Heft 16/17: Ich – Subjekt – Individuum

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9. Jahrgang, 1989, 212 Seiten, broschiert

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Das Ich ist ins Gerede gekommen; die Fronten haben sich verkehrt. Während es im Westen unter großer Anteilnahme zu Grabe getragen wird, feiert es in hoffnungsvoller Erwartung im Osten seine Auferstehung. So bietet das Bild sich dar.

Französische Philosophen dekomponieren unter fachgerechter Anleitung der Kultursoziologie eben das Zentrum der Identität, das in ihrer cartesischen Tradition des „cogito – ergo sum“ mit dem Ich identifiziert worden war. Und die nordamerikanische Philosophie läßt solch emphatisch gemeintes Ich, wechselweise, mal in den neuro-psychologischen Computernetzen, mal im rhythmischen Singsang „don’t worry, be happy“ verschwinden. Währenddessen besinnen sowjetische Philosophen sich des subjektiven Faktors. Aus den objektiven Verhältnissen der Produktion soll strahlend das Individuum hervorgehen: nicht die Klassen, sondern die Menschen machen Geschichte! Voll Ungeduld harrt die sowjetische Gesellschaft des Zeitpunkts, da der Blitz der Individualität in die Massen einschlägt.

Und die Bundesrepublik? Wo die Klänge dieser okzidentalen Sirenen und Orientalen Fanfaren nicht bereitwillig vernommen werden, paaren sich die gesellschafts- und kulturkritischen Rettungsversuche der Einmaligkeit des Ich vor dem nivellierenden Sog ihrer kapitalistischen Vermarktung mit der drängenden Suche nach neuen Formen von Individualität, die durch das Purgatorium der Vereinzelung hindurch sich zu neuen solidarischen Lebensformen erheben möge.

Die Beiträge dieser Nummer kreisen um diese „Ich-Probleme“: gibt es überhaupt noch einen Ort, an dem heute eine mit sich identische Individualität erfahren werden kann? Läßt sich die Rede von einem autonomen und autopoietischen Ich gegen die Einwände noch verteidigen? In welchem Verhältnis zur Gesellschaft muß das Individuum konkret gesehen werden, und welche Schlußfolgerungen ergeben sich daraus für einen angemessenen Begriff vom Ich?

Den Anfang bildet ein Gespräch der Sozialpsychologinnen Gabriele Geiger und Heiner Keupp mit dem Philosophen Rolf-Peter Horstmann sowie Mitgliedern der Redaktion über die Funktionen, die die Begriffe „Ich“ und „Selbstbewußtsein“, „Identität“ und „Autonomie“ in diesen Wissenschaften, auch unter feministischen Gesichtspunkten, haben.

Katja Riefler unternimmt in ihrem Beitrag „Individuum zwischen Kollektivität und individueller Freiheit“ einen „Annäherungsversuch an die Problematik“, wie sie philosophiegeschichtlich bis heute entwickelt wurde.

Daß entgegen der Vermutung einer Preisgabe des Individuums zugunsten der ’Strukturen’ in der Geschichtswissenschaft ein neues Interesse am Einzelnen sich zu regen beginnt, darauf weist Ralph Marks in seinem Artikel „Individuum est ineffabile. Die Rückkehr des Subjekts in die Geschichte“ hin.

Ulrich Druwe versucht in seinem Beitrag „Über den Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft“, die liberalistische Rede von einem ungesellschaftlichen Individuum als inkonsistent nachzuweisen. Ignaz Knips’ Artikel „Symbolische Formen und Akteure“ geht anhand der Diskurstheorien von P. Bourdieu und J. Habermas den Problemen der Selbstbezüglichkeit nach, die bei Anwendung dieser Theorien auf ihre Autoren entstehen.

Ausgehend von musiktheoretischen Überlegungen Th. Adornos schreibt Roger Behrens zu „Individualismus: die Krise romantischer Musik“. Georg Koch und Manuela Günter skizzieren in ihrem Beitrag zum 100. Geburtstag von Siegfried Kracauer die „Physiognomie eines Exterritorialen“.

Den 70. Geburtstag von L. Althusser nimmt Hans Mittermüller zum Anlaß, an dessen für die Subjekt-Debatte folgenreiches Strukturalismus-Konzept zu erinnern.

„Schopenhauer und die Schwulen“ ist das Sonderthema der Nummer. Udo Schücklenk stellt dessen Position zu den Fragen des Ge-schlechterverhältnisses und der Homosexualität dar.

Wie immer enthält das Heft einen ausführlichen Rezensionsteil über neuerschienene Bücher, insbesondere zum Thema. Ihm schließen sich ein Bericht über den Streik der Philosophiestudentinnen in München von Daniel Schreiber und über den Anti-IWF-Kongreß von Manuela Günter an.

Die angekündigte Diskussion über das Thema von Widerspruch Nr.l5 „Neues Denken“ bildet den Abschluß. Elmar Treptow stellt in seinem Beitrag „Das ’neue Denken’ Gorbatschows – Die Lösung und Vertiefung der globalen Probleme“ seine Kritik an dieser Konzeption dar. Ihm folgen Leserbriefe zu einem Thema, das wir auch mit diesen Beiträgen noch nicht als abgeschlossen betrachten.

Das vorliegende Heft erscheint als Doppelnummer. Die Ergiebigkeit des Themas hat uns veranlaßt, den Umfang des Heftes weit über das normale Maß zu vergrößern. Der Preis dieser Doppelnummer beträgt 8.- DM. Wir hoffen auf das Verständnis unserer Leser für diese Maßnahme.

Die Redaktion