts zu spüren. Er wird recht umstandslos eingereiht in eine ethisch motivierte Kritik des Privateigentums, die zugleich Konzepte eines „wahren Sozialismus“ entwarf. Und in der Tat gibt der junge Marx mit seiner Kritik der Entfremdung und Ausbeutung genügend Stoff für eine solche Lesart. Doch für den Verfasser des „Kapitals“ trifft sie nicht mehr zu. Man sollte es meines Erachtens ernst nehmen, wenn Marx dort die „Ausbeutung“ durchaus nicht moralisch bewertet, sondern sie analytisch erklärt. Die zentrale Einsicht für diese Erklärung – um die er lange gerungen hatte – war, dass dem Arbeiter nicht – ungerechter Weise – der Lohn für seine Arbeit vorenthalten wird, sondern dass er – gerechter Weise – für den Wert seiner Arbeitskraft bezahlt wird. Daher gehe auf dem Arbeitsmarkt alles mit rechten Dingen zu: Der Arbeiter erhält den Lohn für die Erhaltung seiner Arbeitskraft – der Kapitalist erwirbt den Gebrauch seiner Arbeitskraft. Dass der Wert, den ihr tatsächlicher Gebrauch dann schafft, größer ist als ihr eigener Wert, „ist ein besondres Glück für ihren Käufer, aber durchaus kein Unrecht gegen den Verkäufer“ (208) … die Gesetze des Warentauschs (sind) in keiner Weise verletzt. Äquivalent wurde gegen Äquivalent ausgetauscht“ (209).

Die Aneignung der Mehrarbeit oder des Mehrwerts durch den Kapitalisten ist für Marx also „durchaus kein Unrecht“. Ja, er begreift diese kapitalistische Eigentumsform geschichtlich als progressives Element zur Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivkräfte, die jedoch ihre immanenten Gegensätze und Widersprüche hervorbringt, die erst im Rahmen einer geschichtlich ‚höheren Gesellschaftsformation’ gelöst werden können. Wie sich eine solche Gesellschaftsformation freilich in concreto organisieren wird, das könne nicht, so betonte Marx immer wieder, sein eigenes (theoretisches) Werk, sondern müsse das (praktische) Werk der Arbeiterklasse selbst sein, das er bestenfalls, zeit seines Lebens, beratend begleiten könne.

Wenn die Autoren daher die Auffassung vertreten, Marx’ „emanzipatorische Bedeutung des Eigentums“ bestehe darin, dass der Mehrweit „zu Unrecht angeeignet (wird), weil er das Eigentum des Arbeiters ist, der ihn produziert“ (154), dann wird der historische Materialist Marx flugs in einen naturrechtlichen Lockeaner, vielleicht auch Smithianer, umgedeutet. Die geschichtsphilosophische Pointe seiner Eigentums- und Kapitaltheorie wird damit jedoch verfehlt.

Überraschend, aber durchaus nachvollziehbar ist im Folgenden die Einordnung der Theorien von Hobbes, Kant und Rawls unter dem Begriff der „Demokratisierung des Eigentums“, da doch der Hobbes’sche „Leviathan“ auf den ersten Blick nichts mit Demokratie zu tun hat. Doch die Autoren arbeiten heraus, dass für Hobbes das Recht auf privates Eigentum kein natürliches Recht ist, sondern dass es auf einem ursprünglichen Gesellschaftsvertrag gründet, in dem die Menschen ihr natürliches, aber bedrohtes Recht auf alles zugunsten des Schutzes ihres privaten Eigentums durch den starken Staat aufgeben. Es ist damit zwar der Staat, der souverän über „Gestalt, Grenzen und Schranken der Eigentumsrechte“ (180) bestimmt, aber er muss zugleich den Schutz dieser Rechte garantieren. Die Autoren nennen Hobbes einen „Wegbereiter der Demokratie wider Willen“ (182), weil für ihn jeder Bürger das Recht auf Eigentum und dessen Schutz hat. Ähnlich argumentiert Immanuel Kant insofern, als für ihn das Recht auf „das Meine“ zwar der reinen Vernunft entspringt, dass aber seine Geltung auf dem „vereinigten Willen des Volkes“ (195) gegründet ist. Denn weil „das Meine“ zugleich den Zugang anderer ausschließt, kann diese Ausschließung nur gerechtfertigt sein, wenn ihr alle zustimmen. Dies aber bedeutet, so die Autoren, dass für Kant das Recht auf privates Eigentum seine Legitimität nur dann besitzt, wenn alle – im Unterschied zu Hobbes – demokratisch an der Gesetzgebung teilhaben können. So gesehen macht Kant also die Legitimität der Eigentumsrechte von der demokratischen Verfassung des Staates abhängig. Über diese Argumentation hinaus geht John Rawls, der diesen vertragschließenden und gesetzgebenden Willen seinerseits an Prinzipien der Gerechtigkeit bindet. Für ihn ist eine Eigentumsordnung nur dann gerechtfertigt, wenn sie diese Prinzipien nicht verletzt bzw. ihnen entspricht. Dies gilt nach Rawls zum einen für eine privatwirtschaftliche Eigentumsordnung, insofern sie mit einer effektiven staatlichen Sozialgesetzgebung verbunden ist, und zum anderen für eine gemeinwirtschaftliche Eigentumsordnung, die zugleich mit demokratischer Mitbestimmung verbunden ist. Rawls, entgegnen die Autoren, mache so den Eindruck, als wären in gerechtigkeitstheoretischer Hinsicht eine ‚soziale Marktwirtschaft’ und ein ‚demokratischer Sozialismus’ „gleichwertig“ (211). Argumentiere man jedoch „werttheoretisch“, wonach das Eigentum durch die eigene Leistung gerechtfertigt ist, müsse hinsichtlich der gesellschaftlichen Produktion das Gemeineigentum den Vorrang vor dem Privateigentum haben. „Rawls’ Einsicht, dass es keine politische Demokratie ohne Demokratisierung der Wirtschaft gibt“ (212), weise über sich hinaus: „Die Demokratisierung des Eigentums findet seine Fortsetzung im demokratischen Sozialismus, in dem das Wirtschaftseigentum in Gestalt von Gemeineigentum demokratisiert wird“ (ebd.).

In diesem Kapitel zeichnen die Autoren so ein historisch-systematisches Bild von der „Demokratisierung des Eigentums“, das mit Hobbes’ Modell der Garantie des Privateigentums durch den absolutistischen Staat beginnt, das mit Kants republikanischem Modell einer allgemeinen Zustimmung der Eigentumsrechte und mit den Rawls’schen Modellen der beiden sozialen Eigentumsordnungen weitergeführt wird, um schließlich im Modell eines demokratisch organisierten gemeinschaftlichen Eigentums zu münden.

Abschließend werden als „Ausblicke“ noch die weiterreichenden Fragen erörtert, wem die Daten gehören, wem die Stadt und wem die Natur gehört. Dabei machen die Autoren keinen Hehl, dass für sie letztlich Formen des kollektiven Eigentums die angemessenen Rechtsverhältnisse sind, unter denen die Probleme der Digitalisierung, des städtischen Lebens und des Naturschutzes als lösbar erscheinen.

Trotz der formulierten Einwände gibt das Buch durch seine klare Strukturierung einen ausgezeichneten Überblick über die historisch unterschiedlichen Begründungen des Eigentums in ihrer jeweiligen Zeit sowie eine gehaltvolle Einführung in die auch heute relevanten Theoriegebäude über das, was jeweils als Eigentum verstanden wird, und wie es begründet und gerechtfertigt werden kann. Es ist ihm zu wünschen, dass es dazu beiträgt, das Pro und Contra in den gegenwärtigen Debatte ums Eigentum begründeter und argumentativer führen zu können.

Horn – Klima. Eine Wahrnehmungsgeschichte

Eva Horn

Klima. Eine Wahrnehmungsgeschichte

geb., 608 Seiten, 8 Farb- und 23 S/W-Abbildungen, 34,- €

Frankfurt/Main 2024 (Fischer-Verlag)

von Olaf Sanders

Eva Horn beginnt ihre Wahrnehmungsgeschichte mit einer kleinen Erzählung von einem Besuch im PS1, einem Museum für zeitgenössische Kunst im New Yorker Stadtteil Queens, das seit der Jahrtausendwende zum Museum of Modern Art gehört. Schaut man sich das Museum auf Google Maps an, so sieht man das geöffnete Dach, das den Himmel freigibt in James Turrells Installation Meeting von 1986, die im Bildteil von Horns Buch auch abgebildet ist. Als Horn den Raum betritt, sitzt niemand auf den Bänken des „sehr hellen und überraschend kalten Raum[es]“ (9). Horn vermutet, dass die Heizung ausgefallen sei, bis ein Vogel durch das Bild fliegt und ihr auffällt, dass das Bild der blaue Himmel über ihr ist. Wie bei vielen Installation Turrells entpuppt sich das Bild als diffuser Raum. Turrell führt einen gleichsam zwischen die Dimensionen – und dieses Anliegen scheint Horn mit ihm zu teilen, indem sie eine verlorengegangene Dimension wieder hinzuzufügen versucht: „Dieses Buch ist der Versuch, das Klima aus genau jener sinnlichen, kulturellen und historischen Perspektive in den Blick zu nehmen, die dem naturwissenschaftlichen Zugang fehlt“ (16).

Es geht ihr also um die Wiederergänzung dessen, was der auf Messdaten und Evidenz basierenden Klimaforschung fehlt und durch deren Dominanz im Klimadiskurs marginalisiert wurde bzw. aus ihm weitgehend verschwunden ist. Dieses Bild möchte Horn durch eine „Aisthesis des Klimas“ (21) vervollständigen, die „auf ästhetische Darstellungen angewiesen“ ist. Obwohl sie gleich im Anschluss einen Ausspruch des englischen Malers William Turner zitiert, spielen jedoch bildende Kunst, Film, Architektur oder Musik im Vergleich zur Literatur eine deutlich geringere Rolle.

Im ersten Kapitel fragt Horn, was Klima gewesen ist, bevor es das „durchschnittliche Wetter“ wurde. Sie kehrt dafür zu Hippokrates zurück, für den Heilung mit dem Verständnis des Einflusses des Orts auf die ins Gleichgewicht zu bringenden Körpersäfte verbunden gewesen sei, und zu Vitruv, der die medizinische Perspektive mit der geographischen verbunden habe, die sich noch in den „Klimazonen“ ausdrückt. Die Luft erweist sich als planetares Medium. Von der meteorologischen Medizin legt, wie Horn eingangs des zweiten Kapitels zeigt, noch Flauberts Roman Madame Bovery Zeugnis ab. Die Konstanz der klimatischen Verhältnisse werde durch Winde dynamisiert, die „invasiv, gewalttätig, reinigend und zerstörerisch“ (69) sein können und „kulturhistorisch also einen zweischneidigen Ruf“ (71) haben. Winde transportieren Miasmen, „schädliche Ausdünstungen des Bodens oder stehender Gewässer, Produkte von Fäulnisprozessen oder stark riechende Substanzen, Exhalationen von Menschen und Tieren“ (74) , die lange als „‚Befleckung‘ der Luft“ (75) und Verursacher von Epidemien galten. Noch in Manns Novelle Der Tod in Venedig geht Gustav von Aschenbach als „Meteopath“ (75) zugrunde, obwohl Robert Koch den Cholera-Erreger längst als aquatisches Bakterium identifiziert hatte. Dessen ungeachtet zeigt die Covid-19-Pandemie, dass „Luftkrankheiten“ nie ganz verschwunden waren. Im dritten Kapitel rekonstruiert Horn die Genese einer thermischen Anthropologie, die zur Stereotypenbildung bis zum Rassismus in Kultur- und Kolonialgeschichte beigetragen haben.

Im vierten Kapitel wendet sie sich Herder zu, der den Menschen in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit als „‚Zögling‘ des Klimas beeinflusst, aber nicht determiniert“ (163) sah und die „Sklaverei als klimatisches Verbrechen“ (172) bestimmt hatte. Flankiert wird dessen Auffassung durch Alexander von Humboldt, für den, wie er in Kosmos ausführt, „die Einheit des Menschengeschlechts“ (164) in ihrer ganzen Diversität „jeder unerfreulichen Annahme von höheren und niederen Menschenracen [widerstrebt]“ (ebd.). Horn zeigt sich als große Kennerin der Kolonialliteratur, wobei sie vor allem Louis Couperus’ Roman Die stille Kraft, der auf deutsch kaum noch zugänglich ist, einer ausführlichen Analyse unterzieht. In seinem Roman wirkt das „koloniale Klima“ als „anti-kolonialer Widerstand ohne Subjekt“ (191), der die Akklimatisierung der Niederländer in Indonesien verunmöglicht. Als theoretische Zeugen für die Wirkung des Animismus’ ruft Horn vor allem Davi Kopenawa und Eduardo Viveiros de Castro auf. Aus systematischer Hinsicht wäre hier als Anschluss an das Projekt von Herder und Humboldt – auch im Hinblick deren Aktualisierung, die Horn mitbetreibt – ein Bezug auf die großen Bücher von Philippe Descola Jenseits von Kultur und Natur und Die Formen des Sichtbaren wünschenswert gewesen.

Das umfangreichste fünfte Kapitel trägt den Titel „Himmel – Erde – Luft: Die Atmosphäre“ und untergliedert sich in drei Unterkapitel, die bereits behandelte Themen vertiefen. Horn beginnt mit der kontrastierenden Analyse zweier Luftreisen anhand des Gedichts des indischen Dichters Kalidasa Wolkenbote und Jules Vernes Abenteuerroman Fünf Wochen im Ballon. Während das Gedicht „den Himmel mit der Erde, Götter und Göttinnen mit den Menschen, das Wetter mit dem Leben, Liebende und Geliebte“ (213) verbinde, „erscheint die Meteorologie im Roman als ein regelhaftes Feld des Wissens, das man überschauen und beherrschen kann wie die erstaunlich unfallfreie Mechanik des Ballons“ (216). Später (284) bezeichnet sie das Feld auch als „navigierbaren Raum“, den Lev Manovich, der hier nicht als Referenz dient, als symbolische Form auffasst. Auf der Suche nach einer „Lehre vom Schwebenden“ kehrt Horn erst mal zu Aristoteles und Virgil zurück, um die Atmosphäre „als erdgebundene Dampf- oder Gashülle“ (225) zu fassen, in der wir dann Torricelli zufolge „eingetaucht auf dem Grund eines Meeres von elementarer Luft“ leben. „‚Wie die Fische im Wasser“, so der Physiker Otto von Guericke, „leben und bewegen sich die Landwesen in diesem Luftmeer“ (ebd.). Die Metaphorik der Physiker situiert den Menschen „im Inneren eines Mediums, das ihn umfängt“ (229). Als dazu passende „Medientheorie“ führt Horn Barthold Heinrich Brockes Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott ins Feld, die sie ein weiteres Mal zu Herder und Humboldt zurückführt, diesmal im Hinblick auf die Unterscheidung von Mikro und Makro. Während Herder doch eher auf die „Local-Bestimmung“ (238) oder „das Singuläre“ (247) mit dem Menschen als Mittler(em) setzt, führt Humboldts globale Datensammelpraxis zu einer ersten Isothermen-Weltkarte (242), die als wichtige Vorarbeit zur Abstraktion des durchschnittlichen Wetters gelten kann. Später verteidigt Horn Herder auch noch gegen Kants Kritik unzureichender Systematizität und stellt ihn ins Gefolge Spinozas (425 f.).

Die „Mathematisierung der Meteorologie“ (261), so Horn, verunmöglicht zusehends ein Denken von Wolken als Übergänglichem, wie Goethe es noch zu denken versucht und es auch in der Opazität des Dampfes auf Turners Schneesturm-Gemälde (auch im Farbbildteil abgebildet) oder Adalbert Stifters Schneesturm-Beschreibung in Aus dem bairischen Walde zur Darstellung kommt. Turners Freund John Ruskin erkennt im Rauch dreißig Jahre nach Turners Gemälde nur noch ein industrielles Abfallprodukt, das als „Medium nun verdorben, ästhetisch zweideutig und atmosphärisch vergiftet“ (275) erscheint. In dieser Zweideutigkeit verschränken sich Innen- und Außenwelt. Wie dies geschehen kann, illustriert Horn am Beispiel von Zolas Roman Ein Blatt der Liebe. Der Verlauf der unmöglichen Liebe korrespondiert den Jahreszeiten, die Luft bringt den Tod wie bei Mann. Schließlich normalisiert sich das Wetter, während die Welt aus den Fugen gerät, wie Horn am berühmten Anfang von Musils Der Mann ohne Eigenschaften erläutert, der, wie sie zeigt, meteorologisch vollkommen sinnlos ist und so umso trefflicher auf die Sinnlosigkeit des Ersten Weltkriegs vorausweist, nach dem „die planetarische Perspektive“ nicht mehr abgewiesen werden kann.

„Herders und Humboldts Idee vom Klima als Systemzusammenhang wird nun mathematisch modelliert“ (293). Die Erdsystemforschung etabliert sich; und John Lovelock und Lynn Margulis entwickeln die Gaia-Theorie. Die kleine Tour de Force durch das noch vergleichsweise junge Genre der Climate Fiction, kurz: Cli-Fi, die den Menschen das abstrakte Klima-Geschehen wieder sinnlich erfahrbar machen soll, endet bei Philipp Weiss’ fünfbändigem Welt-Roman Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen, dessen Besonderheit darin besteht, das Weiss mit diesem Roman auch ein literarisches Form-Experiment wagt und das „Modell von stabilisierender Selbstregulation“ auflöst, weshalb am Ende wenig zu lachen bleibt.

Mit dem sechsten Kapitel setzt Horn in der Reflexion des Zusammenhangs von Zeit und Klima neu an. Sie beschreibt zunächst, wie die Jahreszeiten ihre ordnende Rolle verloren haben, die sie von der Antike bis zur Aufklärung innegehabt hatten. Hier hätte sich als Vergleich zu Poussins Jahreszeiten-Zyklus (ebenfalls im Bildteil) auch Philipp Otto Runges Die Zeiten angeboten; aber die Romantik spielt in Horns Buch insgesamt eine eher geringe Rolle. Die Zeit reicht, wie sie sehr plausibel schildert, als Tiefenzeit weiter zurück als der Mensch. In ihr treten Menschen- und Naturzeit auseinander. Mit Brechts Gedicht Über das Frühjahr läutet Horn dann die Epoche des Menschen ein, in der die Menschenzeit vorherrschend wird: das Anthropozän, das uns an unsere „Verantwortung für eine tiefe Zukunft“ (396) erinnert. Zu Beginn des siebten Kapitels stellt Horn fest, dass es angesichts des menschengemachten Klimawandels selbstverständlich sei, dass das Klima Gegenstand von Politik wird. Im Anschluss an Latour, der dafür plädiert, „die unausweichliche Verbundenheit des Sozialen mit dem Terrestischen wieder zum Gegenstand von Politik zu machen“ (407), schlägt sie vor: „Statt ‚Erdverbundenheit‘ könnte man also auch ‚Luftverbundenheit‘ sagen“ (407). Diesen Konjunktiv gibt sie jedoch nach und nach auf. Vorher zeigt sie noch nach ausführlicher Analyse von Stifters Brigitta und Wilhelm Raabes Pfisters Mühle wie sich das „Klima als schlechthin Gemeinsames“ (452) – oder mit Canetti, den sie zweimal anführt, die Luft als „letzte[r] Allmende“ (u.a. 506) – sozusagen in Luft aufgelöst habe. Im achten Kapitel rekapituliert Horn erst die Strategien der Klimawandelleugnung und schlägt dann nach einer längeren Auseinandersetzung mit Kim Stanley Robinsons Das Ministerium für die Zukunft vor, auf politische Verhandlungen und leichte Militanz zu setzen, wie es im Kampf der Erdverbundenen vor allem auch Ende Gelände praktiziert und Andreas Malm auch schon in Wie man eine Pipeline in die Luft jagt vorgeschlagen hat. Im letzten Kapitel votiert sie abschließend für Luftverbundenheit als zeitgemäße Form des „Involviert-Sein[s]“ (506): „Luftverbunden zu sein, bedeutet, in einer Welt zu sein in der alles fließt, aber nichts verlorengeht, in der alle einen Atem teilen, gemeinsam wirbelnd in der Strömung des Luftmeeres.“

Horns vorgenommene Ersetzung von Latours Erdverbundenheit durch Luftverbundenheit halte ich für falsch. Meines Erachtens führt Erd- und Luftverbundenheit weiter, und – gemäß des guten alten Und-und-und von Deleuze/Guattari – wie es im „Luftmeer“ auch schon anklingt, Meer- oder Wasserverbundenheit. Diese drei Verbundenheiten bilden einen borromäischen Knoten, dessen zweiten Strang Horn materialreich in Erinnerung ruft und für die Zukunft fassbar macht.

Hier lässt sich weiterdenken. Zwar zitiert sie Gernot Böhmes Plädoyer Für eine ökologische Naturästhetik aus dem Jahr 1989, aber es wird so wenig aktualisiert wie Herders Ideen. So bleibt Horn die angekündigte die Klimaforschung ergänzende Ästhetik bzw. eine umfassendere Aisthetik des Klimas, zu der sie fraglos sehr umfassende und bedeutende Studien vorgelegt hat und mit dem vorliegenden Buch historisch informiert die Richtung weist, noch schuldig.